II. Abteilung, Band 1

Nr. 63

1885 Juni 12

Schreiben1 des Chefs der Reichskanzlei Dr. Franz Rottenburg an den Adjutanten des Kronprinzen Oberst Gustav von Sommerfeld2

Entwurf

Die Bestrebungen des Bielefelder Vereins „Arbeiterheim“ sollen nicht unterstützt werden; nicht Privatinitiative, sondern nur der Staat kann die soziale Frage lösen

Ihr gütiges Schreiben vom 11. d. M. habe ich mit verbindlichstem Dank erhalten.3

Das Einverständnis des Herrn Reichskanzlers mit den „Zielen“ des Herrn von Bodelschwingh ist ein eng begrenztes. Dasselbe läuft darauf hinaus, daß Seine Durchlaucht die Bestrebungen des genannten Herrn, die Lage unserer arbeitenden Bevölkerung zu verbessern, billigt. Aus dem Schreiben, das ich im Auftrag seiner Durchlaucht s. Z. an Herrn von Bodelschwingh gerichtet habe,4 ergibt sich aber in zweifelloser Weise, daß der Fürst Bismarck den von dem Verein „Arbeiterheim“ eingeschlagenen Weg für bedenklich erachtet, weil derselbe dem Arbeitgeber den Bezug anderer als der bei seiner Fabrik seßhaften Arbeiter unmöglich macht, und ihn dadurch in ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis zu letzteren bringt.

Meines ergebensten Dafürhaltens würde also eine Erklärung, wie sie Herr von Bodelschwingh wünscht, von den Auffassungen Seiner Durchlaucht sehr erheblich divergieren.

Da Sie die Güte haben, auch meine persönliche Auffassung zur Sache hören zu wollen, so darf ich mir die ergebenste Bemerkung erlauben, daß das Epitheton, welches [ Druckseite 269 ] Herr von Bodelschwingh seinem Projekt vindiziert, mir doch nicht ganz zutreffend zu sein scheint. Einen „sehr kräftigen Beitrag zur Lösung der sozialen Frage“ wird eine individuelle Kraft oder auch eine Verbindung mehrerer individueller Kräfte wohl kaum jemals zu leisten imstande sein. Die Ausgleichung der sich gegenseitig durchkreuzenden Interessen der verschiedenen Gesellschaftsklassen kann nur durch das Eingreifen einer über den wechselnden und streitenden Interessen der Gesellschaft stehenden Macht bewirkt werden, und diese Macht kann nur das Königtum sein. Der Glaube an die Harmonie der Interessen5, wie die französische Phrase lautet, an die Möglichkeit einer Lösung der sozialen Frage in der Weise, daß der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sich davon überzeugen, daß ihr beiderseitiges Wohl und Wehe sich gegenseitig bedingen ─ dieser Glaube hat in der Geschichte bankrott gemacht. Gewiß kann der einzelne viel Gutes tun, aber die soziale Frage lösen kann nur der Staat.

Zu weiteren Besprechungen stehe ich ergebenst zu Diensten.

Registerinformationen

Personen

  • Planer, Dr. Alfons (1854– um 1907) , Redakteur der „Augsburger Postzeitung“

Sachindex

  • Antisemitismus
  • Arbeitgeber
  • Christentum
  • Juden
  • Liberalismus, siehe auch Parteien
  • Maschinen
  • Parteien
  • Parteien – Zentrum
  • Presse
  • Presse – Augsburger Postzeitung
  • Soziale Frage
  • Sozialreform
  • 1Entwurf von der Hand Rottenburgs: BArch R 43 Nr. 429, fol. 144─145. »
  • 2Gustav von Sommerfeld (1837─1905), Oberst, seit 1883 Adjutant des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. »
  • 3Dieses Schreiben lautete: Euer Hochwohlgeboren beehre ich mich ganz ergebenst mitzuteilen, daß der Pastor von Bodelschwingh zu Bielefeld die Bitte an Seine Kaiserliche Hoheit den Kronprinzen gerichtet hat, die Zwecke des Vereins „Arbeiterheim“ durch ein an den Vorstand resp. Herrn von Bodelschwingh selbst zu adressierendes „anerkennendes Wort“ zu unterstützen und diesem letzteren etwa folgende Fassung zu geben: „Ich begrüße dieses Unternehmen mit h(och) g(eneigter) Freude u. bin überzeugt, daß nicht allein auf diesem Weg ein sehr kräftiger Beitrag zur Lösung der sozialen Frage gegeben wird, sondern auch eine Pflicht der Gerechtigkeit u. Barmherzigkeit gegen die arbeitenden Klassen erfüllt werde.“ Bei Begründung dieses Anliegens führt Pastor v. Bodelschwingh an, „daß der Herr Reichskanzler mit unseren Zielen vollkommen einverstanden“. Ich bitte Sie, mir gütigst vertraulich mitzuteilen, ob diese Angabe zutrifft und ob Sie Ihrer persönlichen Auffassung nach irgendwelches Bedenken gegen die Erfüllung des B(odelschwingh)schen Gesuches aufgrund der von Ihnen geführten Verhandlungen geltend machen zu müssen glauben. Ich bemerke hierbei, daß S(eine) k(aiserliche) H(o)h(eit) der Kronprinz geneigt ist, dem gen(annten) Wunsch in irgendeiner Form Rechnung zu tragen (Ausfertigung von der Hand Gustav v. Sommerfelds: BArch R 43 Nr. 429, fol. 142─143 Rs.). »
  • 4Vgl. Nr. 62. »
  • 5Gemeint ist wohl die Lehre des Amerikaners Henry Charles Carey (1793─1879) von der „vollkommenen Harmonie der reellen und wahren Interessen der verschiedenen Klassen der Menschheit“ (Lehrbuch der Volkswirtschaft und Sozialwissenschaft, München 1866, S. 528), die der Franzose Frédéric Bastiat (1801─1850) in seinem Hauptwerk „Les harmonies économiques“ (1850) popularisierte und gegen Schutzzoll, Sozialismus und weitere Staatsintervention zuspitzte; dieser folgten die Liberalen in Deutschland. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 63, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0063

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.