II. Abteilung, Band 1

Nr. 126

1890 Januar 31

Bericht1 des Gesandten Dr. Wilhelm Graf von Hohenthal und Bergen an den sächsischen Außenminister Alfred Graf von Fabrice

Ausfertigung

Wilhelm II. drängt auf Vorlage des sächsischen Arbeiterschutzantrags; Wilhelm II. sucht den Konflikt mit Bismarck in der Arbeiterschutzfrage

Seine Majestät der Kaiser, allerhöchstwelcher mich für heute nachmittag {1/2} 4 Uhr in das Schloß befohlen hatte,2 empfing mich sofort mit folgenden Worten: „Nun, lieber Hohenthal, der Onkel Albert3 hat Mir auf Meinem Wunsch zugesagt, daß er im Bundesrat die Arbeiterschutzfrage anregen wolle; Ich habe Sie kommen lassen, um Sie zu fragen, wie es mit diesen Anträgen steht.“

Ich versuchte zunächst, Seiner Majestät eine ausweichende Antwort zu geben, indem ich mich hierbei auf die Schwierigkeit der Materie berief.

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Seine Majestät war indessen hiervon unbefriedigt und fragte mich schließlich so eingehend und so direkt nach dem Grund dafür, daß diese Anträge noch nicht amtlich angekündigt seien, daß ich endlich nicht anders konnte, als allerhöchstdemselben mitzuteilen, welchen Erfolg die amtliche Ankündigung der beregten Anträge gehabt habe. Seine Majestät war über das von dem Reichskanzler eingeschlagene Verfahren im höchsten Grad ungehalten und befahl mir, Seine Majestät den König unseren allergnädigsten Herrn zu bitten, auf die Wünsche des Fürsten keine Rücksichten zu nehmen, die Anträge vielmehr ruhig ausarbeiten und demnächst einbringen zu lassen. Auf meine Einwendung, daß es für unsern allergnädigsten Herrn überaus peinlich sein werde, wenn es bekannt werde, daß der Reichskanzler eines sächsischen Antrags halber seinen Abschied genommen habe, erwiderte mir der Kaiser: „Bitte beruhigen Sie Ihren König hierüber vollständig. Fürst Bismarck wird wegen einer Frage, in der er die öffentliche Meinung gegen sich hat, nicht gehen, sollte er es aber dennoch tun, so werde Ich schon dafür Sorge tragen, daß Europa erfährt, daß Ich ihn wegen Ungehorsams entlassen habe. Eigentlich sollte Ich dies heute schon tun, denn indem er Sie gestern kommen ließ,4 hat er gegen Meinen ausdrücklichen Befehl gehandelt und hiermit einen Schritt getan, den Ich nicht näher qualifizieren will.“

Da ich aus diesen Äußerungen entnehmen mußte, daß dem ausgesprochenen Willen Seiner Majestät gegenüber von mir nichts zu erreichen war, so habe ich den Kaiser unter Hinweis auf das amtliche Schreiben des Fürsten, welches meinem Bericht Nr. 54 beigefügt ist,5 ersucht, allerhöchstlich doch wenigstens noch bis nach den Wahlen zu gedulden. Seine Majestät hat mir zwar hierauf direkt nichts erwidert; allerhöchstderselbe gab mir indessen zu, daß die Anträge wohlüberlegt werden müßten. Seine Majestät wird sich daher nicht wundern, wenn in den nächsten Wochen keine Anträge kommen, obgleich allerhöchstderselbe zu bemerken geruhte: „Ihr habt ja doch die besten Leute hierzu in Sachsen, z. B. einen Berginspektor in Zwickau6, dessen Name Mir entfallen ist, dessen Vorschläge Ich aber mit Interesse gelesen habe.“

Auf sein Verhältnis zu dem Reichskanzler näher eingehend sagte der Kaiser: „Sie ahnen gar nicht, wie schwer Mir der Mann das Leben macht, Mein ganzes Staatsministerium hat er Mir schon rebellisch gemacht, 5 Minister wollen fort. Inzwischen habe Ich ihm das Handelsministerium abgenommen, damit Ich weiß, daß wenigstens in diesem augenblicklich sehr wichtigen Ressort nach Meinem Willen regiert wird. Berlepsch, dessen Ernennung Ich heute vollzogen habe, kennt die Bergarbeiterverhältnisse von Grund aus und wird sich zunächst damit beschäftigen, Einigungsämter in den betreffenden Distrikten einzurichten. Der Reichskanzler rät Mir immer, Ich solle in die Arbeiterbewegung nicht vorbeugend eingreifen, sondern sofort zu blutigen Repressalien übergehen. Ich weiß wohl, daß es nötig werden kann, die Revolution niederzuschlagen, und Ich werde es gewiß dann an Nachdruck nicht fehlen lassen; Ich will aber, daß, wenn es zum Äußersten kommen muß, das Unrecht nicht auf Meiner Seite ist. Ich will nicht, daß Meine Armee ohne zwingende Notwendigkeit auf Meine Untertanen schießt, dazu sind Mir beide viel zu lieb und, um dies zu vermeiden, will Ich alles tun, um die berechtigten Wünsche Meiner Untertanen zu erfüllen, [ Druckseite 506 ] damit wenigstens die nächste Generation besser wird, wie es die gegenwärtige ist. Auch die Annahme des Sozialistengesetzes unter Verzicht auf die Ausweisungsbefugnis habe Ich für notwendig gehalten, weil Ich der Meinung bin, daß das Gesetz auch in dieser Fassung vollständig genügt hätte, um schlimmen Eventualitäten vorzubeugen. Der Fürst hat Mich in diesem Fall durch sein Entlassungsgesuch, welches er während der Kronratssitzung einbrachte7 und welches dadurch an Gewicht gewann, daß er seine Kollegen vorher dazu bestimmt hatte, gleichfalls ihre Entlassung anzubieten, gegen Meinen Willen gezwungen, auf die Annahme des Sozialistengesetzes Verzicht zu leisten. In der Arbeiterschutzfrage werde Ich aber nicht nachgeben, Ich werde zunächst darauf bestehen, daß ein in der Vorbereitung begriffener Erlaß an das Staatsministerium, welcher in dieser Beziehung Mein Programm enthält, veröffentlicht werde, und wenn dann die sächsischen Anträge kommen, so haben Wir schon einen guten Schritt nach vorwärts getan. Seien Sie überzeugt, daß Fürst Bismarck nicht deswegen gehen wird, weil Ich verlange, daß Frauen 4 Wochen vor und 4 Wochen nach ihrer Niederkunft nicht in Fabriken beschäftigt werden sollen8 oder weil andere notwendige Beschränkungen in der Frauen- und Kinderarbeit und in der Sonntagsarbeit eintreten.“

Seine Majestät entließ mich äußerst gnädig, nachdem allerhöchstderselbe sich etwa 20 Minuten mit mir unterhalten hatte. Zum Schluß befahl mir der Kaiser noch ausdrücklich, ich solle Seiner Majestät den König, unsern allergnädigsten Herrn, von dem ganzen Inhalt der Unterredung in Kenntnis setzen.

Ich habe den Eindruck gewonnen, daß der Entschluß des Kaisers ein unabänderlicher ist, und da ich gestern von dem Fürsten den gleichen Eindruck hatte, so dürften wir in den nächsten Tagen einer schweren inneren Krisis entgegengehen. Ich glaube auch, daß Seine Majestät von dem Inhalt meiner gestrigen Unterredung mit dem Fürsten bereits Kenntnis hatte, bevor ich in das Schloß befohlen wurde, denn anders kann ich mir den, soviel ich weiß, noch nicht dagewesenen Schritt, daß der Kaiser sich einen fremden Vertreter kommen läßt, um über derartige Sachen unter vier Augen mit ihm zu sprechen, nicht erklären.

Ich würde sehr gern demnächst nach Dresden kommen, um meine schriftliche Berichterstattung durch einen mündlichen Vortrag zu ergänzen, ich weiß indessen nicht, ob es den allerhöchsten Intentionen Seiner Majestät des Königs entsprechen würde, wenn ich in dieser kritischen Zeit meinen Posten auch nur auf einen Tag verlasse.

Fürst Bismarck hat sich gestern abend auch noch den Grafen Lerchenfeld kommen lassen.9 Er hat demselben seine Bedenken gegen die Arbeiterschutzgesetzgebung in ähnlicher Weise auseinandergesetzt wie mir und hat hinzugefügt, er halte es für sehr bedauerlich, daß Seine Majestät der Kaiser, ohne ihn zuvor zu fragen, unsern allergnädigsten Herrn dazu vermocht hätte, die Initiative zu ergreifen.

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Registerinformationen

Regionen

  • Europa

Orte

  • Dresden
  • Zwickau

Personen

  • Berlepsch, Hans Freiherr von (1843–1926) , Regierungspräsident in Düsseldorf; später: Oberpräsident der Rheinprovinz; später: preußischer Handelsminister
  • Bismarck, Herbert Graf von (1849–1904) , Sohn und Mitarbeiter Otto von Bismarcks, Staatssekretär im Auswärtigen Amt
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Goßler, Dr. Gustav von (1838–1902) , preußischer Kultusminister
  • Herrfurth, Ernst Ludwig (1830–1900) , preußischer Innenminister
  • Homeyer, Gustav (1824–1894) , Unterstaatssekretär im preußischen Staatsministerium
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843–1925) , bayerischer Gesandter in Berlin, Bundesratsbevollmächtigter
  • Lucius von Ballhausen, Freiherr Dr. Robert (1835–1914), preußischer Landwirtschaftsminister
  • Maybach, Albert von (1822–1904) , preußischer Minister der öffentlichen Arbeiten
  • Neukirch, Hubert Valentin (1849– nach 1907), Berginspektor in Zwickau
  • Schelling, Dr. Hermann von (1824–1908) , preußischer Justizminister
  • Scholz, Dr. Adolf von (1833–1924) , Staatssekretär im Reichsschatzamt; später: preußischer Finanzminister
  • Verdy du Vernois, Justus von (1832–1910) , preußischer Kriegsminister

Sachindex

  • Bergarbeiter
  • Einigungsämter
  • Fabrik
  • Februarerlasse
  • Frauenarbeit
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Handel, siehe auch Freihandel
  • Handelsministerium, preußisches
  • Kinderarbeit
  • Kronrat, preußischer
  • Mutterschutz
  • Reichskanzler
  • Revolution
  • Sonntagsruhe
  • Staatsministerium, preußisches
  • 1SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 6184, n. fol. »
  • 2Unmittelbar nach der Unterredung hatte Graf Hohenthal nach Dresden telegraphiert: Der Kaiser bittet Seine Majestät den König, den Wunsch des Reichskanzlers nicht zu erfüllen. Der Kaiser will für alles dem Fürsten gegenüber die volle Verantwortung übernehmen. Kaiser war über Kanzler sehr ungehalten. Berlepsch ist ernannt. Bericht folgt (chiffriertes Telegramm mit handschriftlicher Dechiffrierung: SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 6184, n. fol.). »
  • 3König Albert war zuletzt am 27.1.1890 mit Wilhelm II. zusammengetroffen. »
  • 4Vgl. Nr. 119. »
  • 5Vgl. Nr. 120 und Nr. 121. »
  • 6Wohl Valentin Neukirch, Berginspektor in Zwickau. »
  • 7Vgl. Nr. 113. »
  • 8Nach der Gewerbeordnungsnovelle vom 17.7.1878 durften Frauen drei Wochen nach der Niederkunft in Fabriken nicht beschäftigt werden. »
  • 9Vgl. Nr. 122. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 126, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0126

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