II. Abteilung, Band 1

Nr. 28

1882 März 19

Denkschrift1 des Geheimen Regierungsrats Dr. Georg Hinzpeter für Prinzessin Auguste Viktoria2

Ausfertigung

Hinzpeter legt der Ehefrau des Thronfolgers Prinz Wilhelm soziales Engagement und beiden das Studium der Lage der Arbeiter und der Arbeiterbewegung nahe

Wenn ich mich klar auszudrücken verstanden,3 so müßte eigentlich das Resultat sein, daß Ew. Königliche Hoheit zugeständen, es bestehe hier als natürliche Konsequenz historischer Entwicklung eine Ungerechtigkeit, es hätten also auch die Beeinträchtigten vollkommen recht, gegen dasselbe anzukämpfen; es sei sogar die Pflicht jedes billig Denkenden, namentlich aber jedes christlicher Gesinnung sich Rühmenden, ihnen in diesem Kampf beizustehen. Und die Nutzanwendung dieses Zugeständnisses würde dann weiter die Überzeugung sein, daß die Prinzeß Wilhelm an ihrem Teil, soviel in ihren Kräften steht, solche Hilfe zu bringen verbunden sei. Und was in ihren Kräften steht, ist viel, sehr viel.

Eine soziale Reform ─ welche der Revolution vorbeugen soll ─ ist nur denkbar bei energischer Mitwirkung der höheren, d. h. der besitzenden und gebildeten Klassen.

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Von ihnen wird ein Verzicht auf einen Teil ihres jetzt gesetzlich rechtmäßigen Gewinstes gefordert und zugleich das Aufsuchen der Mittel und Wege, wie diese Entäußerung am besten bewerkstelligt werden könne. Dazu gehört ein stark ausgebildetes Pflichtgefühl und große Einsicht; und beide fehlen den oberen Klassen noch in bezug auf die Verhältnisse, von denen wir reden; sie werden solche auch nur erwerben, wenn Interesse und Sympathie für die betreffenden Fragen erweckt sind. Und dazu kann jeder Wissende und Fühlende beitragen in seinem Kreis, und zwar in dem Maß, als dieser groß oder entscheidend ist. Der Kreis aber der Prinzeß Wilhelm ist der bedeutungsvollste. Alle großen Fragen bedürfen in unserer Zeit, ehe sie zum Austrag gelangen, einer langen Vorbereitung durch die öffentliche Meinung; durch unendliches Überlegen und Diskutieren müssen Gedanken und Gefühle geläutert und belebt werden bis Klarheit und Kraft genug entwickelt sind, um natürliche wie künstliche Hindernisse zu besiegen. Die vorzüglichsten dieser sind immer Unwissenheit und Selbstsucht, und nirgends sind beide so mächtig als auf sozialem Gebiet. Was wissen die ruhig und sicher Lebenden von der unaufhörlichen zehrenden und verzehrenden Sorge des von der Hand in den Mund Lebenden? Was wissen die mäßig oder gar nicht Arbeitenden von der erdrückenden Plage, von der lähmenden Ermüdung des von unendlicher, sie bei fast hastiger Arbeit Absorbierten? Mitleidig disponierte Menschen kennen wohl allenfalls Alte und Kranke, denen eine kleine materielle Hilfe Erleichterung bringen mag, aber wer hat eine Vorstellung von der Existenz der Massen, der[en] Leben von Anfang bis zu Ende verläuft in unablässigem, aber vergeblichem Ringen nach Luft und Sonnenschein für sich und die Ihrigen? Solche Kenntnis erwirbt nur der höhere geistige Flug, der in dem Leben einen tieferen Sinn sucht als den der Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse in kleinem Kreis, der das Leben der Menschheit als ein Ganzes auffaßt, als eine Darstellung göttlicher Gedanken, und der unwiderstehlich getrieben wird, diese zu verstehen und danach seine eigene Existenz zu ordnen.

Aber wenn auch alle die Erkenntnis hätten, was sollte sie bewegen, ihr eigenes Behagen zu vermindern, um dasjenige anderer zu vermehren? Das jetzt die menschliche Gesellschaft ordnende und beherrschende Gesetz gestattet den Besitzenden, ohne jede andere Rücksicht als ihr eigenes Interesse ihren Besitz und die Macht, welche er ihnen gibt, auszunutzen. Was soll sie treiben, freiwillig auf einen Teil ihres erlaubten Vorteils zu verzichten und sogar ─ so sie durch Intelligenz und Macht die Überlegenen sind ─ für sich selbst Gesetze auszustellen, welche sie dazu zwingen?

Das vermag nur eine höhere Gesinnung, welche sich nicht mit dem Erreichen der eigenen Behaglichkeit begnügt, die zum eigenen Glück notwendig das Streben nach dem Glück anderer bedarf.

Beides, solchen Geistesflug und solche Gesinnung, hat die Prinzeß Wilhelm; ihre Aufgabe ist deshalb ganz klar. Sie hat zunächst die Konsequenz daraus zu ziehen, daß sie alle ihr zu Gebote stehenden Mittel verwertet, um die Lage der emporstrebenden Massen, ihre Aspirationen und die zur Realisierung derselben sich bietenden Wege zu verstehen. Nur redliches, langwieriges Studium kann sie allmählich dies erreichen lassen. Ein solches wird sie aber aller Wahrscheinlichkeit nach nur betreiben, wenn ihr Gemahl es teilt. Es ist also dringend zu wünschen und auch wohl zu hoffen, daß das junge Paar in solcher scheinbar abstrakter und kalter Beschäftigung eine neue Quelle gemeinsamer Sympathie und Gedanken finde. Wenn Ew. Königliche Hoheit hier plötzlich entdecken, daß ich auch auf diesem Umweg wieder das zur [ Druckseite 109 ] fixen Idee gewordene Interesse meines früheren Zöglings zu fördern suche, so kann ich das nicht leugnen, hoffe aber, Verzeihung dafür zu finden.

Ist dies zukunftsreiche Paar mit Erkenntnis und Sympathie für die sozialen Probleme gefüllt, so wird von selbst folgen, daß es Propaganda macht, daß es viele überreden, fortreißen, ja vermöge seiner exzeptionellen Stellung zwingen wird, dieselbe zu teilen. Schon manche Prinzessin hat eine alberne Mode erst gebracht; sollte eine andere nicht in ernster Zeit auch einmal eine ernsthafte Mode aufbringen wollen?

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Hirsch, Dr. Max (1832–1905) , Schriftsteller in Berlin, liberaler Gewerkschaftsführer, MdR (Fortschritt)
  • Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de La Brède et de (1689–1755) , französischer Philosoph
  • Wilhelm H. (1859–1941) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Liberalismus, siehe auch Parteien
  • Parteien
  • Parteien – Konservative
  • Presse
  • Presse – Der Gewerkverein
  • 1GStA Berlin BPH Rep. 53 (D) Nr. 107. Kopfvermerk: beantwortet. »
  • 2Auguste Viktoria (1858─1921), seit 27.2.1881 Ehefrau des preußischen Prinzen und Thronfolgers Wilhelm. »
  • 3Hinzpeter schrieb im Jahr 1882 wiederholt an Auguste Viktoria ─ z. T. undatierte ─ Briefe (vgl. GStA Berlin BPH Rep. 53 [D] Nr. 102, Nr. 108─110, Nr. 112, Nr. 114). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 28, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0028

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