II. Abteilung, Band 1

Nr. 51

1884 September

Aufruf1 der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten zur Wahl des 6. Reichstags (Zweitfassung)

Druck, Teildruck

Sozialreform ist nichts als Sozialdemagogie; Kern der sozialen Frage ist die Verteilung des Reichtums; Notwendigkeit eines Normalarbeitstags; die Sozialdemokratie ist die wahre Partei der Sozialreform

[...]

Die Beseitigung der sozialen Schäden auf dem Weg der Gesetzgebung nennt sich Sozialreform. Es gibt keine Partei mehr, welche die Notwendigkeit der Sozialreform leugnete, keine, die sie nicht in ihrem Programm hätte. Und da auch die Reichsregierung die Sozialreform für ihre vornehmste Aufgabe erklärt hat, so sollte man meinen, es herrsche in bezug auf diesen Punkt die vollständigste Einmütigkeit. Dem ist aber nicht so. Jeder versteht unter Sozialreform etwas anderes, und alle konservativen und liberalen Parteien, welche sie im Munde führen, haben nur ihre Partei- und Sonderinteressen im Auge. Die Sozialreform ist zum Modewerkzeug der Sozialdemagogie geworden.

[ Druckseite 225 ]

Sozialdemagogie ist es, wenn großgrundbesitzende Junker nebst der übrigen konservativen Gesellschaft, nachdem sie das Volk jahrhundertelang in Leibeigenschaft gehalten, aus der es gegen ihren Willen erlöst werden mußte und von der es noch heute nicht völlig erlöst ist, sich als die wahren, sozusagen geborenen „Anwälte des armen Mannes“ aufspielen, der ihnen für ein elendes Linsengericht dazu verhelfen soll, daß sie ihre alte herrschende Stellung im Staat wieder einnehmen.

Sozialdemagogie ist es, wenn liberale (und fortschrittliche) Großproduzenten (Fabrikanten usw.), welche von der Ausbeutung des „kleinen Mannes“ leben und ohne diese Ausbeutung nicht bestehen könnten, von plötzlicher Zärtlichkeit für den „armen Mann“ erfaßt werden und ihm das Himmelreich auf Erden versprechen.

Indem wir jede dieser verschiedenen Parteien der Kritik der anderen überlassen, wenden wir uns der Reichsregierung zu. Sie hat feierlich die Sozialreform versprochen.2

Was Sozialreform ist, das geht mit genügender Deutlichkeit aus dem bisher Gesagten hervor. Was aber versteht die Reichsregierung darunter? Drei Maßregeln, von denen die zwei ersten mit Ach und Krach der Gesetzgebung einverleibt worden sind und die dritte noch in nebelhafter Ferne schwebt: die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Altersversorgung der Arbeiter.

Wer unseren Darlegungen mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, sieht auf den ersten Blick, daß diese drei Maßregeln den Kern der sozialen Frage, d. i. die Art der Erzeugung und Verteilung des „Nationalreichtums“, gar nicht berühren und sich nur auf dem Gebiet des Armenwesens bewegen. Die jetzt schon dem Staat und den Gemeinden aufliegende Pflicht, für die Erwerbsunfähigen zu sorgen, wird mit Bezug auf einen Teil der Arbeiter neu geregelt ─ das ist alles. Sozialreform ist das nie und nimmermehr.

Am Schluß der letzten Reichstagssession hat der Reichskanzler, gewissermaßen zur „Krönung des Gebäudes“, das „Recht auf Arbeit“ proklamiert.3 Als er sich von den Gegnern bedrängt sah, zog er sich jedoch sofort auf das preußische Landrecht zurück, das heißt, wie der Abgeordnete Windthorst ihm unwidersprochen vorhielt: auf das Recht der Armenunterstützung, welches gleichbedeutend ist mit dem „Recht auf das Arbeitshaus“.4 Und der Reichskanzler hütete sich wohl, der Aufforderung der sozialdemokratischen Abgeordneten nachzukommen und einen Gesetzentwurf zur Verwirklichung des Rechts auf Arbeit einzubringen.5

Nicht einmal zum Normalarbeitstag und zur Anbahnung einer internationalen Fabrikgesetzgebung, den bescheidensten Anfängen der Sozialreform, hat die Reichsregierung sich entschließen können.

Es versteht sich von selbst, daß wir gegen die sogenannte „Sozialreform“ der Reichsregierung protestieren mußten. Was die unter der Firma „Sozialreform“ eingebrachten Maßregeln betrifft, so machte, von sonstigen Mängeln abgesehen, schon [ Druckseite 226 ] deren polizeibürokratischer Charakter es uns unmöglich, für sie zu stimmen, nachdem alle unsere Verbesserungsversuche an dem Widerstand der klerikal-konservativen Majorität, der die Elsässer und Polen sich zugesellten, gescheitert waren.

[...]

Man klagt uns der „reinen Negation“ an. Mit Unrecht. Wir haben detaillierte Arbeitergesetze vorgeschlagen,6 die den Anfang einer wirklichen Sozialreform gebildet hätten ─ sie sind, als von uns kommend, von den übrigen Parteien zurückgewiesen worden. Auch zu solchen Gesetzesvorlagen, die wir für vollständig verfehlt halten mußten, arbeiten wir Verbesserungsanträge aus ─ sie wurden regelmäßig von den übrigen Parteien abgelehnt. Wir wundern uns darüber nicht. Wir sind die einzige Partei, welche die Sozialreform ernst nimmt; allen übrigen Parteien ist die Sozialreform nur Mittel zum Zweck.

[...]

Trotzdem haben wir einen großen positiven Erfolg zu verzeichnen. Uns, der Sozialdemokratie Deutschlands, ist es geschuldet, daß die soziale Frage jetzt offiziell auf der Tagesordnung steht und zum Mittel- und Angelpunkt unseres politischen Lebens geworden ist.

Keine Arbeitergesetzgebung ohne die Sozialdemokratie.

[...]

Registerinformationen

Regionen

  • Preußen

Orte

  • Marburg/Lahn

Personen

  • Brühne, Friedrich (1855–1928) , Schuhmacher in Frankfurt/M.
  • Köhl, Karl (1846–1926) , Seifenfabrikbesitzer in Würzburg, MdR (Deutsche Volkspartei)
  • Lenzmann, Julius (1843–1906) , Rechtsanwalt in Lüdenscheid, MdR (Fortschritt)
  • Schreiber, Karl (1834–1910) , Landrat in Marburg/Lahn, MdPrAbgH (konservativ)
  • Windthorst, Dr. Ludwig (1812–1891) , hannoverscher Staatsminister und Kronoberanwalt a. D., MdR, Zentrumsführer

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Armenpflege
  • Bundesrat
  • Fabrik
  • Gemeinden, Kommunen
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten (5.2.1794)
  • Großgrundbesitz
  • Hilfskassen
  • Innenminister, preußischer
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Parteien
  • Parteien – Elsässer
  • Parteien – Fortschritt, Freisinn
  • Parteien – Nationalliberale
  • Parteien – Polen
  • Polizei
  • Recht auf Arbeit
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen – Kassel
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Zentralkrankenkasse der Schuhmacher
  • 1SächsHStA Dresden Bestand 10736 Ministerium des Innern Nr. 10984, fol. 142─145 Rs., hier fol. 144 Rs.─145; Nachdruck im „Sozialdemokrat“ Anfang 1885 (Nr. 1─5); Nachdruck in: Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag. Tätigkeitsberichte und Wahlaufrufe aus den Jahren 1871 bis 1893, Berlin 1909, S. 218─248. »
  • 2Vgl. Nr. 9. »
  • 3Am 9.5.1884; vgl. Nr. 166 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 424. Sitzung von 10.5.1884; Sten.Ber. RT 5. LP IV. Session 1884, S. 514. »
  • 5Der am 10.5.1884 eingebrachte Antrag lautete: Der Reichstag wolle beschließen, den Bundesrat zu ersuchen, er möge dem Reichstag unverzüglich einen Gesetzentwurf vorlegen, durch welchen das in der Reichstagssitzung des 9. Mai cr. von dem Herrn Reichskanzler proklamierte Recht auf Arbeit zur Verwirklichung gelangt (Sten.Ber. RT 5. LP IV. Session 1884, Drucksache Nr. 95). Der Antrag war auch von den Abgeordneten Karl Köhl (Deutsche Volkspartei) und Julius Lenzmann (Fortschritt) unterstützt worden. »
  • 6Gemeint ist der Antrag zur Abänderung der Gewerbeordnung, den die sozialdemokratischen Abgeordneten 1877 in den Reichstag einbrachten; vgl. Nr. 104 Bd. 3 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 51, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0051

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.