II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 23

1881 November 22

Tagebucheintragung1 des preußischen Landwirtschaftsministers Dr. Robert Lucius2

Abschrift

[Mutmaßungen über Bismarcks politische Absichten]

Bismarck lebt abgeschieden wie der zürnende Achilles in seinem Zelt und schreibt und inspiriert Zeitungsartikel. Neuerlich assistiert ihm Paul Lindau3 dabei. Die Qualität seiner Berater bessert sich nicht in der letzten Zeit. Die Minister Puttkamer u. Boetticher sind völlig willenlose Instrumente, welche ad nutum gehorchen und trotzdem ihr nahes Ende vorauszusehen glauben. Boetticher scheint B. völlig zu ignorieren, arbeitet mit Lohmann und den Professoren Schäffle u. Ad. Wagner über seinen sozialistischen Projekten, von welchen er wissen muß, daß sie nicht ausführbar sind.4 Ob die Thronrede5 sein politisches Vermächtnis war, ob er ernstlich damit umgeht, mit des Kaisers Scheiden auch zu gehen; ob er vorher das Ministerium und die Reichsämter rekonstruieren resp. neu besetzen will, steht dahin, ist aber nicht unwahrscheinlich. Jedenfalls kommt er bald mit fertigen Entschlüssen, und sie werden sicher die Anlehnung nach links suchen. Als Opfer werden sicher Bitter6 und Goßler7 fallen, allein es müssen vielleicht auch noch mehr Leute dran glauben.

Entscheidende Entschlüsse können allerdings erst gefaßt werden, nachdem die Situation im Reichstag weiter geklärt sein wird, wozu die Gelegenheit durch die Budgetdebatte geboten sein wird. Ob er gleich sprechen wird, steht dahin. Jedenfalls tut er es bald und wird rund heraus sagen, was er in Tischkonvensationen und Zeitungsartikeln hat transpirieren lassen.

Es ist eine sonderbare Situation, welche B. lediglich selber durch sein Ungestüm hervorgerufen hat. Ob dabei bewußte Ziele erstrebt worden sind, ob er die plötzliche Sinnesänderung 1877/78 Neujahr8 als Fehler anerkennt, ist schwer zu ergründen. [ Druckseite 90 ] Der Effekt davon ist jedenfalls gewesen: Zerstörung der Mittelparteien, Bildung einer entschiedenen liberalen Oppositionspartei.9

Die Verschmelzung von Sezession und Fortschritt steht augenscheinlich bevor10, und es liegt völlig in Bennigsens Hand, ob er durch seinen Zutritt diese Partei konsolidieren will oder ob er sich reserviert zu einem Anschluß nach rechts. Das letztere setzt jedenfalls die entschiedene Abwendung von der äußersten Rechten voraus. Noch ist Zeit dazu, aber auch nicht mehr lange.

Registerinformationen

Personen

  • Bamberger, Ludwig (1823─1899) Politiker und Schriftsteller, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Bennigsen, Dr. Rudolf von (1824─1902) Landesdirektor der Provinz Hannover, MdR (nationalliberal)
  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Lasker, Dr. Eduard (1829─1884) Jurist und Politiker, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • 1BA Koblenz NL Goldschmidt 298 Nr. 30. »
  • 2Dr. Robert Lucius (1835─1914), seit 1879 preuß. Landwirtschaftsminister. »
  • 3Paul Lindau (1839─1919), Herausgeber der Monatsschrift “Nord und Süd”. »
  • 4In der stark redigierten Druckfassung der Tagebuchaufzeichnungen heißt es: Bismarck arbeitet jetzt mit Lohmann, Professor Schäffle und Ad. Wagner an seinen Sozialreformplänen und scheint Bötticher davon fernzuhalten, Wagner war aber bei B. wohl schon nicht mehr persona grata (Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Lucius von Ballhausen, Stuttgart und Berlin 1920, S. 217 und Die gesammelten Werke, Bd. 8, Berlin 1926, S. 491). »
  • 5Gemeint ist die Kaiserliche Sozialbotschaft vom 17.11.1881. »
  • 6Karl Hermann Bitter (1813─1885), seit 1879 preuß. Finanzminister, er verlor sein Amt im Juni 1882. »
  • 7Gustav von Goßler (1838─1902), seit 1881 preuß. Kultusminister, seit 1877 MdR (konservativ); Goßler blieb bis März 1891 im Amt. »
  • 8Gemeint ist die innenpolitische Abkehr vom Liberalismus (Freihandel). »
  • 9Gemeint ist die sog. Sezession unter Führung Eduard Laskers und Ludwig Bambergers im Sommer 1880, die zur Gründung der Liberalen Vereinigung führte. »
  • 10Dies geschah erst am 15./16.3.1884. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 23, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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