II. Abteilung, Band 1

Nr. 72

1887 Juni 19

Brief1 des Hannoveraner Professors für Gewerbliche Gesundheitslehre Dr. Julius Post an den Straßburger Professor für Nationalökonomie Dr. Lujo Brentano2

Ausfertigung

Positiver Bericht über betriebliche Sozialpolitik einzelner Unternehmer

Vielleicht hat niemand Ihren in den letzten Wochen in der „Nat[ional]z[ei]t[un]g“ erschienenen Artikel über „Fabrikfeudalismus und Fabrikantenadel“3 mit so großem Interesse gelesen wie ich. Seit etwa 5 Jahren habe ich nämlich mit Unterstützung des Kultusministers in jedem Herbst eine größere Reise gemacht, um Wohlfahrtseinrichtungen in Fabriken kennenzulernen. Ich hoffe in diesem Herbst mit dem Besuch des Königreichs Sachsen, der Provinz Schlesien und Öst[er]reichs einen vorläufigen Abschluß zu gewinnen. In England war ich bislang noch nicht, und zwar weil hervorragende, mir befreundete Kenner der dortigen Einrichtungen meinten, daselbst nichts im Vergleich zur übrigen industriellen Welt auf diesem Gebiet origineller gefunden zu haben.

Daher kenne ich auch die in Ihren Aufsätzen erwähnten Männer und Anstalten nicht aus eigener Anschauung und würde Ihnen für gef[ällige] nähere Angabe dankbar sein. Ich bin übrigens nach dem, was ich davon weiß, geneigt, die Möglichkeit einer Übertragung auf unsere Verhältnisse zu bezweifeln. Jedenfalls ─ und das meinte ich Ihnen aussprechen zu sollen ─ habe ich hier, in Frankreich, Holland, Belgien und der Schweiz keinen einzigen „captain of industry“ nach Ihrem bzw. Carlyles4 Muster zu finden vermocht, dahingegen Arbeitgeber von einer Tiefe echten Wohlwollens, wie ich sie nicht erwartet, aber stets ─ und darum gehören dieselben nicht zum Fabrikantenadel in Ihrem Sinn ─ geht bei denselben neben der prächtigsten Gesinnung für ihre Leute der Wunsch, ja das Streben her, die letzteren möglichst nutzbar für das Geschäft zu machen, ja an dasselbe zu fesseln.

So schön und erhaben die Idee „frei von allen Hintergedanken“ ist, man kann meiner Erfahrung nach auf eine Ausbreitung dieses Platonismus hierzulande nicht rechnen, braucht es aber meiner Ansicht nach auch nicht. Das erstere, weil tatsächlich sehr viele Arbeitgeber, ich glaube die meisten, gezwungen sind, geschäftlich zu rechnen. Daß ich das allerschönste Verhältnis gerade in derartigen Fabriken gefunden, möchte ich als Beleg für meine zweite Behauptung anführen. Es gibt so sehr viele Dinge, mit denen der Arbeitgeber ohne erhebliche Kosten die Arbeiter im allerbesten [ Druckseite 298 ] (nicht in Disraelis5) Sinn zufrieden und wirklich glücklich machen kann und gemacht hat.

Sind Ihnen ─ um nur eins herauszugreifen ─ vielleicht die Veranstaltungen bekannt, welche namentlich solche Arbeitgeber getroffen haben, die sich junge weibliche Arbeitskräfte für eine längere Reihe von Jahren (4─5) sichern wollen? Sie nehmen zu diesem Zweck die Mädchen ganz in Pension und gewinnen sie bzw. die Eltern dadurch für den Abschluß eines fesselnden Kontrakts, daß sie nach Ablauf desselben einen Betrag auszahlen, der zur Beschaffung einer guten Aussteuer hinreicht. So dargestellt klingt das Verfahren wie ein Akt lautersten Feudalismus. Würden Sie jedoch die Einrichtungen z. B. von Rittmeyer & Co. in Brüggen b[ei] St. Gallen (Sittertal)6 oder von Richter-Linder b[ei] Basel7 einmal besuchen, so geben Sie mir gewiß darin recht, daß hier ein warmer, die Mädchen nach jeder Richtung hin schützender und fördernder „Patronismus“ herrsche. Diesen möchte ich zwischen Ihren „Feudalismus“ und „Adel“ in die Mitte stellen, von ihm erwarte ich die Zukunft.

Den „Feudalismus“, von dem auch ich schöne Geschichten erfahren habe, sehe ich nicht überall und immer so verächtlich an wie Sie, weil ich öfter erlebte, daß aus ihm sich echter „Patronismus“ entwickelte. In den obengenannten Fabriken hat sich anscheinend ein solcher Vorgang vollzogen. Das interessanteste Beispiel für meine Behauptung ist mir aber immer der Leiter8 der bekannten Marienhütte b[ei] Kotzenau gewesen. Der Mann hatte wirklich ganz Vorzügliches auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege geleistet.9 Als ihm (in der Gründerperiode) von seinen Beamten mitgeteilt wurde, die Arbeiter bereiteten einen Strike vor, wies er eine solche Möglichkeit kurz ab: die Arbeiter wüßten zu gut, was er für sie getan, wie er für sie sorge. Der Strike kam aber doch, und wiewohl der Fabrikherr siegte, die schmerzliche Erfahrung warf ihn auf das Krankenbett. In den Genesungswochen besuchte ihn Geh[eimer Regierungs]rat Lohmann aus Berlin (welchem ich die Geschichte verdanke).10 Diesem erzählte der Mann, daß er sich Tag und Nacht mit der Frage geplagt, [ Druckseite 299 ] wie trotz seiner weitgehenden Fürsorge eine Trübung des bis dahin so schönen Verhältnisses möglich gewesen sei. Und er meinte, nun den Grund gefunden zu haben, er hätte wohl alles für die Arbeiter, aber nicht durch sie gemacht,11 nicht genug den Menschen, die Persönlichkeit in ihnen gewürdigt. Aus dieser Erfahrung ist dann der parlamentarische Arbeiterausschuß12 herausgewachsen, welcher sich immer weiter ausbreitete und an welchen ich große Hoffnungen knüpfe. Nämlich deshalb, weil ich mir davon die Beseitigung der größten Schwierigkeit verspreche, welche der Herstellung eines guten beiderseitigen Einvernehmens und der Zufriedenheit der Arbeiter entgegensteht: der Schwierigkeit, sie in ihrem Denken und Empfinden, in ihren Wünschen und Neigungen zu verstehen.

Verzeihen Sie, sehr geehrter Herr Kollege, wenn ich mir etwas darauf zugute tue, daß ich mancherlei Praktisches ins Leben gerufen und mehrere Jahre ─ es ist freilich schon lange her ─ Landwirt gewesen bin, dabei mit den Arbeitern den ganzen Tag über zugebracht und ihre Art kennengelernt habe. Danach behaupte ich, der Fehler besteht nicht darin, daß wir sie zuwenig wie unseresgleichen ansehen und behandeln, sondern zuviel. Die eigentliche Kunst des Wohlfahrters ist die der Anbringung. Der sprichwörtliche Undank der Arbeiter, der so manchen Arbeitgeber zurückschreckt, ist meist der Ausdruck dafür, daß dieser es verkehrt angefangen.

Schließlich bitte ich noch eine Lanze für die Fabrikinspektoren bei Ihnen einlegen zu dürfen. Auch der deutsche Inspektor tritt vielfach als Anwalt der Arbeiter auf. Der tüchtigste von den mir bekannten, Dr. Wolff13 in Düsseldorf, hat sprechende Beweise dafür in der Hand ─ ich habe sie selbst gesehen; er hat seine Beziehungen zu den Arbeitgebern vollständig dafür preisgegeben, wie ich glaube nicht mit Recht, denn zu vermitteln vermag er nicht mehr. Das Amt erfordert zu vielerlei Fähigkeiten in einer Person.

Aber ich habe Ihre Geduld vielleicht schon zu lange in Anspruch genommen und muß vor allem, was eigentlich zu Anfang hätte geschehen sollen, die Entschuldigung des berufenen Forschers für den laienhaften Praktiker in diesen Dingen in Anspruch nehmen. Jedoch besäße ich keine andere Legitimation als mein Interesse für die Sache ─ es würde nach Andeutungen, die mir gelegentlich mein Freund A[ugust] Lammers 14 machte, Ihnen gegenüber genügen.

Ich erlaube mir, den Bericht meiner ersten, 1883 unternommenen Reise beizulegen,15 darf denselben wohl, da ich nur wenige Exemplare besitze, gelegentlich zurückerbitten. Die späteren (reiferen) Berichte sind auf meinen Wunsch nicht gedruckt worden, ich bin dabei, das Material zu verarbeiten.16

[ Druckseite 300 ]

Registerinformationen

Orte

  • Basel
  • Berlin
  • Breslau
  • Düsseldorf
  • Kotzenau (Kreis Lüben)
  • St. Gallen

Personen

  • Disraeli, Benjamin, Earl of Beaconsfield , (1804–1881), britischer Staatsmann
  • Frief, Alfred (1836–1893) , Fabrikinspektor in Breslau
  • Josef II. (1741–1790) , österreichischer Kaiser
  • Lammers, August (1831–1892) , Redakteur in Bremen
  • Linder, Johann Jakob (1747–1821) , Bandfabrikbesitzer in Basel
  • Linder, Johannes (1770–1831) , Bandfabrikbesitzer in Basel
  • Lohmann, Theodor (1831–1905) , Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Richter-Linder, Johann Jakob (1789–1874) , Bandfabrikbesitzer in Basel
  • Schlittgen, Johann Friedrich (1842–1908) , Direktor der Marienhütte in Kotzenau (Kreis Lüben)
  • Wolff, Dr. Gustav (1842–1914) , Chemiker, Fabrikinspektor in Düsseldorf
  • Wyneken, Dr. Ernst (1840–1905) , ev. Pastor in Edesheim/Leinetal (Kreis Northeim)

Firmen

  • Marienhütte, Kotzenau (Kreis Lüben) (Chocianów)
  • Richter-Linder, Bandfabrik in Basel
  • Rittmeyer & Co., mechanische Stickerei in Brüggen (Schweiz)

Sachindex

  • Arbeitervertretung, Ältestenkollegien
  • Armenpflege
  • Fabrik
  • Fabrikinspektoren
  • Frauenarbeit
  • Bundes-Gesetz, betreffend die Arbeit in den Fabriken (23.3.1877)
  • Großgrundbesitz
  • Jugendliche Arbeiter
  • Maschinen
  • Presse
  • Presse – Deutsche Metallarbeiter-Zeitung
  • Reichsregierung
  • Steuern
  • Streik
  • 1BArch N 1001 (Brentano) Nr. 49, fol. 70─72 Rs. »
  • 2Dr. Ludwig Josef (Lujo) Brentano (1844─1931), seit 1882 Professor für Nationalökonomie in Straßburg. »
  • 3Lujo Brentano, Fabrikfeudalität und Fabrikantenadel, in: National-Zeitung Nr. 306 vom 1.6.1887, Nr. 308 vom 2.6.1887 u. Nr. 316 vom 7.6.1887. »
  • 4Thomas Carlyle (1795─1881), englischer Kulturphilosoph. Brentano erwähnte im ersten Teil seiner Artikelfolge dessen Schriften Chartism, London 1838, und Past and Present, London 1843, in letzterem ist ein Kapitel den Führern der Industrie gewidmet (IV, 4). »
  • 5Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield (1804─1881), konservativer britischer Staatsmann und Schriftsteller, 1868 und 1874─1880 englischer Premierminister. »
  • 6Vgl. Jul. Post, Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen. Band I: Die Kinder und jugendlichen Arbeiter, Berlin 1889, S. 190─195. »
  • 7Die 1785 von Johann Jakob Linder gegründete Baseler Bandfabrik wurde von dessen Sohn Johannes Linder und dessen Schwiegersohn Johann Jakob Richter-Linder ausgebaut. Die 1853 gegründete „Richter-Linder’sche Anstalt“ gilt als die erste industrielle Armenerziehungsanstalt der Schweiz. 200 Mädchen arbeiteten dort für Kost und Logis, eine Lohnzahlung erfolgte erst nachträglich nach Ablauf eines Vierjahresvertrags. Da die Anstalt nicht als Fabrik galt, fanden die Kinder- und Jugendarbeitsschutzbestimmungen der schweizerischen Fabrikgesetzgebung keine Anwendung; vgl. Jul. Post, Musterstätten, Bd. I, S. 195─199. »
  • 8Johann Friedrich Schlittgen (1842─1908), seit 1867 Direktor der Marienhütte in Kotzenau (Kreis Lüben). »
  • 9Vgl. Erläuterungen zu den Wohlfahrts-Einrichtungen für das Arbeiter-Personal des Eisenhüttenwerk Marienhütte bei Kotzenau Actien-Gesellschaft, Kotzenau 1889. »
  • 10Lohmann hatte im Juni 1874 anläßlich der Amtseinführung des neuen Fabrikinspektors für Schlesien, Alfred Frief, Breslau besucht und danach zusammen mit Frief einige Fabriken besichtigt, u. a auch die Marienhütte (vgl. Nr. 68 Anm. 3 Bd. 3 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). Daraus entstand eine langjährige Freundschaft mit Schlittgen, den Lohmann auch im März 1880 und im September 1881 besuchte (vgl. Lohmanns Familienbrief vom 19.3.1880 [BArch N 2179 Nr. 49, fol. 74 Rs.] und einen Brief an Dr. Ernst Wyneken vom 18.9.1881 [BArch N 2179 Nr. 2, fol. 135]), siehe Lothar Machtan, Mut zur Moral, Bremen 1995, Nr. 365 und 387. »
  • 11Anspielung auf die Regierungsmaxime des aufgeklärt-absolutistischen Kaisers Josef II.: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk“. »
  • 12Dieses „Ältestenkollegium“ war im Jahr 1875 eingerichtet worden; vgl. Nr. 43 Anm. 42. »
  • 13Dr. Gustav Wolff (1842─1914), Chemiker, seit 1876 Fabrikinspektor in Düsseldorf. »
  • 14August Lammers (1831─1892), Redakteur in Bremen. »
  • 15Vgl. Nr. 43. »
  • 16Vgl. Jul. Post, Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen. Band I. Die Kinder und jugendlichen Arbeiter, Berlin 1889; Jul. Post/ H. Albrecht, Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen. Band II: Die erwachsenen Arbeiter, Berlin 1893. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 72, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0072

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