II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 10

1881 Oktober 10

Erlaß1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an den Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher

Abschrift, Teildruck

[Träger der Unfallversicherung sollen Zwangskorporationen (Berufsgenossenschaften) sein, die nach der Unfallgefahr der einzelnen Berufsarten gebildet werden sollen; Abkehr vom Gedanken einer Reichsanstalt als einzigem Versicherungsträger]

Eurer Exzellenz gefälliges Schreiben vom 8. d. M.2 habe ich mit verbindlichstem Danke erhalten. Den Erhebungen über die Armenstatistik darf ich danach also Anfang Dezember entgegensehen.

Daß in der Herstellung der Berufsstatistik nach Maßgabe der wieder beigefügten Tabellen I bis V3 eine Verzögerung eingetreten ist, bedaure ich, denn wir werden meiner Ansicht nach ohne eine solche mit der Altersversorgung gar nicht vorgehen können, und auch für die Unfallversicherung die Ausarbeitung nach der korporativen Seite hin nicht vornehmen können. Die Bildung von Korporationen nach den Berufsarten nach Maßgabe der Gefährlichkeit derselben4, die korporative Versicherung jeder [ Druckseite 28 ] Berufsart in sich mit Aufbringung ihrer Prämien und Beaufsichtigung der Gefährlichkeit der Einrichtungen in sich, wird nur aufgrund einer Berufsstatistik sich ausarbeiten lassen.5 Die korporative Versicherung ist in unserer diesjährigen Vorlage fakultativ aufgefaßt, sie wird aber die Aufnahme der Landwirtschaft sehr erleichtern, wenn sie obligatorisch6 wird. Die Altersversicherung werden wir ohne das Material der Berufsstatistik meiner Ansicht nach nicht vorlagefähig herstellen können. Ich lege deshalb kein Gewicht darauf, ob die aufzustellenden Nachweisungen einer Wiederholung der Volkszählung gleich kommen oder nicht. Die Bedenken des Ministers des Innern gegen die Ausfüllung der Formulare I─V kenne ich nicht und kann daher auf dieselben nicht eingehen, da ich nicht beurteilen kann, ob sie nicht ausschließlich dem Geh. Rat Engel, dem Statistiker, angehören. [...] Zur Tabelle V bemerke ich noch, daß ich Jäger und Fischer nicht bei den Rentiers und Beamten, sondern bei der Forst- und Landwirtschaft richtig untergebracht glauben würde.

Registerinformationen

Personen

  • Bamberger, Ludwig (1823─1899) Politiker und Schriftsteller, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Braun, Karl (1822─1893) Justizrat, Rechtsanwalt, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Engel, Dr. h. c. Ernst (1821─1896) Direktor des preußischen Statistischen Büros
  • 1BArchP 15.01 Nr. 381 fol. 50─51; die Ausfertigung ist nicht überliefert; das, wie es in einem Kopfvermerk heißt, Reinkonzept nach Bleistiftnotizen: BArchP 07.01 Nr. 2069, fol. 4─6. »
  • 2Dabei handelt es sich um ein eigenhändiges Schreiben v. Boettichers, überliefert: BArchP 07.01 Nr. 2069, fol. 1─3; vgl. zur Berufsstatistik auch noch die Direktive v. 7.11.1881 (Abdruck: Heinrich v. Poschinger, Aktenstücke..., Bd. 2, S. 76 f.). »
  • 3Diese (in den Akten nicht überlieferten) Tabellen galten der Anzahl der Beschäftigten und der Unfallgeschädigten nach verschiedenen Kategorien. »
  • 4Soweit ersichtlich, äußerte Bismarck einen derartigen Gedanken bereits am 18.9.1880 gegenüber Louis Baare, wenn auch nur als sekundäre Erwägung. Danach sollte bei der Staatsversicherung (...) die Begründung von kleineren Verbänden bis zu Provinzialverbänden oder von Verbänden gleichartiger bzw. gleichgefährlicher Arbeitszweige nicht ausgeschlossen sein, hinter denselben aber zugunsten der versicherten Arbeiter der Staat stehen. (Archiv Krupp Stahl AG, Werk Bochum 2/0019 Nr. 2; Abdruck bei: Henry Axel Bueck, Der Centralverband Deutscher Industrieller 1876─1907, Bd. 2, Berlin 1905, S. 83 f.; vgl. die in Bd. 2 der I. Abt. dieser Quellensammlung, S. 239 f. abgedruckte Kurzfassung.) Im Verlauf der Entwurfsentwicklung ist das dann aber zunächst nicht verfolgt worden (ebd., S. 254 u. 264ff.), § 56 der Reichstagsvorlage gestattete dann Genossenschaften für Unternehmer von Betrieben gleicher Gefahrklasse, das Reich blieb aber Versicherer. In seiner Reichstagsrede vom 2.4.1881 hatte B. dann branchenspezifische korporative Genossenschaften als langfristig erstrebenswerten Organisationstypus angedeutet (ebd., S. 587). »
  • 5Die erste, unzulängliche Berufszählung erfolgte 1871 aus Anlaß der Volkszählung, bei der Volkszählung 1875 fand nur eine Gewerbezählung statt; darin wurde versucht, aus der 1880er Volkszählung eine neue Berufsstatistik herzustellen. Das Material war aber so unzulänglich, daß die Konferenz der Vorstände deutscher statistischer Zentralstellen im Juni 1881 beschloß, eine besondere Berufszählung vorzubereiten. Sie unterbreitete dann dem Reichsamt des Innern im Oktober 1881 Vorschläge für eine allgemeine Berufs- und landwirtschaftliche Betriebsstatistik, das Gesetz dazu erging am 13.2.1882, am 5.6.1882 fand dann eine Berufszählung statt; vgl. dazu auch Nr. 35 Anm. 3 und Nr. 78. »
  • 6Der Gedanke einer obligatorischen korporativen Gestaltung der Unfallversicherung dürfte Bismarck durch Albert Schäffle konkret nahegelegt worden sein, jedenfalls ist das angesichts des Präsentatum von Nr. 9 möglich. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 10, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0010

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.