II. Abteilung, Band 1

Nr. 29

1882 April 21

Der Gewerkverein1 Nr. 16 Liberalismus und Socialpolitik

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Mit Hinweis auf liberale Politiker und Vordenker wird der Liberalismus als wahrhaft sozialpolitische Bewegung dargestellt

Gewisse Behauptungen so oft und so zuversichtlich auszusprechen, bis das Publikum und sogar die Behauptenden selbst daran glauben, ist zwar ein altes Kunststück, aber wohl noch nie so virtuos durchgeführt wie von den Anhängern des Fürsten Bismarck. So wird gegenwärtig in hundert Blättern und Weisen der Satz variiert, der Liberalismus sei der Erbfeind einer gesunden Sozialpolitik. Der große Reichskanzler und die guten Konservativen bieten alles auf, um durch die Staatsmacht die Schwachen zu stützen, die Gefährdeten zu sichern, die Enterbten zu beglücken, aber die bösen Liberalen stemmen sich dem mit aller Gewalt entgegen. Die Liberalen als Vertreter des nackten Individualismus, als Gegner des hehren Staatsgedankens, wollen nur den „Kampf aller gegen alle“ und verwehren es dem Staat, seine schirmende Hand über die Bedürftigen auszubreiten und Zucht und Ordnung wiederherzustellen. Das bezwecke und vermöge nur der Royalismus, und darum, so lautet die Moral der Fabel, mögen alle, die es besser haben wollen, von den Doktrinären ablassen und die segensreiche Politik des Fürsten Bismarck unterstützen.

Wahrlich, es gehört ein gehäuftes Maß Unwissenheit oder ─ Ungeniertheit dazu, um angesichts des hundertjährigen Zeugnisses der Wissenschaft und Politik solche Behauptung zu wagen!

Der Liberalismus Gegner des Staatsgedankens! Aber wer hat denn den Staat aus der Verschüttung des Ständewesens, aus dem Abgrund des Absolutismus wieder emporgehoben, ihn als die höchste gesellschaftliche Organisation des Volkes wissenschaftlich entdeckt und unter unsäglichen Kämpfen und Opfern als solche praktisch durchgeführt? Wer anders als der Liberalismus, der mit Montesquieu2 anstelle [ Druckseite 110 ] der rohen Routine den „Geist der Gesetze“, mit Rousseau3 anstelle der sklavischen Untertänigkeit den „Gesellschaftsvertrag“ setzte, der mit Franklin4 dem Himmel seine Blitze und den Tyrannen ihre Zepter entriß? Mit Recht sind diese und andere Geisteshelden dabei vom Individuum ausgegangen wie der Naturforscher von dem Atom und der Zelle; sie hatten alle Ursache, gegenüber jahrhundertlanger Knechtung und Aussaugung den Majestätsbrief der freien Persönlichkeit, die unveräußerlichen Menschenrechte zu stabilieren. Allein mit Ausnahme einiger Heißsporne, wie sie bei jeder Richtung vorkommen, hat der Liberalismus gerade auf die innere Natur des Menschen auch das unvergängliche Bedürfnis und das erhabenen Walten des Staates gebaut. Überall und zu allen Zeiten hat er darum die Fahne des Staates hochgehalten, den souveränen Staat gegen feudale Polizei und Patrimonialgerichtsbarkeit, den weltlichen Staat gegen hierarchische Anmaßung, den nationalen Staat gegen partikuläre Sondergelüste verteidigt. Wo findet man einen glühenderen, opfermutigeren Patriotismus als bei den Liberalen, die für Frankreichs, für Italiens, für Deutschlands Freiheit und Einheit stritten zu einer Zeit, da die Konservativen den nationalen Staat als revolutionäres Hirngespinst verhöhnten und verfolgten?

Und der Liberalismus Feind der positiven Sozialpolitik! Wir fragen: Wer hat zuerst die Arbeit als Quelle des Volkswohlstands dargetan und damit erst die wahre Sozialpolitik begründet? Der Liberale Adam Smith!5 Wer war es, der die Bauern, die Handwerker und Arbeiter aus Leibeigenschaft, Koalitionsverbot und unerträglichem Steuerdruck befreite, sie erst zu Staatsbürgern und Menschen machte? Der Liberalismus, bei uns vertreten durch die Stein6 und Hardenberg7, die Waldeck8 und Delbrück9, die Schulze-Delitzsch und Lasker10. Wer hat dann, mit der bloßen Befreiung nicht zufrieden, die wirksame und weise Benutzung der neuen Rechte unermüdlich gefördert?, wer Gesundheit und Kraft durch das Turnen, geistige Klarheit durch verbesserte Schulen und Bildungsvereine, die wirtschaftlichen Hilfsmittel, Kredit, Einkauf, Absatz durch die Genossenschaften, Schutz und Hebung der Arbeiter durch die Gewerkvereine, Sicherheit der Zukunft durch die Hilfs- und Pensionskassen erstrebt und trotz aller konservativen Verdächtigungen und Widerstände schon in weitem Umfang erreicht? Wiederum die Liberalen! Nicht durch übereilte Dekrete von oben, deren Unhaltbarkeit nach wenig Monaten der Urheber selbst eingestehen muß, sondern in wahrhaft organischer Weise von unten herauf, durch unablässige Mühwaltung an zahllosen Punkten zugleich, haben die Liberalen bereits Millionen in jenen Genossenschaften und Verbänden geeint, Verbände, die ihre Lebenskraft erwiesen, da sie aus freiem Antrieb entstanden sind, sich erhalten und entwickelt haben. Wer hat aber auch hier den Beistand des Staates keineswegs zurückgewiesen, nein in wohlgemessener Weise durch Normativgesetze die freie Organisation zu regeln und [ Druckseite 111 ] zu fördern, durch Schutzgesetze Willkür und Mißbrauch abzustellen sich bemüht? Dieselben Liberalen, die die Genossenschafts- und Hilfskassen-, die Gewerbe- und Fabrikgesetze im wesentlichen geschaffen, die das Haftpflichtgesetz herbeigeführt und seine wirksame Verbesserung seit Jahren beantragt haben ─ die im geraden Gegensatz zu dem sog. Manchester-Standpunkt mannhaft widerstehen, sooft die konservativen Interessenvertreter den Schutz der jugendlichen Arbeiter durchlöchern und die Armen durch Lebensmittelzölle und Monopole noch ärmer machen wollen.

Scharenweis könnten wir noch ähnlich Tatsachen anführen, aber das Erwähnte genügt wohl vollauf, zu zeigen, in welchem Lager die tätigen, die wahren Freunde einer positiven Sozialpolitik zu suchen sind, in welchem die alten und beharrlichen Gegner der arbeitenden Klassen. Die Handlungen sprechen zu klar, als daß sich das Volk auf die Dauer durch Redensarten betören ließe, auch wenn sie noch sooft wiederholt werden.

Registerinformationen

Regionen

  • Frankreich
  • Italien

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832–1901) , Direktor der II. Abteilung im Reichsamt des Innern
  • Delbrück, Dr. Rudolf (1817–1903) , Präsident des Bundes- bzw. Reichskanzleramts
  • Franklin, Benjamin (1706–1790) , nordamerikanischer Staatsmann
  • Hardenberg, Karl August Fürst von (1750–1822), preußischer Staatsmann
  • Lasker, Dr. Eduard (1829–1884) , Rechtsanwalt und Notar in Berlin, MdR (Sezession)
  • Rousseau, Jean Jacques (1712–1778) , französischer Pädagoge und Sozialphilosoph
  • Smith, Adam (1723–1790) , englischer Nationalökonom
  • Stein, Karl Freiherr vom und zum (1757–1831) , preußischer Staatsmann
  • Waldeck, Benedikt Franz Leo (1802–1870) , preußischer Politiker
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Bundesregierungen
  • Fabrik
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz, betreffend die Verbindlichkeit zum Schadensersatz für die bei dem Betrieb von Eisenbahnen, Bergwerken etc. herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen (Haftpflichtgesetz) (7.6.1871)
  • Gewerkvereine
  • Handwerk, Handwerker
  • Hilfskassen
  • Koalitionsfreiheit
  • Korporationen
  • Landwirtschaft
  • Menschenrechte
  • Reichstag
  • Reichsversicherungsanstalt
  • Steuern
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Thronreden – 27.4.1882
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Wirtschaftsliberalismus
  • Zölle
  • 1„Der Gewerkverein. Organ des Verbandes der Deutschen Gewerkvereine“ erschien seit 1869 zunächst vierzehntägig, dann wöchentlich in Berlin. Herausgeber war Dr. Max Hirsch. »
  • 2Charles de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689─1755), französischer Philosoph. »
  • 3Jean Jacques Rousseau (1712─1778), französischer Philosoph. »
  • 4Benjamin Franklin (1706─1790), nordamerikanischer Staatsmann. »
  • 5Adam Smith (1723─1790), englischer Nationalökonom. »
  • 6Karl Freiherr vom und zum Stein (1757─1831), preußischer Staatsmann. »
  • 7Karl August Fürst von Hardenberg (1750─1822), preußischer Staatsmann. »
  • 8Benedikt Franz Leo Waldeck (1802─1870), preußischer Politiker. »
  • 9Dr. Rudolf Delbrück (1817─1903), 1867 bis 1876 Präsident des Bundes- bzw. Reichskanzleramts. »
  • 10Dr. Eduard Lasker (1829─1884), Rechtsanwalt und Notar in Berlin, MdR (nationalliberal/ Liberale Vereinigung, 1880 Sezessionist). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 29, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0029

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