II. Abteilung, Band 1

Nr. 82

1888 [Juli]

Aufzeichnungen1 des Geheimen Oberregierungsrats im Reichsamt des Innern Theodor Lohmann

Niederschrift

Plädoyer für eine organisatorische Zusammenfassung aller Zweige der gesetzlichen Sozialversicherung; die Berufsgenossenschaften sind eine konzeptionelle Fehlkonstruktion

Je mehr sich die Kreise erweitern, welche sich mit dem Ges[etz]entw[urf] betr[effend] d[ie] Alters- [und] Inv[aliden]versicher[un]g beschäftigen,2 desto zahlreicher und dringender werden die Stimmen, welche von einer Durchführ[ung] dieser Versicher[un]g auf der in dem G[esetz]e[ntwurf] angenommenen Grundlage abraten und einen Aufbau des gesamt[en] Arbeitervers[icherungs]wesens auf der Grundlage der Krankenversicher[un]g d[as] Wort reden. Keinem Unbefangenen will es einleuchten, daß wir einen und d[en]selben Zweck, nämlich den Schutz des Arbeiters gegen die Folgen der Erwerbsunfähigkeit ledigl[ich] um der versch[iedenen] Veranlassung willen, auf welcher d[er] letztere beruht, durch drei verschiedene, gänzl[ich] v[on]einander unabhängige gr[oße] Organisationen erreichen sollen. Daß man ein solches Vorgehen überhaupt ins Auge gefaßt hat, ist auch nur aus dem verhängnisvollen Fehler zu erklären, daß man die Durchführung der Zwangsversicherung zuerst für d[as] Gebiet der Unfallversicherung versuchte.3 Der erste zu dem Ende vorgelegte Gesetzentwurf konnte mit einer allgem[einen] Krankenversicherung noch nicht rechnen und mußte deshalb eine selbst[ändige] Unfallversicherungsorganisation zu begründen suchen. Bei der Beratung dieses Entwurfs stellte sich heraus, daß die Unfallversicherung ohne eine allgem[eine] Krankenversicher[un]g nicht durchführbar sei. Statt aber nun, wie es naturgemäß gewesen wäre, zunächst die Kr[anken]vers[icherung] gesetzl[ich] zu regeln und bis zu der Durchführung d[ie] Unfallversicher[un]g auszusetzen, ließ man sich ─ anscheinend gefangengenommen durch den inmittelst in die öffentl[iche] Besprechung eingeführten Gedanken der genossenschaftl[ichen] Organisation ─ verleiten, sofort mit dem Krankenversicherungsgesetz,4 dessen Grundlinien durch das auf diesem Gebiet bereits bestehende gegeben war, einen zweiten Entwurf für d[ie] Unfallversicherung vorzulegen, welcher für diese eine besondere, diejenige der Krankenversicherung im wesentlichen ignorierende Organisation vorschlug. Und selbst als dieser Entwurf wieder verlassen werden mußte und dadurch die Krankenversicherung den ihr naturgemäß zukommenden Vortritt wiedererlangt hatte, hielt man im dritten Entwurf des Unfallvers[icherungs]gesetzes an der selbständigen Organisation fest und brachte mit ihm den Aufbau der s[o]g[enannten] Berufsgenossenschaften5

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zustande, und zwar in der ausgesprochenen Annahme, darin den geeigneten Träger aller weiteren Maßnahmen der Sozialreform zu gewinnen. Nur unter dieser Voraussetzung wurde eine Organisation v[on] d[en] verb[ündeten] Reg[ierungen] vorgeschlagen und v[om] R[eichs]t[ag] angenommen, von welcher man allseits bekannte, daß sie für den nächsten Zweck, die Unfallvers[icherung], viel zu umständlich und schwerfällig sei. Nur die Illusion, daß man eine für alle mögl[ichen] sozialpolitischen Ziele nutzbare Organisationsgrundlage schaffe, konnte über das Bedenken hinweghelfen, daß diese Organisation für ihren nächsten Zweck keineswegs vorzugsweise brauchbar sei. Es gehörte nur eine geringe Kenntnis von der Ausdehnung und Verteilung der versch[iedenen] Industriezweige dazu, um vorherzusehen, daß die berufsgenossenschaftl[iche] Organisation keineswegs die Folge haben werde, im wesentlichen diejenigen zu gemeinsamer Tragung der Unfallgefahr zu vereinigen, bei welchen diese Gefahr eine gleiche sei, daß man, abgesehen von einigen besonders ausgedehnten Industriezweigen, nicht einmal zu wirklichen Berufsvereinigungen kommen, vielmehr, um nur überhaupt zu leistungsfähigen Bildungen zu gelangen, genötigt sein werde, die verschiedenartigsten Industriezweige zu einer Genossensch[aft] zu vereinigen, und daß man zu wirklichen Genossenschaften, d. h. zu solchen Bildungen, in welchen sich aufgrund der gemeinsamen Interessen und der örtlich bedingten persönlichen Beziehungen ein kräftiges Genossenschaftsleben entfalten kann, überhaupt nicht kommen werde.

Als nun dieses schwerfällige Gebäude fertig war, trat man [an] die Aufgabe der Invalidenversicher[un]g mit dem selbstverständl[ich] erscheinenden Gedanken heran, daß für sie in den Berufsgenossenschaften die Träger bereits vorhanden seien,6 und obwohl man bald erkennen mußte, daß eine unmittelb[are] Verwendung der Berufsgenossenschaften für diesen Zweck unmöglich sei, wollte man doch begreiflicherweise nicht zugeben, daß man sich in den auf die Berufsgenossenschaften gesetzten Hoffnungen gründlich getäuscht habe, und so kam man zu dem Organisationsplan, wie er in den dem Volkswirtschaftsrat vorgelegten Grundzügen enthalten war.7 Vor der Ausführung dieser Organisation, welche an Künstlichkeit und Verwicklung ihresgleichen sucht, hat die Einsicht des Bundesrats das d[eutsche] Volk bewahrt.8 Sie scheint aber nicht ausgereicht zu haben, um zu erkennen, daß die Frage überhaupt noch nicht reif sei, sondern nunmehr unter gänzl[icher] Beseitigung des vorgelegten Entwurfs aufs neue gründlich geprüft und im Zusammenhang mit den bereits in Tätigkeit stehenden Zweigen der Arbeiterversicherung durchgearbeitet werden müsse. Schon der Umstand, daß mit der erkannten Unbrauchbarkeit der Berufsgenossenschaften für die Durchführung der weiteren soz[ial]pol[itischen] Maßregeln die Voraussetzungen für die dauernde Beibehaltung dieser für ihren ersten Zweck viel zu schwerfälligen Organisation hinweggefallen sei, mußte davor warnen, nun wiederum ohne Rücksicht auf d[ie] schon bestehende eine neue Organisation ins Leben zu rufen, und die Prüfung nahelegen, ob es denn nicht möglich, zu einer einheitl[ichen] Organisation des ganzen Versicherungswesens zu gelangen.

Oder ist für die Beschlußfassung des B[undes]r[ats] vielleicht die Rücksicht entscheidend gewesen, daß er nicht die Verantwortung für die Verzögerung einer Vorlage übernehmen will, welche schon seit Jahren als nahe bevorstehend und für diese [ Druckseite 337 ] Session mit Bestimmtheit angekündigt war? Diese Verantwortung mochte jedoch leichter zu tragen sein als diejenige, welche mit der übereilten Vorlegung eines noch nicht gereiften Planes verbunden ist, zumal sich dabei niemand mit dem Gedanken beruhigen darf, daß es sich ja doch nur um die erstmalige Einführung der Invalidenversicherung in die parlamentar[ische] Diskussion handle, an eine sofortige Annahme des Entwurfs durch d[en] Reichstag aber nicht zu denken sei. Die eigentüml[iche] Stellung der Fraktionen des Reichstags zueinander und zum Reichsk[anz]ler könnte diese Annahme sehr leicht zuschanden machen. Nach früheren Vorgängen könnten wir es erleben, daß ein Entwurf, mit welchem im Grunde niemand zufrieden ist, dennoch angenommen wird, weil jede der überhaupt in Betracht kommenden Parteien die andere an Arbeiterfreundlichkeit überbieten und keine sich der üblen Nachrede aussetzen will, durch ihren Widerspruch die „Krönung des Gebäudes“ wieder aufs ungewisse hinausgeschoben zu haben.

Allerdings sollte man meinen, daß auch die Parteien des Reichstags alle Ursache hätten, in dem gegenwärtigen Stadium der Sozialreform sich die Frage vorzulegen: ob auf dem bisherigen Weg weitergearbeitet werden könne. Nachdem die Erläuterungen zu den Grundzügen als einen wesentlichen Grund für das in diesen vorgeschlagene System die Notwendig[keit] betont haben, den Berufsgenossenschaften einen weiteren Inhalt zu geben, ist die Frage nicht zu umgehen, ob diese Organisation, deren Unfähigkeit, als Träger der weiteren soz[ial]pol[itischen] Maßregeln zu dienen, mit der Verwerfung des Organisationplans der Grundzüge anerkannt ist, auf die Dauer überhaupt beibehalten werden kann und ob es nicht an der Zeit sei, die ganze Arbeiterversicherung auf eine einheitliche und einfachere Grundlage zu stellen, bevor man weitere Schritte in derselben tut. Diese Frage ist um so dringender, als eine Änderung der Organisation des Unfallversicherungsg[esetzes] desto schwerer werden wird, je länger die Berufsgenossenschaften in Tätigkeit bleiben und mit jeden Jahren ihres Fortbestehens die Schuldenlast vermehren, welche infolge des s[o]g[enannten] Umlageverfahrens für jede derselben erwächst.

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Registerinformationen

Orte

  • Breslau
  • Frankfurt/M.
  • Freiburg i. Br.
  • Trier

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Hitze, Franz (1851–1921) , Priester, Generalsekretär des katholischen Unternehmerverbands „Arbeiterwohl“ in Mönchengladbach, MdPrAbgH, MdR (Zentrum)
  • Müller, Eduard (1841–1926) , Justizrat in Koblenz
  • Schorlemer-Alst, Dr. Burghard Freiherr von (1825–1895) , Rittergutsbesitzer auf Alst (Kreis Steinfurt), MdR (Zentrum)

Sachindex

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  • Volkswirtschaftsrat – preußischer
  • 1BArch N 2179 (Lohmann) Nr. 3, fol. 55─56 Rs. u. 64─64 Rs.Datierung durch die Bearbeiter. »
  • 2Entwurf vom 15.4.1888, vgl. Nr. 68 Bd. 6 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 3Zur Entstehung des Unfallversicherungsgesetzes vom 6.7.1884 vgl. Bd. 2 der I. Abteilung und Bd. 2, 1. Teil, der H. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 4Zur Entstehung des Krankenversicherungsgesetzes vom 15.6.1883 vgl. Bd. 5 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 5Zum Aufbau der Berufsgenossenschaften vgl. Bd. 2, 2. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 6Vgl. Nr. 37 Bd. 6 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 7Vgl. Nr. 58 Bd. 6 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 8Vgl. Nr. 74 Bd. 6 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 82, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0082

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