II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 30

1881 Dezember 29

Gutachten1 Professor Dr. Adolph Wagners2

Abschrift

[Gutachten zur Erstfassung der zweiten Unfallversicherungsvorlage. Die korporativen Verbände (Genossenschaften) erscheinen vom Apparat her etwas zu groß und schwerfällig, insgesamt aber zustimmende Kritik, Ergänzungsvorschläge und weiterführende Fragen]

I. Allgemeines

Der Entwurf entspricht wohl dem Bestreben, anstelle einer zentralistischen Organisation (in einer Reichsanstalt) korporative Verbände (Genossenschaften) treten zu lassen ganz gut und fuhrt diesen Plan folgerichtig durch.

Wünschenswert erscheinen mir einige Ergänzungen:

1. M. E. wären in den Genossenschaften selbst auch die Arbeiter zu vertreten, was ich für zulässig halte, auch wenn sie keine Beiträge zahlen.

Außerdem könnte in der Genossenschaft ein Vertreter des Staats passend Sitz und mindestens beratende Stimme erhalten, z. B. der Fabrikinspektor.3

Durch solche Ergänzung der Mitglieder der Genossenschaft würde namentlich die Präventivkontrolle gegen Fährlichkeiten des Betriebs gewinnen.

2. Ob zu der Einteilung nach Industriezweigen und Betriebsarten (also wohlgemeint nach Gefahrklassen4) schon genügendes statistisches Material vorliegt, muß [ Druckseite 117 ] dahingestellt bleiben. Obwohl nun für später Änderungen in der Abgrenzung der Genossenschaften sich zutragen können, durch welche man der Differenz der Gefahren mehr Rechnung trägt, können sich hier doch anfangs größere Schwierigkeiten erheben. Um so notwendiger und zweckmäßiger erscheint es daher, die Genossenschaften bzw. deren Abteilungen untereinander wieder von vornherein in einen Verband zu bringen, um drückendere Lasten etwas auszugleichen. Etwa so, daß hinter den Abteilungen einer Genossenschaft diese subsidiäre Verpflichtung der letzteren, hinter derjenigen der Genossenschaft eine analoge des Verbands der Provinz usw. stehe. Überschreiten die Beiträge einer Abteilung oder einer Genossenschaft eine bestimmte Höhe, so hätten die subsidiär Verpflichteten einzutreten.

3. Die Bildung von Reservefonds der Genossenschaften (und Abteilungen) wird nicht besonders in Aussicht genommen, aber steht auch nicht im Widerspruch mit dem System des Gesetzes. Wegen der zeitlichen Schwankungen der Unfälle, daher der Beiträge, können solche Reservefonds (wie bei der Feuerversicherung) doch erwünscht sein. Vielleicht wäre darauf mit im Gesetze hinzuweisen, wenn auch in der Hauptsache sonst der halbjährige Repartitionsmodus bleibt.

4. Auch ließe sich hier schon die Bildung einer Reichsanstalt erwägen, welche als eine Art Rückversicherungsanstalt fungierte, d. h. gegen bestimmte Zahlungen der Genossenschaften an sie die Beiträge, welche letztere zur Deckung zugewiesen bekommen, hergäbe.

Eine solche Anstalt oder wenigstens eine Verbandsanstalt für eine Anzahl Genossenschaften ist namentlich auch erwünscht, um etwa im Bedarfsfalle (verzinsliche und allmählich amortisierbare) Vorschüsse an überlastete Genossenschaften oder Abteilungen zu geben.

Hier enthält der Entwurf m. E. eine Lücke.

5. Er spricht sich auch gar nicht über die Privatunfallversicherungsanstalten aus. Sollen diese bestehen bleiben? Etwa von den Genossenschaften die “Gefahren” übernehmen? Ein Hindernis dagegen liegt im Gesetz nicht. Damit wird ein Haupteinwurf der Gegner beseitigt, aber das spekulative Moment auch nicht gehörig ausgeschieden.

6. Richtiger ist wohl die Errichtung einer Reichsanstalt, am besten als Monopolanstalt mindestens frei neben anderen Versicherungsanstalten, bei der die Genossenschaften Deckung ihres (2/3-)Risikos nehmen können: Alles unbeschadet der wohl zweckmäßigen Bestimmungen über die Beziehungen der Genossenschaften zur Post. Zwischen dieser und den Genossenschaften erscheint ein Glied erwünscht (vielleicht notwendig), das, wie die hier geplante Reichsanstalt, den Genossenschaften selbst wieder die Erfüllung ihrer Verpflichtung erleichtert. Das geschieht durch eine Verbandsorganisation der Genossenschaften, die in einer Reichsanstalt (nötigenfalls in Landesanstalten) gipfelt.

7. Der ganze Genossenschaftsapparat ist etwas groß und schwerfällig. Das liegt aber freilich in diesem System korporativer genossenschaftlicher Organisation.

Ob dann nicht wenigstens letztere gleich mit für andere Zwecke (Invaliden-, Altersversorgung) fungieren könnte? Das Prinzip der “Gefahrenklassen” ließe sich auch hier allenfalls verwenden oder etwas modifiziert für die Unfallversicherung einrichten, [ Druckseite 118 ] um eine allgemeiner brauchbare genossenschaftliche Organisation zu schaffen.

Dann zwingt sich die Erwägung auf, ob nicht zwei Gesetze gleich von vornherein zu planen wären:

Ein allgemeines über korporative Genossenschaften der Industriezweige und Betriebsarten, Groß- und Kleinbetrieb, Unternehmer und Arbeiter umfassend ─ natürlich obligatorisch (“Gewerkschaften”)5;

ein spezielles über die Benutzung dieser Genossenschaften zunächst für den Zweck der Unfallversicherung

II. Spezielles zu einigen einzelnen §§.

§ 1. Nicht auch: landwirtschaftliche Arbeiter? Ein wichtiger Agitationspunkt der Fortschrittspartei!

§ 5. Die Beschränkung auf ein Maximum von 4 M pro Tag als “Arbeitsverdienst” ist unnötig und wohl im Widerspruch mit § 1.

§ 5 u. 6. Erhöhung einiger Sätze wäre zu ventilieren.

§ 10. Vielleicht einige Anhaltspunkte über das Einteilungsprinzip in das Gesetz selbst?

§ 13. Formulierung etwas zu absolut.

§ 15 u. 17. etwas zu verschärfen.

§ 19 ff. Schon hierher: Arbeitervertretung

§ 23. desgleichen. Auch Fabrikinspektor oder eine derartige Person.

§ 33. Ob die “13 Wochen” nicht zu verkürzen sind? Hierher die oben angeregte subsidiäre Verpflichtung der Genossenschaft usw.

§ 35. Bei allgemeiner Organisation des Genossenschaftswesens zu ändern.

§ 65. Müßte wohl der Fall der Betriebseinstellung wegen Insolvenz, Konkurs noch besonders vorgesehen werden.

§ 69. Erster Absatz anders zu formulieren: unbedingte Anzeigepflicht in bezug auf Körperverletzungen.

Dann auch sofort Anzeige an den Fabrikinspektor.

§.6 Ebenso amtliche Untersuchung unter Mitwirkung des Fabrikinspektors.

§ [75] Involviert Deckung für Selbstmord. Ist das beabsichtigt?

§ 83. Ob unbedingt stets postnumerando Zahlung?

§ 86. “14 Tage”? Wohl etwas kurz. Woher? Frage, ob der “Post” für ihre Vorschüsse ein eigener neuer Reichskredit zu geben?

§ 88. Einfacher Krankenlohn = 2/3 des bisherigen Lohnes.

§ 92. Soll das Haftpflichtgesetz von 1876 [sic!] bestehen bleiben?

§ 93. In Absatz 1 müßte wohl “grobes Verschulden” hinzutreten.

§ 100. Hier die Lücke: wie soll überhaupt die Privatversicherung behandelt werden?

[ Druckseite 119 ]

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849─1904) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • 1BArchP 15.01 Nr. 382 fol. 103─107. gez. A. Wagner mit Kopfvermcrk v. Heykings: Vorgetr(agen) S.D. d. 31.XII.81, die Herkunft der Unterstreichungen ist nicht zu ermitteln, sie dürften im wesentlichen auf Adolph Wagner selbst zurückzuführen sein. »
  • 2Vgl. Nr. 15 Anm. 5. »
  • 3Randvermerk v. Heykings: Zust(immung) S.D., der Satz ist am Rande angestrichen. »
  • 4Vgl. zu den “Gefahrklassen” als Bezugspunkt Nr. 10 Anm. 4 und Nr. 16 Anm. 6. »
  • 5Dieser von B. von September 1883 bis Frühjahr 1884 deutlich vertretene Gedanke wird hier ─ in Anlehnung an Gedanken Schäffles? ─ formuliert und ist von B. auch ansatzweise erwogen worden, vgl. Nr. 31 Anm. 18 und Nr. 10. »
  • 6Hier und im nächsten Absatz fehlt die Ziffer. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 30, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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