II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 9

1881 Oktober 10

Brief1 des Staatsministers a.D. Dr. Albert Schäffle2 an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Eigenhändige Ausfertigung

[Vorschläge über Zwangsversicherung auf korporativer Grundlage mit jährlicher Umlage statt Kapitaldeckung werden zugesandt]

Euer Durchlaucht wollen die Übersendung des beiliegenden Artikels der A[ugsburger] Allg[emeinen] Z[ei]t[un]g über Arbeiterversicherung3, welcher aus meiner Feder stammt, nicht unfreundlich aufnehmen.4

Vielleicht täusche ich mich, aber es ist meine auf ruhiger und vielseitiger Erwägung beruhende Überzeugung, daß die Zwangsversicherung ihre eigenartige Ausgestaltung heischt und daß die Euer Durchlaucht großem Plan entgegentretenden Schwierigkeiten und Bedenken nur darin beruhen, daß die Zwangsversicherung auf den ganz inkommensurablen Verhältnissen der freiwilligen Privatversicherung gestaltet werden will, bzw. gestaltet gedacht wird. Daher hielt ich es für meine Pflicht, so offen wie sachlich eine immerhin wohlerwogene und schon vor 11 Jahren kundgegebene Ansicht5 in einem so entscheidungsvollen Moment zu äußern und wird entschuldigt sein, wenn ich diese aufs Knappste gestaltete Darlegung in einem besonderen Abdruck direkt zu Euer Durchlaucht Kenntnis zu bringen mir erlaube.

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Registerinformationen

Personen

  • Baare, Louis (1821─1897) Generaldirektor des Bochumer Vereins, Mitglied des preuß. Volkswirtschaftsrats
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • 1BArchP 07.01 Nr. 527, fol. 1─2 mit Präsentationsvermerk 10.10.1881. Im 2. Band seiner Erinnerungen “Aus meinem Leben” (Berlin 1905) hat Schäffle seine Korrespondenz mit Bismarck abgedruckt; bei seinen eigenen Briefen zeigen sich allerdings bei der Datierung und den Formulierungen Abweichungen gegenüber den originalen Ausfertigungen, so daß davon ausgegangen werden muß, daß Schäffle bei der Niederschrift seiner Erinnerungen nur Konzepte vorlagen, nicht aber Abschriften. »
  • 2Dr. Albert Schäffle (1831─1903), Nationalökonom, 1871 österr. Handelsminister; über die Lebensverhältnisse des seit 1872 in Stuttgart lebenden Privatgelehrten berichtete auf Ersuchen Bismarcks der preuß. Gesandte in Stuttgart Otto v. Bülow am 20.12.1881, daß (...) der vormalige kaiserlich-österreichische Staatsminister Dr. Schäffle hier sehr zurückgezogen lebt, wenig bekannt ist und sich fast ausschließlich seinen schriftstellerischen Arbeiten und wissenschaftlichen Studien widmet. (...) Im dritten Stockwerk eines in einer ziemlich abgelegenen Straße befindlichen Hauses bewohnt Dr. Schäffle mit seiner Familie und einem weiblichen Dienstboten eine mittelgroße Wohnung, die ─ wenn ich auf heimische Verhältnisse exemplifizieren darf ─ in ihrer schlichten Einrichtung kaum den bescheidenen Komfort erreicht, welchem man in der Behausung eines nur auf sein Diensteinkommen angewiesenen verheirateten Berliner Geheimrats zu begegnen pflegt. (BArchP 07.01 Nr. 527, fol. 215─216) Bismarck versuchte mehrfach, Schäffle für seine Arbeiten zu honorieren, was dieser aber strikt ablehnte. »
  • 3Vgl. den Teilabdruck in Bd. 1 der I.Abteilung dieser Quellensammlung “Grundlagen staatlicher Sozialpolitik”, Nr. 207, mit Anstreichung Bismarcks: Umlage des wirklichen Schadens (S. 672); wohl der entscheidende Hinweis auf das Umlageverfahren, vgl. Einleitung. »
  • 4B.: Sehr einverstanden bis auf die Ablehnung der Staatshilfe. Ohne die werden die Gemeinden und Berufsverbände zwar zu einer besseren, aber auch zu einer verteuerten Armenpflege auf eigene Kosten gezwungen. »
  • 5Schäffle meint hier seine Anfang 1870 im österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien gehaltenen “Vorträge zur Versöhnung der Gegensätze von Lohnarbeit und Kapital”, die er im gleichen Jahr unter dem Titel “Kapitalismus und Sozialismus mit besonderer Rücksicht auf Geschäfts- und Vermögensformen” in Tübingen publizierte. In diesen findet sich keine Theorie der Zwangsgenossenschaften, wohl aber ein Plädoyer für eine (begrenzte) soziale Aktivität des Staates, insbesondere zu obligatorischer Invaliditätsund Altersversicherung (S. 702). Die Grundgedanken dieser Monographie hat Schäffle dann im 12. Hauptabschnitt seines Hauptwerkes “Bau und Leben des sozialen Körpers” (Tübingen 1875, Bd. 3, S. 234 ff.) aufgenommen, in diesem hat er dann auch eine genauere Formenlehre der sozialen Organisation entwickelt und dort die “Spezialcorporationen”, auch die “zwangsverbindlichen”, systematisch verortet (Bd. 1, S. 759 ff.). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 9, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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