II. Abteilung, Band 1

Nr. 130

1890 Februar 1

Bericht1 des Gesandten Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Ausfertigung

Bericht über die Staatsministerialratssitzung vom 31.1.1890; mit Rücksicht auf Bismarck sollen die geplanten Erlasse den Begriff „Arbeiterschutz“ nicht enthalten

Die in meinem gestrigen gehorsamsten Bericht angekündigte Staatsministerialsitzung hat in Gegenwart des Kaisers stattgefunden. Seine Majestät war sehr ungehalten gewesen, daß vor dem letzten Kronrat (21. [recte 24.] v. M.) der Reichskanzler seine Kollegen zuerst allein um sich versammelt und für die Abstimmung in der Sozialistenfrage voreingenommen hatte. Offenbar um ähnlichem vorzubeugen, erschien der Kaiser gestern unangemeldet und unerwartet in der Sitzung.

Diese nahm einen nach Lage der Dinge völlig unerwarteten Verlauf. Es wurde nämlich beschlossen, daß Seine Majestät zwei Erlasse, einen an den Reichskanzler, einen an den Minister der öffentlichen Arbeiten und des Handels richten werde, mit welchen Erlassen die Aktion für die Verbesserung der Lage der Arbeiter eröffnet werden soll. In dem ersten wird der Reichskanzler aufgefordert werden, Vereinbarungen mit fremden Staaten über internationale Regelung der Materie in die Wege zu leiten, in dem zweiten werden die vorgenannten Ressortminister angewiesen, zu untersuchen, inwieweit die Bestimmungen der Gewerbeordnung über die Fabrikarbeiter mit den gegenwärtigen Bedürfnissen noch im Einklang stehen.

Nach diesem Beschluß, dem der Reichskanzler zugestimmt hat, müßte man die Krisis als überwunden betrachten, wenn nicht die letzten 8 Tage so viele Wandlungen gebracht hätten, daß jedes Vertrauen auf die nächsten Stunden geschwunden ist.

Eine große Schwierigkeit wird schon die redaktionelle Feststellung der beiden Erlasse bieten. Wie ich höre, sollen Entwürfe heute schon vorliegen, in welchen das Wort „Arbeiterschutz“ in Rücksicht auf den Reichskanzler vermieden ist, der diese Bezeichnung nicht verträgt und seinerseits in „Arbeiterzwang“ übersetzt. Ob im übrigen der Entwurf dem Fürsten Bismarck entspricht, ob der Kaiser ihn dann nicht wieder ändert und den „Arbeiterschutz“ hineinkorrigiert, wird abzuwarten sein.

Bisher habe ich keine Erklärung für diese neueste Stellungnahme des Reichskanzlers erhalten können. Will er seinen Widerstand dem Drängen des Kaisers gegenüber fallenlassen oder glaubt er, durch diese Art der Einleitung die Angelegenheit auf die lange Bank zu schieben und auf diese Weise vereiteln zu können ─ ich weiß es nicht. Jedenfalls bleibt es schwer zu verstehen, daß der Reichskanzler, der im verflossenen Jahr die Beschickung der Konferenz in der Schweiz auf das entschiedenste abgelehnt hat2 sich mit dem Erlaß einverstanden erklärt, durch welchen sich Deutschland gewissermaßen an die Spitze der internationalen Regelung der Frage stellt. Überhaupt schließt doch der Beschluß des Staatsministeriums für den [ Druckseite 535 ] Reichskanzler ein größeres Opfer seiner Überzeugung ein als die Einbringung eines Arbeiterschutzgesetzes, welches unschwer so zu gestalten wäre, daß es an den bestehenden Verhältnissen wenig oder nichts ändert und doch dem Kaiser und der öffentlichen Meinung genügt.

Wie sich nun die Aktion, welche mit den mehrerwähnten Erlassen beginnen wird, zu dem sächsischen Antrag über Arbeiterschutz verhält, darüber scheint zur Zeit noch Unklarheit zu herrschen. Der Kaiser hat nicht die Absicht, auf den sächsischen Antrag zu verzichten, er hat im Gegenteil den König Albert gebeten, sich keinesfalls abhalten zu lassen, den Antrag zu stellen. Was in Dresden geschieht, darüber hatte bis heute Graf Hohenthal noch keine Nachricht. Er hält aber persönlich dafür, daß in Rücksicht auf den Wunsch des Reichskanzlers jedenfalls vor den Wahlen der Entwurf von seiner Regierung nicht eingebracht werden wird.

Herr von Berlepsch hat das Handelsministerium in seinem jetzigen Geschäftsumfang übernommen. Es besteht aber die Absicht, von dem Ressort des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten die Bergwerke und Salinen zu trennen und dem Handelsressort zuzuweisen. Mit dieser Maßregel wird die Entscheidung über die Arbeiterangelegenheiten dem neuen Handelsminister ganz übertragen.

Wie Euer Exzellenz vorstehendem entnehmen wollen, hat die Situation seit gestern eine etwas friedlichere Gestalt erhalten. Die Stimmung der beiden maßgebenden Personen scheint aber nichts weniger als beruhigt. Gereiztheit und Mißtrauen dauern fort und lassen neue Differenzen jeden Tag befürchten.

Registerinformationen

Regionen

  • Sachsen, Königreich

Personen

  • Albert (1828–1902) , König von Sachsen
  • Berlepsch, Hans Freiherr von (1843–1926) , Regierungspräsident in Düsseldorf; später: Oberpräsident der Rheinprovinz; später: preußischer Handelsminister
  • Fabrice, Alfred Graf von (1818–1891) , sächsischer Außenminister
  • Hohenthal und Bergen, Dr. Wilhelm Graf von (1853–1909) , sächsischer Gesandter in Berlin

Sachindex

  • Handelsministerium, preußisches
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Preußen
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1890
  • 1Ausfertigung: BayHStA München MA 692, n. fol.; Entwurf: BayHStA München Bayerische Gesandtschaft Berlin 1060, n. fol. »
  • 2Vgl. Nr. 102 Anm. 19. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 130, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0130

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