II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 40

1882 Februar 1

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Schuldirektor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Bericht über die Unterredung mit Albert Schäffle und die liberale Initiative zur Haftpflichtrevision]

[...] Mich wundert bloß, daß Du mich noch nicht um einen Brief getreten hast, da Du doch gewiß die Nachricht von dem sozialpolitischen Diner bei Bismarck3 nicht übersehen haben wirst. Ich wollte Dir auch gleich nachher schreiben, kam aber über Bundesrats- und Reichstagssitzungen nicht dazu. Daß Schäffle hier einen monströsen Gesetzentwurf eingeschickt hatte4, schrieb ich Dir ja wohl. Demnach hatte ich von seinem Werte als praktischer Ratgeber auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung keine hohe Meinung. Bismarck aber hatte ihn offenbar hierher zitiert, um für seine neueste Auffassung Succus zu gewinnen; er hatte niemanden vom Reichsamt des Innern ─ auch von Boetticher nicht ─ etwas davon gesagt, und ob er bereits mit Schäffle geredet habe, wußten wir noch nicht, als wir zu dem Diner eingeladen wurden. Da ging dann nun nach Tische die Schwätzerei los, und ich bemerkte bald, daß Schäffle und Wagner meinen letzten Entwurf in Händen gehabt hatten, aber nur kurze Zeit; und unter solchen Umständen konnte es zu einer fruchtbaren Verhandlung nicht kommen. Da Bismarck sowohl wie Schäffle die praktische Durchführbarkeit des Systems der Zwangsgenossenschaft als unzweifelhaft voraussetzten, so drehte sich die Unterhaltung eigentlich nur um Nebenpunkte, die freilich in ihrer Art auch noch wichtig genug sind. Dabei konnte ich dann bemerken, daß Schäffle doch vernünftiger war, als man nach seinem Entwurf anzunehmen geneigt sein konnte. Der letztere war für ihn offenbar nur ein Mittel, um sich das ganze Gebiet mit der Bestimmtheit vorzuführen, wie es nur durch formulierte Bestimmungen möglich ist; er denkt nicht daran, diese ganze Organisation, wie sie in seinem Entwurf skizziert war, auf einmal ins Leben zu führen, würde vielmehr am liebsten mit der Organisation der Krankenkassen beginnen und dann

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allmählich weiter vorgehen.5 Den Staatszuschuß läßt er sich auch nur gefallen, weil es Bismarck nicht anders will und ohne diesen ─ wie Schäffle wohl denken mag ─ die Sache überhaupt nicht geht. Dagegen freute ich mich, daß er in einem Punkte doch ziemlich hartnäckig Bismarck das Widerspiel hielt, den ich auch immer bekämpft habe. Bismarck denkt nämlich die ganze Versicherung so zu regeln, daß die zu einer Genossenschaft gehörenden Betriebe jährlich immer postnumerando soviel aufbringen, wie sie in dem abgelaufenen Jahre an Entschädigungsberechtigte haben leisten müssen, also weder Deckungskapitalien noch Reservefonds zu sammeln. Früher hat Schäffle ähnliche Ideen vertreten, während ich vorigen Sommer in der Reichstagskommission mit der größten Entschiedenheit dieses System, das sogenannte Knappschaftssystem bekämpft und den Erfolg gehabt habe, daß schließlich niemand mehr dasselbe vertrat.6 Und nun fängt Bismarck damit an, der entweder von jenen Verhandlungen nichts weiß oder nicht verstanden hat, worum es sich handelt. Es war mir daher sehr lieb, daß Schäffle auf diesem Punkt ganz vernünftig war. Ich habe mit ihm nachher noch privatim längere Zeit gesprochen und den Eindruck bekommen, daß wir uns, wenn es an die praktische Gestaltung der einzelnen Aufgaben ginge, wohl verständigen würden. Dagegen habe ich von dem politischen Urteil Adolph Wagners eine ziemlich geringe Meinung bekommen.

Schäffle ist hier, glaube ich, sehr unbefriedigt abgereist; denn nachdem ihn Bismarck hier nahezu 14 Tage hingehalten, ist aus der von ihm auf dem Diner angekündigten geschäftsmäßigen Konferenz nichts geworden, und nach einem Diner bei von Boetticher hat Schäffle sein Tusculum wieder aufgesucht, wie ich höre vom Fürsten mit dem Bescheide entlassen, er behalte sich vor, ihn demnächst um Fortsetzung der Besprechungen zu bitten. Jetzt sei ihm dieselbe bei seinem Gesundheitszustande und den sonstigen Geschäften nicht möglich. Ich glaube nicht, daß er ihn wieder ruft.7

Was er aber sonst machen wird, davon hat niemand eine Vorstellung, ob er selbst? steht dahin. Etwa 7 Wochen hat er meinen letzten Entwurf im Hause, und noch hat er nichts verlauten lassen, was nun weiter werden soll, obwohl bei dem Nachtischgespräch zutage kam, daß er mit diesem und jenem nicht einverstanden war.8 Daß noch in einer Frühjahrssession des Reichstags etwas vorgelegt werden kann, halte ich für unmöglich, und nach dem langen Schweigen des Fürsten kommt es mir fast so vor, als ob er auch nicht mehr recht wisse, was er tun solle. Jedenfalls kommt nichts zustande, während wir bei weniger Eigensinn und namentlich bei weniger Tendenzpolitik allerlei zustande bringen könnten; auch auf dem Gebiete der Unfallversicherung, das zeigt der Entwurf der Liberalen mit der Akzeptierung [ Druckseite 160 ] des Versicherungszwanges und der limitierten Entschädigungen.9 Wäre es Bismarck wirklich um die Sache und nicht um seine weitreichenden politischen Ziele zu tun, so hätte er die Leute sofort beim Worte nehmen und ihnen sagen müssen, er werde ihnen ihren eigenen Entwurf mit den noch notwendigen Abänderungen und Ergänzungen in der nächsten Session wieder vorlegen und danke für das Entgegenkommen. Stattdessen gab er Weisung, der Entwurf solle vom Bundesratstische aus kritisiert werden, und so war ich denn genötigt, die ─ allerdings starken ─ Blößen des Entwurfs aufzudecken10, hätte darin aber auch viel weiter gehen [ Druckseite 161 ] können, wenn es mir nicht zuwider gewesen wäre. Wie wandelbar aber die Anschauungen sind, und wie wenig dazu gehört, Forderungen, die noch vor kurzem als ganz exorbitant und prinzipiell unberechtigt fast von allen Seiten verworfen sein würden, als etwas ganz Selbstverständliches erscheinen [zu] lassen, sieht man daran, wie leichten Herzens die Liberalen das verhängnisvolle Zugeständnis gemacht haben, daß die Entschädigung der durch Unfall verletzten Arbeiter nicht bloß rechtlich, sondern auch faktisch unbedingt sichergestellt werden müsse. Eine ganz übertriebene Forderung, welche bis jetzt auf keinem Gebiete aufgestellt ist, und die, an einem Punkt zugestanden, zu den bedenklichsten Konsequenzen fuhren muß. Dieses Zugeständnis der Liberalen bildet den Abschluß der Sackgasse, in welche nun glücklich mit der Regierung sämtliche Parteien rücksichtlich der Regelung der Haftpflichtfrage geraten sind. Eine vernünftige Regelung muß meines Erachtens mit dem Zugeständnis beginnen, daß man mit Aufstellung dieser Forderung über das Ziel hinausgegangen sei.

Nun habe ich Dir von politicis genug vorgedröhnt und will deshalb nicht mehr auf die sonstigen cause célèbres kommen, würde doch wenig Spaß machen, all diesen Unsinn, der nur als Symptom unserer unsagbar verfahrenen Zustände eine Bedeutung hat, wieder durchzukauen. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Lasker, Dr. Eduard (1829─1884) Jurist und Politiker, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 139─141 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Familienangelegenheiten. »
  • 3Dieses fand am 6.1.1882 statt; vgl. dazu Albert Schäffle, Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 176 f. Teilnehmer waren neben Bismarck, Lohmann und Schäffle: Graf Lerchenfeld-Koefering, Adolph Wagner, Karl Heinrich von Boetticher, Freiherr v. Heyking und Graf Rantzau; vgl. auch Nr. 38. »
  • 4Vgl. Nr. 18. »
  • 5Vgl. dazu auch den unter Nr. 25 abgedruckten Brief Schäffles an Bismarck vom 3.12. 1881. »
  • 6Vgl. dazu die mit dem Bericht der Reichstagskommission veröffentlichte Erklärung Lohmanns vom 5.5.1881 über die für die Regelung maßgebenden Grundsätze bei der Bildung eines Reservefonds (Sten.Ber.RT, 4. LP, IV. Session 1881, Anlagen, Nr. 159, S. 835─837). »
  • 7In der Tat kam es zu keiner weiteren Begegnung zwischen Bismarck und Schäffle; vgl. zum Auslaufen der Kontakte: Albert Schäffle, Aus meinem Leben..., S. 178 ff. »
  • 8Ausschlaggebend dafür waren, wie Nr. 47 zu entnehmen ist, Befindlichkeitsstörungen Bismarcks. Soweit ersichtlich, erfuhr Lohmann erst durch Bosse bzw. v. Heyking (Nr. 42) am 27.2.1882 etwas über Bismarcks Meinung zu seinem Gesetzentwurf. »
  • 9Vgl. Nr. 37. »
  • 10Theodor Lohmann führte aus (vgl. auch Nr. 37 Anm. 5): Meine Herren, was sehen wir denn jetzt in dem Entwurf der Herren Antragsteller? Zwei ganz wichtige Prinzipien, die, soviel mir bekannt ist, vor dem Entwurf der verbündeten Regierungen überhaupt, wenigstens in der Debatte dieses Hauses, niemals aufgetaucht sind: das eine ist die Ermittlung der Entschädigungen, und das andere ist die Sicherung des Verletzten, daß seine Ansprüche auch wirklich realisiert werden. Im wesentlichen kommt der Inhalt des uns jetzt vorliegenden Gesetzentwurfs lediglich darauf hinaus, daß der letzte Punkt in einer anderen Weise geregelt wird als von den verbündeten Regierungen versucht wurde. Nun, meine Herren, kommt es ja darauf an, ob auf diesem Wege wirklich jenes Bedürfnis befriedigt werden kann, und namentlich, ob der Entwurf alles dasjenige regelt, was notwendig geregelt werden muß, wenn auf diesem Wege das Ziel ereicht werden soll. Ich bin nun der Meinung, daß gerade die schwierigsten Fragen, die zu dem Ende zu lösen sind, von dem Gesetzentwurf überhaupt nicht in Angriff genommen werden, sondern dem zukünftigen Reichsgesetze bzw. den Anstrengungen der verbündeten Regierungen im Bundesrate überlassen werden, und so, meine Herren, würde ich glauben, den Herren Antragstellern denselben Vorwurf zurückgeben zu können, der soeben den verbündeten Regierungen gemacht ist, daß nämlich ein nicht genügend vorbereiteter und nicht genügend durchdachter Gesetzentwurf an das Haus gebracht ist. Der Herr Vorredner (Eduard Lasker) hat allerdings einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf und dem der verbündeten Regierungen darin gefunden, daß der erstere nicht einen unbedingten und direkten Versicherungszwang ausspreche, sondern nur überhaupt die Sicherstellung des verletzten Arbeiters dafür, daß sein Anspruch auf Entschädigung realisiert werden könne, in Aussicht nehme. Wie aber diese Sicherstellung auf andere Weise als durch Versicherung gegeben werden soll, das, meine Herren, suche ich in dem Gesetzentwurf vergeblich. Es ist eben nur gesagt, der Unternehmer soll diese Sicherheit leisten; auf welche Weise er sie leisten soll, zu welchem Betrage er sie leisten und wie er den Nachweis führen soll, daß er diese Sicherheit bestellt habe, das ist wiederum dem Bundesrat und künftigen Reichsgesetzen überlassen. Meine Herren, das sind aber, glaube ich, sehr wichtige Fragen; wenn man diese Aufgabe lösen will, muß man wissen, wie das gemacht werden soll, und die einzelnen Andeutungen, die der Herr Vorredner in dieser Beziehung gegeben hat, scheinen mir dazu nicht ausreichend zu sein. Er hat z. B. davon geredet, es könne eine Kaution gestellt werden. Gewiß, das ist eine einfache Art und Weise, diese Sicherheit zu stellen; aber die Frage, wie hoch diese Kaution zu greifen sei und mit welchen Mitteln sie gestellt werden müsse, die ist nicht so einfach zu beantworten, denn es gibt Unternehmungen, bei denen eine solche Kaution, wenn sie wirklich ausreichen sollte, um die Ansprüche der Arbeiter sicherzustellen, vielleicht ebenso hoch sein müßte wie das ganze Betriebskapital der Anlage; und wie unter solchen Umständen auf den Unternehmungsgeist und die Entwicklung unserer Industrie die Forderung der Bestellung einer solchen Kaution wirken müßte, überlasse ich Ihrer eigenen Erwägung. (Sten.Ber.RT, 5. LP, I. Sess. 1881/82, Bd. 2, S. 728) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 40, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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