II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 5

1881 August 11

Schreiben1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an den preußischen Minister des Innern Robert von Puttkamer

Entwurf mit Abänderungen von v. Boetticher und Bosse

[Der Artikel des Direktors des preuß. Statistischen Büros Dr. Ernst Engel schadet der Reichsregierung in ihrem Bemühen um ein Unfallversichcrungsgesetz, disziplinarische Schritte werden befürwortet]

Eurer Exzellenz gefälliges Schreiben vom 5. d. M.2 I.A. 6429 aist der Ausführung meiner Absicht, mit Hochdenselben übera die von dem Geheimen Oberregierungsrat Dr. Engel im Heft I/II des Jahrgangs 1881 der Zeitschrift des kgl. preuß. Statistischen Büros über “die tödlichen und nicht tödlichen Verunglückungen im Preußischen Staate im Jahre 1879 und in früherer Zeit” veröffentlichte Abhandlung ain Korrespondenz zu treten, zuvorgekommen. Ich beehre mich auf dasselbea folgendes ganz ergebenst zu erwidern.

Nicht nur der Inhalt der von E[uer] E[xzellenz] hervorgehobenen Anmerkung auf Seite 84 der Druckschrift, sondern auch einzelne Sätze der Abhandlung selbst, ebenso wie der erste Artikel der s[ub] p[etione] r[emissionis] angeschlossenen von Dr. Engel herausgegebenen “Statistischen Korrespondenz” ─ Nr. 28 ─ enthalte eine Kritik der Reichsregierung und ihrer Maßnahmen auf dem Gebiete der Unfallversicherung, welche auch ich in voller Übereinstimmung mit E. E. als ungehörig bezeichnen muß.

In materieller Beziehung sind die von Dr. Engel in jener Abhandlung veröffentlichten Zahlen, mögen dieselben mit noch so viel methodischen Geschick gruppiert sein, vollkommen wertlos für die aBeschaffung genügender Unterlagen für dasa Unfallversicherungsgesetz. Er selbst behauptet und beweist, daß die von ihm beigebrachten Zahlen, soweit sie sich auf tödliche Verunglückungen beziehen, nicht

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richtig sein können (vgl. Seite 65 und 72), und in Betreff der Zahlen der nichttödlichen Unfälle sagt er Seite 82, mit denselben lasse sich schlechterdings nichts anfangen, sie trügen die Spur der Unvollständigkeit zu deutlich auf der Stirn, als daß sie zu irgendwelchen Vergleichen und Schlußfolgerungen brauchbar wären; um ihretwillen sei die Reorganisation des Unfallmeldewesens fast noch nötiger als wegen der tödlichen. Es wird dann auch avon ihma nicht einmal der Versuch gemacht, die Zahl der Unfälle zur Zahl der in den einzelnen Industriezweigen während der betreffenden Jahre beschäftigten Arbeiter in Beziehung zu setzen, obgleich erst damit, wenn jene Zahl richtig und diese Zahl bekannt wäre, der eigentliche Wert einer derartigen Statistik beginnen würde.

Unter diesen Umständen ist in der Tat nicht abzusehen, wie Dr. Engel ein so unbrauchbares Material im Eingange seiner Abhandlung als in mancher Beziehung sehr vollständig bezeichnen kann.

Um adas Bedürfnisa einer Reform des Unfallmeldewesens zu begründen, bedürfte es nicht erst der 50 Seiten umfassenden tabellarischen Zusammenstellung jenes handgreiflich falschen Zahlenmaterials. Hat Dr. Engel nicht etwa ein besonderes Interesse daran, möglichst viele Seiten der Statistischen Zeitschrift amit eigenen Arbeitena zu füllen, so bleibt kaum eine andere Annahme übrig, als daß er jenes wertlose Material lediglich ahata benutzen wollen, aum seiner, den wirtschaftspolitischen Plänen der Reichsregierung nicht günstigen Auffassung Ausdruck zu geben und zugleich seine Empfindlichkeit darüber zu zeigen, daß ohne seine Mitwirkung die Vorarbeiten für die neuerdings angeordneten statistischen Aufnahmen beschafft sinda.

Wenn er im ersten Absatze der Abhandlung den zu Anfang dieses Jahres durch viele Zeitungen gegangenen Alarmruf: “Unfallstatistische Forderungen” im Hinblick auf das vorhanden gewesene, jetzt von ihm im Zusammenhange dargebotene Material als einen ebenso übereilten wie unnötigen bezeichnet, so stellt sich dies, angesichts der offenkundigen, von ihm in den Kreis seiner Polemik gezogenen Tatsache, daß die Reichsregierung asolchea Aufnahmen averanlaßta hat, als eine direkte Kritik des Verfahrens der Reichsregierung dar. Diese Kritik, in Verbindung mit der Unterstellung, die vorhandene preußische Unfallstatistik scheint der betreffenden Reichsstelle ebensowenig bekannt zu sein, wie die mannigfachen dem königl[ichen] preuß[ischen] Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten unterbreiteten Anträge des Verfassers bezüglich der Reform des Unfallmeldewesens und der Unfallstatistik3, erscheint in einer unter amtlicher Autorität herausgegebenen Zeitschrift und aus der Feder eines höheren Staatsbeamten umso weniger angemessen, als dieselbe nur zu sehr geeignet war, das öffentliche Urteil über die Maßnahmen der Reichsregierung irrezuleiten und den politischen Gegnern der letzteren, zumal in der Zeit vor den Reichstagswahlen, einen willkommenen Anlaß zu Angriffen und Verdächtigungen zu bieten. Die Art und Weise, in welcher nicht allein die fortschrittliche und sezessionistische Presse, sondern auch nationalliberale Blätter die Engelschen Auslassungen auszubeuten sich haben angelegen sein lassen, bestätigt dies in vollem Umfange.

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Was die Frage anbetrifft, ob und inwiefern eine tatsächliche Berichtigung der Auslassungen des Dr. Engel angezeigt sein möchte, so glaube ich einstweilen Anstand nehmen zu sollen, dieselbe meinerseits herbeizuführen, aweil ich es nicht für angemessen halten kann, einen zumal a in hervorragender dienstlicher Stellung befindlichen Beamten aöffentlich wegen einer Amtshandlung zu desavouieren, solange nicht seine vorgesetzte Dienstbehörde dieselbe zum Gegenstand der Erörterung und Entscheidung gemacht hat.

Zu Eurer pp. geneigter Erwägung beehre ich mich deshalb zunächst zu verstellena, inwieweit ein disziplinarisches Einschreiten gegen Dr. Engel aangezeigt sein dürfte. Ich würde auf eine nachdrückliche Zurechtweisung desselben um deswillen Wert legen, weil ich der, wie ich hoffen darf, von Eurer pp. geteilten Meinung bin, daß der Versuch, durch eine in einem amtlichen Organ publizierten Kritik den Absichten und Maßnahmen der Regierung Schwierigkeiten zu bereiten, mit allem Ernste zurückgewiesen werden muß. Jedenfalls aber hat die Reichsregierung a ein dringendes Interesse daran, daß a Publikationen ähnlicher Tendenz wie die vorliegende in Zukunft unterbleibena. E. E. awürde ich deshalb a zu lebhaftem Danke verpflichtet sein, wenn Hochdieselben in dieser Hinsicht aMaßregeln treffen und mich von dem Ergebnis Ihrer Erwägungen a gefälligst in Kenntnis setzen wollen.

Registerinformationen

Personen

  • Brincken, Ernst von den (1835─1895) Geh. Regierungsrat im preuß. Innenministerium
  • Puttkamer, Robert von (1828─1900) preuß. Innenminister
  • 1BArchP 15.01 Nr. 406, fol. 135─138 Rs.; das Schreiben wurde am 10.8.1881 von Bödiker entworfen und von Bosse und v. Boetticher geringfügig abgeändert, auf v. Boetticher gehen die durch a-a gekennzeichneten Textveränderungen zurück. »
  • 2Vgl. Nr. 4. »
  • 3Vgl. Nr. 4 Anm. 4. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 5, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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