II. Abteilung, Band 1

Nr. 79

1888 März 12

Erlaß1 Kaiser Friedrich III.2 an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Eigenhändige Ausfertigung

Der neue Kaiser legt dem Reichskanzler anläßlich seines Regierungsantritts die Grundzüge seiner Politik dar

Bei dem Antritt Meiner Regierung ist es Mir ein Bedürfnis, Mich an Sie, den langjährigen, vielbewährten ersten Diener Meines in Gott ruhenden Herrn Vaters zu wenden. Sie sind der treue und mutvolle Ratgeber gewesen, der den Zielen seiner Politik die Form gegeben und deren erfolgreiche Durchführung gesichert hat.

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Ihnen bin Ich und bleibt Mein Haus zu warmem Dank verpflichtet.

Sie haben daher ein Recht, vor allem zu wissen, welches die Gesichtspunkte sind, die für die Haltung Meiner Regierung maßgebend sein sollen.

Die Verfassungs- und Rechtsordnungen des Reichs und Preußens müssen vor allem in der Ehrfurcht und in den Sitten der Nation sich befestigen. Es sind daher die Erschütterungen möglichst zu vermeiden, welche häufiger Wechsel der Staatseinrichtungen und Gesetze veranlaßt.

Die Förderung der Aufgaben der Reichsregierung muß die festen Grundlagen unberührt lassen, auf denen bisher der preußische Staat sicher geruht hat.

Im Reich sind die verfassungsmäßigen Rechte aller verbündeten Regierungen ebenso gewissenhaft zu achten wie die des Reichstags, aber von beiden ist eine gleiche Achtung der Rechte des Kaisers zu erheischen. Dabei ist im Auge zu behalten, daß diese gegenseitigen Rechte nur zur Hebung der öffentlichen Wohlfahrt dienen sollen, welche das oberste Gesetz bleibt, und daß neu hervortretenden, unzweifelhaften nationalen Bedürfnissen stets in vollem Maß Genüge geleistet werden muß.

Die notwendige und sicherste Bürgschaft für ungestörte Förderung dieser Aufgaben sehe Ich in der ungeschwächten Erhaltung der Wehrkraft des Landes, Meines erprobten Heeres und der aufblühenden Marine, der durch Gewinnung überseeischer Besitzungen3 ernste Pflichten erwachsen sind. Beide müssen jederzeit auf der Höhe der Ausbildung und der Vollendung der Organisation erhalten werden, welche deren Ruhm begründet hat und welche deren fernere Leistungsfähigkeit sichert.

Ich bin entschlossen, im Reich und in Preußen die Regierung in gewissenhafter Beobachtung der Bestimmungen von Reichs- und Landesverfassung zu führen. Dieselben sind von Meinen Vorfahren auf dem Thron in weiser Erkenntnis der unabweisbaren Bedürfnisse und zu lösenden schwierigen Aufgaben des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens begründet worden und müssen allseitig geachtet werden, um ihre Kraft und segensreiche Wirksamkeit betätigen zu können.

Ich will, daß der seit Jahrhunderten in Meinem Hause heiliggehaltene Grundsatz religiöser Duldung auch ferner allen Meinen Untertanen, welcher Religionsgemeinschaft und welchem Bekenntnis sie auch angehören, zum Schutz gereiche. Ein jeglicher unter ihnen steht Meinem Herzen gleich nahe ─ haben doch alle gleichmäßig in den Tagen der Gefahr ihre volle Hingebung bewährt.

Einig mit den Anschauungen Meines kaiserlichen Herrn Vaters, werde Ich warm alle Bestrebungen unterstützen, welche geeignet sind, das wirtschaftliche Gedeihen der verschiedenen Gesellschaftsklassen zu heben, widerstreitende Interessen derselben zu versöhnen und unvermeidliche Mißstände nach Kräften zu mildern, ohne doch die Erwartung hervorzurufen, als ob es möglich sei, durch Eingreifen des Staats allen Übeln der Gesellschaft ein Ende zu machen.

Mit den sozialen Fragen enge verbunden erachte Ich die der Erziehung der heranwachsenden Jugend zugewandte Pflege. Muß einerseits eine höhere Bildung immer weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden, so ist doch zu vermeiden, daß durch Halbbildung ernste Gefahren geschaffen, daß Lebensansprüche geweckt werden, denen die wirtschaftlichen Kräfte der Nation nicht genügen können, oder daß [ Druckseite 331 ] durch einseitige Erstrebung vermehrten Wissens die erziehliche Aufgabe unberücksichtigt bleibe.

Nur ein auf der gesunden Grundlage von Gottesfurcht in einfacher Sitte aufwachsendes Geschlecht wird hinreichende Widerstandskraft besitzen, die Gefahren zu überwinden, welche in einer Zeit rascher wirtschaftlicher Bewegung, durch die Beispiele hochgesteigerter Lebensführung einzelner, für die Gesamtheit erwachsen. Es ist Mein Wille, daß keine Gelegenheit versäumt werde, in dem öffentlichen Dienst dahin einzuwirken, daß der Versuchung zu unverhältnismäßigem Aufwand entgegengetreten werde.

Jedem Vorschlag finanzieller Reformen ist Meine vorurteilsfreie Erwägung im voraus gesichert, wenn nicht die in Preußen altbewährte Sparsamkeit die Auflegung neuer Lasten umgehen und eine Erleichterung bisheriger Anforderungen herbeiführen läßt.

Die größeren und kleineren Verbänden im Staat verliehene Selbstverwaltung halte Ich für ersprießlich. Dagegen stelle Ich es zur Prüfung, ob nicht das diesen Verbänden gewährte Recht der Steuerauflagen, welches von ihnen ohne hinreichende Rücksicht auf die gleichzeitig vom Reich und Staat ausgehende Belastung geübt wird, den einzelnen unverhältnismäßig beschweren kann.

In gleicher Weise wird zu erwägen sein, ob nicht in der Gliederung der Behörden eine vereinfachende Änderung zulässig erscheint, in welcher die Verminderung der Zahl der Angestellten eine Erhöhung ihrer Bezüge ermöglichen würde.

Gelingt es, die Grundlagen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens kräftig zu erhalten, so wird es Mir zu besonderer Genugtuung gereichen, die Blüte, welche deutsche Kunst und Wissenschaft in so reichem Maß zeigt, zu voller Entfaltung zu bringen.

Zur Verwirklichung dieser Meiner Absichten rechne Ich auf Ihre so oft bewiesene Hingebung und auf die Unterstützung Ihrer bewährten Erfahrung.

Möge es Mir beschieden sein, dergestalt unter einmütigem Zusammenwirken der Reichsorgane, der hingebenden Tätigkeit der Volksvertretung, wie aller Behörden, und durch vertrauensvolle Mitarbeit sämtlicher Klassen der Bevölkerung Deutschland und Preußen zu neuen Ehren in friedlicher Entwicklung zu führen!

Unbekümmert um den Glanz ruhmbringender Großtaten, werde Ich zufrieden sein, wenn dereinst von Meiner Regierung gesagt werden kann, sie sei Meinem Volk wohltätig, Meinem Land nützlich und dem Reich ein Segen gewesen!

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Registerinformationen

Regionen

  • Preußen

Personen

  • Bode, Dr. Wilhelm (1862–1922) , Schriftsteller und Redakteur in Dresden, , Herausgeber des „Volkswohls“
  • Böhmert, Dr. Viktor (1829–1918) , Direktor des sächsischen Statistischen Büros und Professor am Polytechnikum in Dresden, Herausgeber des „Volks>wohls“

Sachindex

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  • 1BArch R 43 Nr. 1476, fol. 62─64 Rs.Dieser Erlaß und ein Aufruf „An mein Volk“ waren bereits 1885 (in mehreren Bearbeitungsschritten) von engen Ratgebern des Kronprinzen verfaßt worden. Beteiligt waren Albrecht v. Stosch, Prof. Dr. Heinrich Geffcken, Franz Freiherr v. Roggenbach, Dr. Heinrich Friedberg und Ernst Freiherr v. Stockmar. Franz v. Roggenbach übergab den Entwurf dem Kronprinzen im August 1885 bei einem Besuch auf der Bodenseeinsel Mainau (vgl. Julius Heyderhoff [Bearb.], Im Ring der Gegner Bismarcks. Denkschriften und politischer Briefwechsel Franz v. Roggenbachs mit Kaiserin Augusta und Albrecht v. Stosch 1865─ 1896, Leipzig 1943, S. 229─232). Der Erlaß wurde zusammen mit dem Aufruf „An mein Volk“ noch am Abend des 12.3.1888 im Reichsanzeiger veröffentlicht (Nr. 71). »
  • 2Nach dem Ableben Wilhelm I. am 9.3.1888 folgte ihm sein Sohn Friedrich Wilhelm als Friedrich III. als Deutscher Kaiser und König von Preußen. »
  • 3Seit 1884 waren dies Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Ostafrika, Neuguinea, die Salomonen und die Marshallinseln. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 79, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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