II. Abteilung, Band 1

Nr. 57

1884 November 7

Der Gewerkverein Nr. 45 Das Fiasko der modernen Sozialgesetzgebung

Druck

Die Sozialpolitik der Regierung fördert den Aufstieg der Sozialdemokratie

Die Wahlen zum Reichstag am 28. Oktober haben eine empfindliche Niederlage des modernen Staatssozialismus ergeben. Durch denselben sollten bekanntlich die Sozialdemokraten bezwungen werden, und das gerade Gegenteil ist, wie jeder Kundige vorhersah, eingetreten. Die hervortretendste Erscheinung aus der Wahlschlacht ist nämlich das enorme Anwachsen der Sozialdemokratie.1 „Er hat nicht uns, sondern wir haben ihn“, bemerkte Liebknecht treffend im Reichstag dem Fürsten Bismarck gegenüber.2

Die Wurzeln der modernen Sozialgesetzgebung sind noch sehr jung, so daß man ihr Wachstum noch ganz deutlich vor sich hat. Vor 1878 dachte noch kein Mensch an die Möglichkeit, daß die Gesetzgebung des Deutschen Reichs einen staatssozialistischen [ Druckseite 254 ] Charakter annehmen könne. Die Motive des ersten Sozialistengesetzentwurfs sprechen sich noch mit dürren Worten für Selbstverantwortlichkeit und Individualismus aus.3 Damals erzeugte der Schrecken, den die beiden Attentate auf den Kaiser hervorriefen, den lauten Ruf nach positiver Tätigkeit zur Lösung der Wirrnisse auf sozialem Gebiet. Damals reifte in dem Reichskanzler der Entschluß, diese Lösung auf antiliberale Weise zu versuchen. So entstand das System aus zwei Hälften, nämlich der im Sozialistengesetz enthaltenen polizeilichen Repression der Sozialdemokratie und der in der Unfall- und Krankenversicherung enthaltenen und in der Alters- und Invaliditätsversicherung in Aussicht gestellten „Erfüllung des berechtigten Kerns der sozialdemokratischen Forderungen“4. Den Agitatoren und Hochverrätern sollte das Handwerk gelegt, die Organisationen sollten verhindert werden, und gleichzeitig sollten die „Verführten“, die Arbeiter, durch die sichtbarliche Fürsorge des Staats für sie zu wohlzufriedenen Staatsbürgern und ergebenen Anhängern der Staatsleitung gemacht werden.

Die Ereignisse sprechen diesen Erwartungen Hohn. Noch vor wenigen Tagen pochte man auf die Abnahme der sozialdemokratischen Stimmen bei der Wahl von 1881. Jetzt zeigt sich eine Zunahme, vor der auch die begeistertsten Verehrer der Sozialpolitik verstummen. Aus dem ganzen Reich rechnet man auf 700 000 sozialdemokratische Stimmen; also nicht weniger als 5 Millionen Menschen5 sind einer politischen Richtung verfallen, von deren Staatsgefährlichkeit gerade die Regierung und ihre Anhänger am lautesten Lärm schlagen, und gegen welche sie ohne das Sozialistengesetz und den kleinen Belagerungszustand6 nicht auskommen zu können erklären.

Eines steht fest: Die Sozialgesetzgebung hat nicht erfüllt, was man sich von ihr versprochen hatte. Das Sozialistengesetz hat den ausgesprochenen Zweck, die Verbreitung sozialdemokratischer Lehren zu verhindern; statt dessen sehen wir die Stimmenzahl der Sozialdemokraten eine früher ungekannte Höhe erreichen. Die Sozialpolitik hat den nicht minder ausgesprochenen Zweck, den „berechtigten Kern der sozialdemokratischen Lehren“ herauszuschälen, zu verwerten und damit die Agitatoren lahmzulegen. Statt dessen verfallen alle großen Städte den Agitatoren [ Druckseite 255 ] mehr als je zuvor. Der kleine Belagerungszustand sollte die Organisation der Partei jedesmal im Keim zerstören; statt dessen ist dieselbe überall gut organisiert und noch dazu im Verborgenen; ihre Schlagfertigkeit wächst in drei Jahren in staunenswertem Maß. Die Sozialgesetzgebung sollte die Arbeiter zu zufriedenen Anhängern des Staates machen; statt dessen kommt der Ausdruck der Unzufriedenheit aus stets größeren Kreisen. Unter den Arbeitern hat die Sozialpolitik keinen irgendwie merklichen Anklang gefunden; das wenige, was an Symptomen dieser Art ausposaunt wird, macht den bestimmtesten Eindruck des faulen Zaubers. In Verbindung mit Brotsteuern7 nimmt die „Lösung der sozialen Frage“ einen Charakter an, an welchem der kleine Mann ganz allgemein den Geschmack verlieren muß.

Für diese Entwicklung trifft die Vertreter der Sozialpolitik ganz allein die Verantwortung. An den dringendsten Warnungen hat es niemals gefehlt. Aber unbekümmert darum haben die publizistischen und oratorischen Anhänger der Sozialpolitik Unzufriedenheit mit der bestehenden Wirtschaftsordnung gesät; unaufhörlich haben sie gepredigt, daß bei der freien Konkurrenz nur wenige sich zu den Glücksgütern des Lebens emporschwingen könnten, daß der Staat bisher seiner Verpflichtung, den Schwachen zu schützen, niemals nachgekommen sei, daß man aber fortan die Erfüllung dieser Pflicht von ihm fordern müsse. Nicht umsonst ist den besitzlosen Massen, die vier Fünftel der Nation ausmachen, gepredigt worden, daß nur der Eigennutz der Liberalen es verbieten wolle, Ansprüche auf Sicherung der Existenz gegen die wirtschaftlichen Nachteile von Unfällen, Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit zu stellen. Nicht umsonst hat man auf allen Gassen gelehrt, daß das System der Selbsthilfe der Krieg aller gegen alle sei, bei dem die „Drohnen“ sich auf Kosten der „Arbeitsbienen“ ernähren und bei dem der „alte Arbeiter auf dem Misthaufen verende“. Diese Saat, schreibt die „Weser Z[ei]t[un]g“, geht auf;8 in reißendem Maß wachsen die Massen, die sich die Hand reichen und sich, ohne den Fehler törichter Putsche zu machen, organisieren, um die ganze alte gesellschaftliche Ordnung aus den Angeln zu heben.

Wir hüten uns vor Prophezeiungen, aber die Tatsache muß konstatiert werden, und diese hat eine historische Bedeutung, die alle anderen Vorgänge unseres zeitgenössischen politischen Lebens weit überragt: Die Sozialpolitik hat eine schwere Niederlage erlitten; die Sozialdemokratie wird durch sie nicht eingeschränkt, sondern gefördert.

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Registerinformationen

Orte

  • Aachen

Personen

  • Brandts, Franz (1834–1914) , Textilfabrikbesitzer in Mönchengladbach
  • Hitze, Franz (1851–1921) , Priester, Generalsekretär des katholischen Unternehmerverbands „Arbeiterwohl“ in Mönchengladbach, MdPrAbgH, MdR (Zentrum)
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Firmen

  • Brandts, Franz, Weberei in Mönchengladbach

Sachindex

  • Alkoholismus
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeitervertretung, Ältestenkollegien
  • Arbeitgeber
  • Arbeitslosigkeit, siehe auch Arbeitslosenversicherung
  • Arbeitsordnung, siehe auch Fabrikordnung
  • Attentat
  • Belagerungszustand
  • Belagerungszustand – kleiner
  • Fabrik
  • Fabrik(kranken)kassen
  • Fabrikordnungen
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kirche
  • Kirche – katholische
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Parteien
  • Parteien – Elsässer
  • Parteien – Fortschritt, Freisinn
  • Parteien – Polen
  • Parteien – Zentrum
  • Polizei
  • Presse
  • Presse – Arbeiterwohl
  • Presse – Weser-Zeitung
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1881
  • Selbsthilfe
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Stadt, Großstadt
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Arbeiterwohl. Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde
  • Wirtschaftsliberalismus
  • Wohlfahrtseinrichtungen, betriebliche
  • Zölle
  • 1Die Sozialdemokraten konnten bei der sechsten Reichstagswahl die für sie abgegebenen Stimmen von 311 961 auf 549 990 steigern (von 6,1 % auf 9,7 % der gültigen Stimmen). Die Zahl der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten verdoppelte sich. »
  • 2Liebknecht erklärte am 11.1.1883 im Reichstag: Die Provinzial-Correspondenz, ein Organ der Regierung, hat einmal gelegentlich in bezug auf die Reformgesetzgebung von dem Fürsten Reichskanzler gesagt: Der Reichskanzler kann nicht warten. Das mag sein; er rechnet vielleicht bloß mit der Dauer seines Lebens. Wir können aber warten. Wir können es aushalten. Wenn Sie noch tausend Schachzüge gegen uns haben, so haben wir noch tausend und einen gegen Sie. Wir werden mit Ihnen fertig (30. Sitzung vom 11.1.1883; Sten. Ber. RT 5. LP II. Session 1882/1883, S. 842). »
  • 3Weder die Motive des vom Reichstag abgelehnten ersten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen vom 20.5.1878 (Sten.Ber. RT 3. LP II. Session 1878, Drucksache Nr. 274) noch die Motive des dann (nach dem zweiten Attentat auf den Kaiser) abgeändert angenommenen zweiten Entwurfs des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 9.9.1878 (Sten.Ber. RT 4. LP I. Session 1878, Drucksache Nr. 4) enthalten entsprechende Passagen. »
  • 4Gemeint ist die Reichstagsrede Bismarcks bei der zweiten Lesung des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ am 9.10.1878. Bismarck erklärte damals, positive Vorschläge, um das Schicksal der Arbeiter zu verbessern, wolle er wohlwollend prüfen (8. Sitzung vom 9.10.1878; Sten.Ber. RT 4. LP I. Session 1878, S. 125) bzw. eine Äußerung in der Reichstagsrede vom 2.4.1881 in der Generaldiskussion über die erste Unfallversicherungsvorlage: Seit dem Sozialistengesetz ist immer an mich die Mahnung herangetreten von amtlicher, hochstehender Seite und aus dem Volk, es sei damals versprochen, es müsse auch positiv etwas geschehen, um die Ursachen des Sozialismus, insoweit ihnen eine Berechtigung beiwohnt, zu beseitigen (28. Sitzung vom 2.4.1881; Sten.Ber. RT 4. LP IV. Session 1881, S. 712). »
  • 5Bei der Reichstagswahl 1884 wurden 5 662 957 Stimmen abgegeben. Zentrum, Linksliberale, Sozialdemokraten, Elsässer und Polen etc. erhielten zusammen etwa 3,4 Millionen Stimmen. »
  • 6Vgl. Nr. 3 Anm. 5. »
  • 7Gemeint sind die seit 1880 bestehenden Einfuhrzölle für Getreide. »
  • 8Die 1844 gegründete liberale „Weser-Zeitung“ erschien dreimal täglich in Bremen. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 57, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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