II. Abteilung, Band 1

Nr. 101

1890 Januar 15

Rede1 des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher zur Eröffnung der II. Session der 17. Legislaturperiode des preußischen Landtags

Druck, Teildruck

Nur unkonkrete Ausführungen zur Arbeiterpolitik

S[ein]e Majestät der Kaiser und König haben mir den Auftrag zu erteilen geruht, den Landtag der Monarchie zu begrüßen und auch an dieser Stelle allerhöchstseinem Dank für die mannigfachen Beweise der Ergebenheit und Treue Ausdruck zu geben, welche S[eine]r Majestät und Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin in verschiedenen Provinzen neuerdings entgegengebracht sind.

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Das erfreuliche Bild, welches der Aufschwung des Handels und der Gewerbtätigkeit im Lauf des letzten Jahrs dargeboten hat, ist getrübt worden durch die Arbeiterausstände, welche namentlich in den Steinkohlenbezirken in großem Umfang unter Nichtinnehaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist und teilweise nicht ohne Gewalttätigkeiten stattgefunden haben.

Es hat Se[ine] Majestät den Kaiser und König mit Befriedigung erfüllt, daß die Arbeitgeber, vielfach mit Zurückstellung eigener Interessen, bestrebt gewesen sind, begründeten Beschwerden der Bergarbeiter Abhilfe zu schaffen und selbst weitgehenden Forderungen derselben entgegenzukommen. Seine Majestät halten sich danach zu der Erwartung berechtigt, daß fernere Versuche zur Störung der Eintracht zwischen den Grubenbesitzern und den Bergarbeitern an dem gesunden Sinn der Bevölkerung scheitern und daß die für die gesamte Arbeiterschaft nicht minder wie für den Bestand der Industrie gefährlichen Unterbrechungen wirtschaftlicher Tätigkeit fortan unterbleiben werden. Die Regierung, welche eine eingehende Untersuchung der von den Bergarbeitern erhobenen Beschwerden und Forderungen hat vornehmen lassen,2 wendet dieser Frage unausgesetzt ihre Aufmerksamkeit zu. Andererseits hat sie Vorsorge getroffen, daß jeder Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung sofort mit Erfolg entgegengetreten werde. Ihrer Fürsorge für die Wohlfahrt der arbeitenden Klassen hat sie durch die Mitwirkung an der Gesetzgebung des Reichs über die Versicherung der Arbeiter gegen die Folgen von Krankheit, Unfall und Invalidität Ausdruck gegeben, und sie wird auch ferner nicht ablassen, weiter hervortretende Bedürfnisse sorgfältig zu beachten und deren Befriedigung anzustreben. Jene Fürsorge in Verbindung mit der eingetretenen Steigerung der Löhne bietet eine Gewähr dafür, daß das Bewußtsein einer mehr gesicherten Lage die Arbeiter in wachsendem Umfang durchdringen werde.

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Registerinformationen

Personen

  • Baron, Dr. Julius (1834–1898) , Professor der Rechte in Bonn
  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Eulenburg und Hertefeld, Dr. Philipp Graf zu (1847–1921), , preußischer Gesandter in Oldenburg, Braunschweig, Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe
  • Kayser, Dr. Paul (1845–1898) , Geheimer Legationsrat im Auswärtigen Amt

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Arbeitervertretung, Ältestenkollegien
  • Arbeitgeber
  • Beamte
  • Bergarbeiterstreik
  • Handel, siehe auch Freihandel
  • Innenminister, preußischer
  • Kohlen
  • Kontraktbruch
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kündigung des Arbeitsverhältnisses
  • Lohn
  • Reichsregierung
  • Streik
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • 1Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 30. Dezember 1889 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten, S. 1─3, hier S. 2─3.Erster Entwurf in Reinschrift mit Abänderungen und Randbemerkungen Bismarcks: GStA Berlin I. HA Rep. 90 a (M) VIII 2 b Nr. 6 Bd. 5, fol. 12─16; zweiter Entwurf von der Hand v. Boettichers: fol. 30─36; vgl. Nr. 95 Anm. 2.Theodor Lohmann berichtete zur Entstehung dieser Thronrede im Rückblick: Am 6. Jan(uar), dem Geburtstag des Ministers v. Boetticher, ließ mich dieser rufen und teilte mir mit, er habe tags zuvor dem Kaiser über die ziemlich) inhaltsarme Thronrede zur Eröffnung des Pr(eußischen) Landtags Vortr(ag) gehalten und daran d(ie) Frage geknüpft, ob S(ein)e M(ajestät) den Landtag in Person eröffnen wolle. Diese Frage habe Se. M. bejaht, aber nur unter der Voraussetzung, daß in der Thronrede noch eine Stelle aufgenommen würde, durch welche ein entschiedenes Vorgehen auf dem Gebiet der Arbeiterschutzgesetzgebung angekündigt werde. Der Minister habe dem König hierauf d(ie) Stellung des Fürsten Bism(arck) zu dieser Frage und die Gründe derselben dargelegt u. versucht, ihn von s(einem) Vorhaben abzubringen. Der K(aiser) sei indessen bei s(einer) Erklärung geblieben und der M(inister) habe den Auftrag erhalten, mit dem Fürsten über d(ie) Sache zu reden. Er wolle nun versuchen, den Fürsten zu bewegen, daß er sich mit der Einschiebung einiger Sätze in die Thronrede einverstanden erkläre, welche unter Hervorhebung dessen, was bereits für die Arbeiter geschehen sei, den Willen des K(önigs) u. K(aisers) kundtun, den hervortretenden weitr(eichenden) Bedürfnissen auch ferner Rechnung zu tragen. Diese Sätze zu entwerfen wurde ich beauftragt mit dem Bemerken, daß der Minister, welcher folgendentags nach Friedrichsruh reisen wollte, den Entwurf bis 3 Uhr haben müsse. (N[ota] b[ene]. es war etwa 2 Uhr). Ich fertigte sofort den Entwurf an u. ließ ihn durch U(nter)st(aats)sekr(etär) Bosse, welcher b(ei) d(er) Rücksp(rache) zugegen war, vorlegen. Der Minister kehrte am nächstfolgenden Tage von Fr(iedrichs)r(uh) zurück, u. zw(ar), wie mir H(er)r Bosse nachher mitteilte, unverrichteter Sache. Der M(inister) hatte m(einen) Entw(urf) pure angenommen. Der Fürst hatte aber auf d(en) Vortr(ag) des M(inisters) erklärt, auf diese Sache ließe er sich überhaupt nicht ein. Die Thronrede enthielt dann auch statt der v(on) mir entworfenen Sätze nur eine Wendung, welche in keiner Weise verbindlich war (Theodor Lohmann, Aus den ersten Monaten des Jahres 1890; BArch N 2179 [Lohmann] Nr. 3, fol. 104─104 Rs.; vgl. Hans Rothfels, Zur Geschichte der Bismarckschen Innenpolitik, in: Archiv für Politik und Geschichte 4 [1926], S. 305 f.). »
  • 2Gemeint ist eine aufgrund eines gemeinsamen Erlasses der Minister der öffentlichen Arbeiten und des Innern vom 25.5.1889 durchgeführte Untersuchung über die Ursachen des Bergarbeiterstreiks. Vgl. Nr. 92 Anm. 1. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 101, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0101

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