II. Abteilung, Band 1

Nr. 105

1890 Januar 19

Brief1 des Geheimen Legationsrats Dr. Paul Kayser an den Legationsrat Dr. Philipp Graf zu Eulenburg und Hertefeld

Abschrift

Um eine Wiederaufnahme der Arbeiterstreiks zu verhindern, schlägt Kayser einen Erlaß Wilhelm II. an das Staatsministerium auf Grundlage seiner sozialpolitischen „Vorschläge“ vor

Noch ehe ich eine Antwort auf meine kleine Denkschrift2 erhielt, haben sich die Verhältnisse in außerordentlicher Weise geändert. Wenn es eine Genugtuung sein sollte, dies vorausgesehen zu haben, so kann ich mir in tiefer Bekümmernis dieselbe gönnen. Aber was hat es geholfen! Unsere Bürokratie hat ihr möglichstes getan, wenn sie eine Enquete veranstaltet,3 in welcher die einzelnen Beteiligten über längst bekannte Dinge vernommen werden. Inzwischen ist es nach dem natürlichen Verlauf der Dinge weitergegangen, daß berechtigte Forderungen, wenn sie nicht berücksichtigt werden, sich in unberechtigte verwandeln und sich in das Maßlose und Ungemessene steigern. Sie können dies an der Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung sehen; mit jedem Jahr steigern sich die Forderungen; jede Reichstagssession hat uns mit einem Antrag beschert, welcher die früheren übertrumpfte, und jede Beratung steigert die Wünsche der Arbeiter. Warten wir noch länger, dann werden wir auch beim besten Willen nicht mehr in der Lage sein, diese Wünsche zu erfüllen, und die Regierung wird dann trotz ihrer Bemühungen nicht mehr imstande sein, die Forderungen zu befriedigen. Alle Revolutionen, von welchen die Geschichte spricht, lassen sich darauf zurückführen, daß rechtzeitige Reformen versäumt worden sind.

Die gegenwärtigen Forderungen der Bergarbeiter auf 50 % Lohnerhöhung und nicht einmal volle 8 Stunden Arbeitsschicht sind übertrieben und nicht zu erfüllen.4 Der Strike zum 1. Februar ist mit Sicherheit zu erwarten; von einem Druck der Arbeitgeber zur Nachgiebigkeit kann füglich nicht die Rede sein. Denn dieses mechanische Hilfsmittel würde nur dahin führen, daß nach einiger Zeit dasselbe Spiel von neuem angeht.

Wir müssen uns bei dem bevorstehenden Arbeitsausstand auf alles gefaßt machen; die Arbeiter haben seit dem letzten Mal vieles gelernt, sie sind besser organisiert [ Druckseite 469 ] und von sozialdemokratischen Agitatoren tüchtig bearbeitet worden. Überläßt man den Streik seinem Schicksal, so wird es auch an Gewalttätigkeiten nicht fehlen, und es werden sich genügende Anlässe vorfinden, aus denen in die Leute geschossen werden kann. Das ist mir gar nicht zweifelhaft, daß unsere Soldaten Herren bleiben werden! Aber es wäre schwer zu beklagen, wenn unser junger Kaiser den Anfang seiner Regierung mit dem Blut der eigenen Untertanen färben müßte. Das würde ihm nie vergessen werden; alle Hoffnungen, welche gerade die geringen und armen Leute auf ihn setzen, würden ins Gegenteil umschlagen. Die großen Verdienste Kaiser Wilhelm I. um das deutsche Volk haben es nicht vermocht, die Erinnerung daran auszulöschen, daß er im Jahre 1849 in Baden genötigt war, Bürgerblut vergießen zu lassen.5 In eine solche Notwendigkeit darf man unsern jungen kaiserlichen Herrn nicht bringen. Wer sein wahrhafter Freund ist, muß alles aufbieten, damit ein solches Unglück verhütet werde. Zum Dank würde er dabei nur den Großindustriellen handeln, welche nach einem blutigen Zusammenstoß auf einige Jahre vor den Forderungen ihrer Arbeiter Ruhe hätten, aber nur auf einige Jahre, in denen sich noch mehr Haß und Grimm gegen Regierung und gegen die Reichen ansammelt.

Es heißt aber Besonnenheit, Festigkeit und Maß halten.

Meines Erachtens sollte unverzüglich der Kaiser einen Erlaß an das Staatsministerium richten, in welchem er das Programm entwickelt, das ich mir erlaubt habe, Ihnen einzusenden,6 und in welchem er seine Minister auffordert, nach Maßgabe seiner Grundsätze sofort das Erforderliche zu veranlassen. Das muß in einer schönen und begeisterten Sprache geschehen, welche den Arbeitern zeigt, daß ihr König ein warmes Herz für ihre wahren Bedürfnisse hat, und auch gewillt ist, ihnen zu helfen. Gleichzeitig aber wird ein solcher Erlaß damit schließen können und müssen, daß den Arbeitern ein Festhalten an dem Gesetz zur Pflicht gemacht wird unter der Androhung, daß jede Ausschreitung auf das schärfste und unnachsichtlich geahndet werden wird.

Durch ein solches Vorgehen würde meines Erachtens dem Strike der Boden entzogen werden; es wird alsdann leichter sein, mit den Arbeitern zu verhandeln, sobald das kaiserliche Wort und Programm vorliegt, daß und in welcher Weise ihren Beschwerden Abhilfe geschehen soll. Dann mögen nur immer Truppen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung an den bedrohten Stellen konsigniert werden. Die Maßregel wird ihre Härte verlieren, wenn gleichzeitig eine Kommission zur Verwirklichung des kaiserlichen Programms tagt, und es wird dieses Vorgehen nicht als unverständige Nachgiebigkeit ausgelegt werden, wenn man sieht, daß die Regierung nicht zögert, für strenge Aufrechterhaltung der Sicherheit Vorsorge zu treffen. Die Truppen müssen aber von besonnenen Offizieren befehligt werden, die nicht jeden lumpigen Anlaß zum Feuern benutzen.

Es würde mich freuen, wenn ich bei der Entwicklung dieser Gesichtspunkte auf Ihre Zustimmung rechnen könnte. Ihnen dieselben noch weiter auszuführen, verbietet der für einen Brief bemessene Raum. Manches könnte auch nur mündlich erörtert werden. Ich erachte die Lage für so ernsthaft, daß ich wünschen möchte, Sie hier7 zu sehen. Vielleicht können Sie dies möglich machen.

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Registerinformationen

Regionen

  • Baden, Großherzogtum

Orte

  • Berlin
  • Straßburg

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Eulenburg und Hertefeld, Dr. Philipp Graf zu (1847–1921), , preußischer Gesandter in Oldenburg, Braunschweig, Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Agitation
  • Auswärtiges Amt
  • Bundesregierungen
  • Lehrer
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Revolution
  • Revolution – 1848/49
  • Soldaten
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • 1BLHA Potsdam Rep. 37 Liebenberg 576, fol. 46─48. Auf der maschinenschriftlichen Abschrift befindet sich ein handschriftlicher Vermerk Eulenburgs: Original an Holstein zur Kenntnisnahme geschickt. Philipp Graf zu Eulenburg und Hertefeld übersandte am 20.1. eine Abschrift dieses Briefs an Wilhelm II. (vgl. Nr. 109). »
  • 2Vgl. Nr. 102. »
  • 3Vgl. Nr. 101 Anm. 2. »
  • 4Im Januar 1890 hatte der nach dem großen Bergarbeiterstreik am 18.8.1889 gegründete „Verband zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen in Rheinland und Westfalen“ an den Vorstand des Zechenbesitzervereins im Ruhrgebiet u. a. folgende Forderungen aufgestellt: 1. Eine allgemeine Lohnerhöhung von 50 Prozent, beginnend mit dem 1. Februar 1890. 2. Präzise Festsetzung der Achtstundenschicht vom Beginn der Einfahrt bis zum Beginn der Ausfahrt. 3. (...) (vgl. Otto Hue, Die Bergarbeiter. Zweiter Band, Stuttgart 1913, S. 395). Zu größeren Arbeitseinstellungen kam es jedoch nicht. »
  • 5Gemeint ist die Niederschlagung der revolutionären Erhebungen in Baden, bei der Wilhelm I., seinerzeit noch Thronfolger („Prinz von Preußen“), den Oberbefehl hatte („Kartätschenprinz“). »
  • 6Vgl. Nr. 102. »
  • 7In Berlin. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 105, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0105

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