II. Abteilung, Band 1

Nr. 24

1881 Dezember 2

Rede1 des Reichstagsabgeordneten Adolf Stoecker2

Druck, Teildruck

Ausführliche Interpretation und Kommentierung der Kaiserlichen Botschaft

[...] Die kaiserliche Botschaft spricht es offen aus: „Daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.“

Mit Sicherheit bestimmen diese Worte die Methode, durch welche die soziale Frage gelöst werden muß!

Die soziale Frage stammt in ihrer neueren Gestalt aus der französischen Revolution. Als Untersuchung über die beste Form der menschlichen Gesellschaft ist sie so alt wie die Menschheit selbst. Daß der vierte Stand die soziale Frage als Waffe benutzt, um seine Forderungen durchzusetzen, ist neu. Die Revolution von 1789 und ihre Nachfolgerinnen haben diese Forderungen nicht erfüllt, sondern vereitelt. Wohl stand auf der Fahne der französischen Revolution das Wort geschrieben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; recht verstanden, im Sinne des Evangeliums ausgelegt, ein wundervolles Losungswort. Freiheit von allem unberechtigten Zwang; Freiheit, die guten Kräfte der Persönlichkeit im guten Sinne zu entwickeln; Freiheit für alle, an dem nationalen Leben sich lebendig zu beteiligen. Wird diese Freiheit verbunden [ Druckseite 99 ] mit der Freiheit von der Sünde, dem Egoismus, dann wird sie zu jener göttlichen Unabhängigkeit, von welcher Christus sagt: Wen der Sohn frei macht, der ist recht frei. Freilich, wie die Freiheit, kann auch die Gleichheit falsch gedeutet werden; wie man die Freiheit auffaßt, als Zügellosigkeit, als das Recht, das Gesetz zu brechen, die Traditionen des Volkes zu verachten, die sozialen Ordnungen zu zerstören, die Korporationen aufzulösen, das Familienleben zu lockern, so kann auch die Gleichheit ein schlimmes Wort werden. Wenn man glaubt, daß jeder mit dem andern gleich viel haben, gleich viel sein soll, dann wird der Gedanke der Gleichheit zur Gefahr.

Die Welt beruht auf Unterschieden: Mann und Weib, Eltern und Kind, Bevölkerungen des Nordens und Südens, reiche und arme Länder, begabte und unbegabte Menschen, fröhliche und bedrückte Gemüter, kranke und gesunde, vornehm und gering: Welche Fülle von Unterschieden und wer will sie aus der Welt schaffen! Es ist der schlimmste Fehler eines falschen Sozialismus, daß er sich einbildet, durch Nivellierung von Reichtum und Armut ein allgemeines Glück herzustellen, während doch die Zufriedenheit noch auf ganz andern Momenten beruht als auf der Verteilung des Vermögens. Die Weltordnung ruht geradezu auf den Unterschieden und wird durch sie nicht gehindert. Aber wenn die Gleichheit in dieser Welt der Unterschiede, der Überordnung und Unterordnung, den einen Punkt bedeutet, an dem wir alle gleich sind, weil wir alle unsterbliche Seelen haben, gleich vor Gott als sein Ebenbild und zum ewigen Leben geschaffen, darum auch in den irdischen Verhältnissen zu gleichem Recht berechtigt, so ist Gleichheit ein tiefsinniger Begriff, gleichsam die Versöhnung der Unterschiede, die Brücke über die Spalten, die unsre soziale Welt zerreißen.

Diese Gleichheit wächst nicht auf dem vulkanischen Boden der Revolution, die französische Revolution hat ebensowenig die wahre Gleichheit wie die wahre Freiheit geschaffen. Von der Brüderlichkeit, diesem dritten Losungswort, war überhaupt niemals ernsthaft die Rede! Warum nicht? Brüderlichkeit hat nur einen Sinn auf dem Boden des Christentums; wir können nur Brüder untereinander sein, wenn wir uns als Kinder eines Vaters im Himmel fühlen. Hat die Menschheit Gott verloren, die Kindschaft verloren, so fällt auch die Brüderlichkeit dahin.

In dem Jahrhundert, das seit der französischen Revolution verflossen ist, hat der dritte Stand, der damals zur Herrschaft gelangte, seine Brüderlichkeit offenbart. Was in unserm Erwerbsleben, in dem sauern Ringen der Arbeit mit der Geldmacht aus dieser Art Brüderlichkeit geworden ist, liegt vor aller Augen. Freie Konkurrenz der Kräfte, unbeschränkter Kampf ums Dasein, das kalte Gesetz von Angebot und Nachfrage, der schnöde Grundsatz, daß Arbeit eine Ware ist: Das sind die brüderlichen Ideen, mit welchen ein falscher Liberalismus das Wirtschaftsleben entseelt, die soziale Gemeinschaft vernichtet hat. Reich werden auf Kosten der andern; über das Glück des Nächsten zum Besitz emporsteigen; die Arbeit des andern ausbeuten und den letzten Blutstropfen aus ihm herauspressen; den Einfältigen auf gesetzlichem Wege um das Seine bringen und nicht danach fragen, ob man mit dem Ärmel das Zuchthaus streift: Das ist der Zustand, der infolge jener falschen Ideen in den Kreisen des Mammondienstes sich eingebürgert hat und der als Gegensatz die ebenso falschen Ideen des sozialen Umsturzes unter den Nichtbesitzenden erzeugt. Die Gottlosigkeit, welche die sittlichen Grundsätze verwirrt, hat auch den religiösen Halt zerstört. [...]

Die Philosophen mögen ja sagen: Der Mensch muß das Gute erstreben um des Guten willen, er muß auch Armut, Not, Elend, Hunger ertragen um der großen Zwecke eines irdischen Daseins willen ─ man wird es niemals der Menschheit begreiflich machen, daß die einen hier auf der Erde dazu bestimmt sind, in Glanz und [ Druckseite 100 ] Herrlichkeit zu leben, die andern zu schwitzen und zu leiden, damit jene ein Leben des Luxus führen können. Nein! So soll es überhaupt nicht sein, das ist der Sinn der göttlichen Weltordnung nicht, daß die einen im Übermaß schwelgen und die andern im Mangel verkommen, daß die einen überreich werden, reicher als es einem Menschen gut ist, oft ohne jede soziale Verpflichtung, und daß die andern an den Türen umherlaufen und um einen Groschen, um Arbeit, um ein Stück Brot flehen. Berlin kennt diesen Jammer aus eigner Erfahrung. Noch heute gibt es eine Menge von unsichern, ungenügenden Existenzen.

Aus diesen Schwierigkeiten materieller und geistlicher Natur ist die soziale Frage in ihrer finsteren Gestalt emporgestiegen. Unzufriedenheit mit dem oft kargen Lohn, größere Unzufriedenheit mit der Unsicherheit der Lage ist es, was die Arbeiter in großen Scharen der sozialen Bewegung zugeführt hat. Die Berechtigung zur Unzufriedenheit ist früher nicht anerkannt; heute wird sie ausgesprochen, und schon darin liegt eine Kraft der Beruhigung. Wir haben es ja in Berlin erlebt, daß bei dem ersten Auftauchen einer sozialen Bewegung im christlichen Geiste eine Menge von Mitbürgern, die früher der Sozialdemokratie anhingen, sich mit uns auf den friedlichen Weg der sozialen Reform begaben. Ist das nicht ein Beweis, daß die Nichtbesitzenden eine Hand vermißten, die sich ihnen darböte? Nun bietet die Regierung des Deutschen Reiches, ja unser Kaiser selbst, den bedrängten Klassen die Hand mit dem treuen, ernsten Wort: „Wir wollen helfen“ ─ so ist das ein Wort, das in allen Herzen einen lebendigen Widerhall finden muß. In den Schwierigkeiten der Gegenwart trifft uns die kaiserliche Botschaft, wie wenn aus trüben Nebeln ein klares Licht aufgeht. Die majestätischen Wahrheiten derselben sind dazu angetan, das rechte Gleichgewicht, das in den Wahlkämpfen verschwunden war, wiederherzustellen; all den Fortschrittsphrasen stehen sie in großartiger Schönheit gegenüber. Es gehört zu der Weisheit der Botschaft, daß sie nicht alles auf einmal zu heilen verspricht, nicht die ganzen sozialen Nöte berührt, sondern die größte Not herausgreift; die Unsicherheit der Arbeiterexistenz, Unfallversicherung, besseres Krankenkassenwesen und staatliche Fürsorge für Invalidität und Alter, das sind die positiven Reformen, welche die Botschaft in Aussicht stellt. Eins ist von durchschlagender Wichtigkeit. Frank und frei wird mit königlicher Offenheit anerkannt, daß das bloße Unterdrücken der Sozialdemokratie, das Vernichten der Parteiorganisation, das Verbieten der Presse nicht genügt.

Menschen, die nichts von diesen Dingen verstehen, haben gemeint, die Sozialdemokratie sei nichts als Torheit, Gottlosigkeit, Neid und Haß. Und gewiß ist in den sozialdemokratischen Plänen sowohl Torheit wie Gottlosigkeit eine Aufhetzung des armen Volkes, die nur mit der Revolution enden könnte; aber wer ein durch Liebe geschärftes Ohr hat, hört aus dem Grollen des Hasses doch den Ton der Klage heraus über Zustände, welche den Arbeiter nicht zum Frieden kommen lassen. Am allermeisten ist es die Unsicherheit, welche den Arbeiter drückt, die Hilflosigkeit der Gegenwart und die Hoffnungslosigkeit der Zukunft.

Ein Arbeiter, der einen Unfall in seinem Beruf erlitten hat, ist nur zu oft der Not preisgegeben oder an die Armenbehörde, an das Almosen gewiesen. Ein Haftpflichtgesetz ist ja vorhanden; aber es ist für den Arbeiter ungünstig.3 Er muß nachweisen, [ Druckseite 101 ] daß den Arbeitgeber oder seinen Beauftragten bei dem Unfall eine Schuld trifft. Oft macht der Nachweis einen Prozeß notwendig, einen zweiten Unfall nach dem ersten. Bis zur Entscheidung hat der Arbeiter keinen Anspruch und kann darüber zugrunde gehen. Hat er aber ein Versehen begangen ─ und wer begeht nicht einmal ein Versehen! ─, so hat er keinen Anspruch auf Entschädigung. Dabei sind viele Berufsarten gänzlich von dem Haftpflichtgesetz ausgeschlossen, so die Baugewerke mit ihren zahlreichen Gefahren und Verunglückungen. Wie ganz anders, wenn jeder Arbeiter, der ohne Absicht von einem Unfall betroffen wird, ein Anrecht auf Versorgung hat. Da sagt sich der einzelne: Dieser Kreis von Arbeitern, in dem ich gestanden habe, übernimmt etwas von der Sorge für die Zukunft, der Staat, für den du gelitten, gearbeitet, im Krieg dein Blut vergossen hast, der Staat denkt an dich, nicht bloß, wenn du als Invalide vom Schlachtfeld kommst, sondern auch, wenn ein Rad in der Fabrik dich ergriffen und arbeitsunfähig gemacht hat. Es ist ein großer Gedanke, diese Fürsorge zu organisieren.

In Krankheitsfällen sind ähnliche Mängel der gegenwärtigen Zustände. Wir haben ja Krankenkassen4 und ein Gesetz, das sie anordnet.5 Trotzdem ist es Tatsache, daß eine Menge von Arbeitern sich finden, die nicht gesichert und bei Krankheiten ohne Hilfe und Rat sind. Eine bessere Einrichtung ist unabweislich.

Der schwierigste Punkt ist die Versorgung im Alter und bei eintretender Invalidität. Es ist schwer, wenn ein Arbeiter 30, 40 Jahre hindurch, oft um geringen Lohn, gearbeitet hat und dann einem trostlosen Alter entgegensieht. Er soll sparen ─ sagen die Leute; das sage ich auch. Ohne Sparsamkeit wird die Lösung der sozialen Schwierigkeiten niemals auf richtige Bahnen gebracht werden können. Sparen, sich genügen lassen, keine Ansprüche über seinen Stand machen: Das alles gehört zu den persönlichen Momenten der Hilfe, welche unentbehrlich sind, zu der Selbsthilfe, die der Staatshilfe an die Seite treten muß. Aber ich frage: Sind wirklich die Lohnverhältnisse so, daß ein Mann, der eine starke Familie hat, genug sparen kann, um im Alter nicht zu darben? Gewiß, es kann Umstände geben, unter denen es möglich ist, daß ein fleißiger und ordentlicher Arbeiter ein Häuschen, ein Gärtchen erwirbt, ein paar tausend Mark spart. Aber wer sagt, daß das überall und immer sein kann, der kennt die Verhältnisse nicht. Ich will einmal annehmen, ein tüchtiger Arbeiter hat ein paar hundert, tausend Mark gespart, und es kommt nun solche Krisis, wie wir sie hier in Berlin erlebt haben, was sind dann hundert, tausend Mark? Die Summe ist bald aufgezehrt, wenn sich keine Beschäftigung findet, und was dann? Glaubt man [ Druckseite 102 ] wirklich, die Sparsamkeit reiche aus, die Arbeiter gegen Zeiten der Krisis, gegen Alter und Invalidität zu sichern?

Wer die soziale Frage anrührt, kann gar nicht anders, als seine Finger auf solche Wunden legen. Er muß es fühlen: In der Unsicherheit der Arbeiterexistenz liegt in der Tat die allergrößte Not der Arbeiterwelt. Und wenn nun die Regierung mit kundigem Auge aus dem großen Gebiet diesen einen Punkt besonders feststellt und nicht bloß die Sonde des Arztes braucht, sondern zugleich das Heilmittel bezeichnet, so müssen wir anerkennen: Die Weisheit in der Erkenntnis des Schadens ist ebenso groß wie die Liebe, die diese Schäden bessern will.

„Weitgreifende und schwierige Aufgaben“ ─ nennt die Botschaft diese Mittel der Fürsorge ─, „deren Lösung in der kurzen Frist einer Session nicht zu bewältigen ist, zu deren Anregung wir uns aber vor Gott und Menschen, ohne Rücksicht auf den unmittelbaren Erfolg derselben, verpflichtet halten.“

Darin liegt zweierlei: Unser Kaiser erkennt diese Aufgabe als eine Pflicht vor Gott und Menschen. Vor Gott! Es ist eine ernste Stunde, wenn ein Monarch, der über so viele Millionen das Regiment führt, am Abschluß seines langen, gesegneten Lebens vor Gott steht und sich fragt: „Welche Pflicht hast Du noch?!“ Jenes Wort: „Königtum von Gottes Gnaden“ ist eben keine Redensart, sondern eine Tatsache. Wir sehen hier, daß es eine eminent praktische Bedeutung hat, daß ein König, der seine Verantwortung vor Gottes Thron fühlt, es nicht unterlassen kann, an die soziale Not seines Volkes zu denken. Der Schrei aus den Arbeiterkreisen, Handwerkerkreisen, aus den nichtbesitzenden Klassen überhaupt ist an das Ohr der Regierung gedrungen, die Regierung hat es vor Gott und Menschen als ihre Pflicht erkannt, den Schrei zu beruhigen; dafür dürfen wir ihr dankbar sein. Aber die Regierung erkennt ─ und das ist der andre bemerkenswerte Punkt ─, daß die Erfüllung der erkannten Pflicht nicht in kurzer Frist geschehen kann. Sie verspricht nicht, was sie zu halten nicht imstande wäre. Aber sie gelobt, daß sie, auch ohne unmittelbaren Erfolg zu haben, nicht ablassen will, die große Angelegenheit zu einem glücklichen Ziel zu führen. [...] Die Ankündigung der Arbeiterversicherungsgesetze wird referiert.

Ich mache besonders auf die Stelle aufmerksam, in welcher den Arbeitern ein „begründeter Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge“ zugesprochen wird. Nicht eine Pension aus Staatsmitteln, ausreichend, um ein behagliches Alter zu führen ─ wie die Gegner der sozialen Reform die Gedanken der Regierung verdrehen ─, sondern ein höheres Maß von Fürsorge wird ihnen verheißen. Jene ist unmöglich; diese ist möglich. Die Verpflichtung der Pietät, welche Kinder ihren Eltern gegenüber haben, soll durch eine allgemeine Pensionierung nicht etwa beseitigt, sondern durch eine Teilnahme der Gesellschaft an der Fürsorge erleichtert werden. Auf diese eben soll der Arbeiter ein begründetes Recht haben; nicht als Almosen der Kommune oder der Armenverbände, sondern als einen erworbenen Anspruch soll er die Rente, welche an die Stelle des Armengeldes tritt, empfangen, darin liegt der ungeheure Fortschritt gegen früher. Es leuchtet ein, wie hierdurch unsre gesamte staatliche Armenpflege auf ein höheres Niveau erhoben werden kann, während die kirchliche Pflege unberührt bleibt, ja wesentlich gefördert wird.

Gewiß sind das einschneidende Maßregeln. Wenn aber in einer Nation Spaltungen hervortreten, welche die Besorgnis nahelegen, daß sich in ihr zwei Heere bilden; wenn die Unzufriedenen die Faust ballen gegen die Glücklicheren und mit ihren Phantasien auf Umsturz und Revolution sinnen, wie es vor wenigen Jahren fast noch [ Druckseite 103 ] allgemein war, dann drängt es dazu, Wandel zu schaffen und alles zu versuchen, was nur geschehen kann.

Sehr schwierig allerdings ist es, die Mittel zu finden, mit denen man den großen Zweck erreicht; die Wege zu finden, auf denen man zum erwünschten Ziel gelangt; aber ich frage: Ist es nicht aus dem Herzen von uns allen, aus dem Herzen aller Sozialreformer gesprochen, wenn es in der kaiserlichen Botschaft heißt:

„Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volksleben steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sein würde.“

Oft genug ist in unsern Versammlungen die Bedeutung, die Notwendigkeit der Korporation für das Erwerbsleben betont. Diese Gemeinschaftsform steht zwischen der Freiheit des einzelnen und dem staatlichen Zwang in der Mitte, beide ausgleichend und verbessernd. Es ist ein Irrtum zu meinen, nachdem die Selbsthilfe bei uns Bankrott gemacht hat, der Staat könne alles leisten. Eine vierfache Hilfe ist es, die wir brauchen: Selbsthilfe, Genossenschaftshilfe, Staatshilfe, Gotteshilfe! Diese vierfache Hilfe finde ich in jenem Abschnitt, und es erscheint mir ganz besonders ein glücklicher Griff in das ganze Arbeitsleben hinein, daß als Lösung des sozialen Rätsels die Bildung von korporativen Genossenschaften hingestellt wird. Die Atome, die heute zerstreut sind und sich von selber nicht zusammenfinden, wieder in die rechte Verbindung zu bringen, Innungen, Fabrikgenossenschaften zu gründen, die Arbeit im gesunden Sinne zu organisieren ist das Problem der Gegenwart. Verbindung macht stark, schützt nach außen, stärkt nach innen; nur durch Verbindung wird die Arbeit sich schirmen können gegen die Angriffe des Kapitals. Eine Korporation ist ein erweiterter Leib und beseelt wie dieser. In Genossenschaften, die auf Tüchtigkeit und Ehre jedes einzelnen Genossen halten, wird der Geist wieder lebendig werden können, persönliche sittliche Haltung, gesundes Familienleben, christlich-deutscher Arbeitsgeist. Ich glaube nicht, daß es dem Staat allein auf dem Wege bürokratischer Maßregeln gelungen wäre, seine Reformpläne in gesunder Weise durchzuführen. Seitdem die Gedanken sich dahin geklärt haben, die Arbeiter in Genossenschaften für sich sorgen zu lassen, von Staats wegen an der Begründung derselben durch die Gesetzgebung auch wohl durch Zuschüsse stark zu helfen, seitdem können wir Hoffnung haben, daß die tragende Basis für den Aufbau der Hilfe gefunden ist. Und Hilfe ist nötig, schnelle, energische Hilfe, denn unsre Zeit geht schnell. Wir stehen unter dem vollen Eindruck der Gefahr, welche in den sozialistischen Umsturzbestrebungen aller Kulturländer liegt. Ob wir dieselbe beseitigen, durch Reform überwinden, ist die wichtigste Frage der Zeit. Nach Äußerungen aus den Kreisen der Sozialdemokratie zu urteilen, ist die Möglichkeit jetzt größer als früher. Derselbe Liebknecht, welcher vor zehn Jahren den Vertretern der heutigen Gesellschaftsordnung zurief: „Ihr kommt um die Revolution nicht herum“6, hat vor Jahresfrist unter dem Einfluß der Reformpolitik erklärt, er glaube, daß durch die Reform die Revolution [ Druckseite 104 ] vermieden werden könne.7 Unsre Erfahrungen in den Kreisen des Berliner Sozialismus sind dieselben. Der Gedanke der Revolution erbleicht; die Hoffnung der Reform wird heller und heller. Der Gedanke der Gerechtigkeit, in das Wirtschaftsleben zurückgeführt, hat beruhigende Wirkung und begeisternde Kraft. Als eine verteilende Gerechtigkeit, welche durch Gesetz den Ertrag der Produktion zwischen Kapital und Arbeit gleich verteilt, denken sie die einen; als eine ausgleichende Gerechtigkeit, welche die Härten der gegenwärtigen Ordnung mildert und aufhebt, erstreben sie die andern. Die Sicherheitsmaßregeln der Regierung gehören unter den Gesichtspunkt der ausgleichenden Gerechtigkeit, welche die tiefe Kluft zwischen Besitz und Nichtbesitz, zwischen reich und arm nicht ausfüllen, aber überbrücken will. Das Evangelium kommt diesem Bestreben zu Hilfe. Die Botschaft erkennt das; mit voller Klarheit erinnert sie an die „sittlichen Fundamente des christlichen Volkslebens“.

Es ist nicht Willkür und Zufall, daß das Wort „christlich“ sich in der Politik und im Volksleben wieder so mächtig in den Vordergrund drängt. Nachdem wir wieder ein Volk geworden sind, können wir gar nicht anders, als uns auf das innere Wesen unsres Volkstums zu besinnen. In einer Zeit der Schwächung und Spaltung haben wir vergessen, was eigentlich deutsch ist; jetzt müssen wir daran gedenken, daß das Erbe einer tausendjährigen Vergangenheit unser christliches Volksleben ist. Und wenn die soziale Erneuerung auf der Tagesordnung der Gegenwart steht und davon ohne starke sittliche Arbeit nicht wieder abgesetzt werden kann ─ niemand darf hoffen, daß die Aufgabe gelöst wird ohne Mithilfe des religiösen Gedankens, ohne Christentum und Kirche.

Wir wollen die, welche der christlichen Kirche entfremdet sind, auch die israelitischen Mitbürger, in diesen Kreis der Gerechtigkeit, der Liebe, gern mit hineinziehen; aber unser christliches Volkstum, die christliche Staatsidee, lauter Begriffe, welche seit Jahr und Tag unser Herz erfüllen, wollen wir uns nicht antasten, noch viel weniger uns nehmen lassen. Christliches Volksleben bedeutet, daß alles, was einem Volk groß, wichtig ist, durchdrungen sein muß vom Christentum. Dieser Gedanke ergreift nicht bloß die Alten, sondern auch die Jugend, die akademische ebenso wie die kaufmännische und handwerktreibende. Darin liegt eine Hoffnung, die uns belebt.

Stehen die Zweifler abseits und sagen in einem andern Sinne das Wort: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“8 ─ ein neues Geschlecht wächst heran, das dem Kaiser gelobt, seine Hoffnungen zu erfüllen. In einer großen Studentenversammlung wurde neulich der Wunsch laut, auf einen Granitblock die kaiserliche Botschaft einzugraben und das Monument auf den Kyffhäuser zu stellen.9

[ Druckseite 105 ]

Ein Wunsch, dem wir guten Erfolg wünschen. Nicht alles in der Botschaft hat dieselbe dauernde Bedeutung. Manches darin gehört der Tagespolitik. Aber die Gedanken der sozialen Reform, welche darin stehen, sind Leuchtsterne der Zukunft. Die Mitternacht deutschen Lebens ist vorüber, die Sterne sind da; noch liegt auf der Erde der Nebel, aber die Sonne wird aufgehen und alle Nebel verscheuchen.

Wir fühlen es, eine neue Kulturentwicklung bricht an. Das ist ihre Signatur, daß aufgrund christlicher Liebe und Gerechtigkeit die Besitzenden, die Glücklichen, keine größere und ernstere Sorge kennen als die Fürsorge für die weniger Glücklichen, weniger Besitzenden, welche in Not und Drangsal leben; es ist der Zug der Zeit, der durch das kaiserliche Wort hindurchgeht. Dies Wort kommt aus dem Herzen und trotz aller Reden, die dagegen gehalten werden, trotz alles Druckpapiers, das dagegen geworfen wird ─ was von Herzen kommt, das geht zu Herzen. Das Wort aus dem Herzen des Kaisers wird an das Herz der Nation schlagen, und wenn eine spätere Zeit auf die Entwicklung der sozialen Gedanken zurückschaut, dann wird dies kaiserliche Wort einer der leuchtenden Punkte sein, welche die Weltgeschichte nicht vergessen kann.

Registerinformationen

Regionen

  • Kyffhäuser
  • Süddeutschland

Orte

  • Berlin

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Charlotte (1860–1919) , Prinzessin von Preußen, Tochter Friedrich Wilhelms
  • Eulenburg und Hertefeld, Dr. Philipp Graf zu (1847–1921), , preußischer Gesandter in Oldenburg, Braunschweig, Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Liebknecht, Wilhelm (1826–1900) , Journalist in Borsdorf (Amtshauptmannschaft Grimma), MdR (Sozialdemokrat)
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Almosen
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Arbeitgeber
  • Armenpflege
  • Arzt
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Christentum
  • Evangelium
  • Fabrik
  • Fabrikarbeiter
  • Familie
  • Gemeindekrankenkassen
  • Gemeinden, Kommunen
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz, betreffend die Verbindlichkeit zum Schadensersatz für die bei dem Betrieb von Eisenbahnen, Bergwerken etc. herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen (Haftpflichtgesetz) (7.6.1871)
  • Handel, siehe auch Freihandel
  • Handwerk, Handwerker
  • Hunger
  • Innungen
  • Korporationen
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Liberalismus, siehe auch Parteien
  • Lohn
  • Luxus
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Polizei
  • Reichsregierung
  • Repression
  • Revolution
  • Selbsthilfe
  • Selbstverwaltung
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Sozialreform
  • Sparen
  • Studenten
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Verein Deutscher Studenten
  • Versicherungszwang
  • 1Adolf Stoecker, Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze, Bielefeld und Leipzig 1885, S. 121─132 (124─132). »
  • 2Diese Rede wurde in der regelmäßig abgehaltenen Freitagsversammlung im „Eiskeller“, einem Berliner Arbeiterlokal in der Chausseestraße 88, gehalten. Vgl. dazu den ausführlichen Bericht im „Staats-Socialist“ (Nr. 50 vom 12.12.1881), danach wurde für das Vortragsthema eine Diskussion nicht für geziemend erachtet, der christlichen-sozialen Partei sollen aber 50 Mitglieder spontan beigetreten sein. Laut Polizeibericht über die Versammlung nahmen an dieser 700─800 Personen teil, nach Stoeckers Rede ergriff noch Karl Ludwig Diestelkamp kurz das Wort (LA Berlin, A Pr.Br. Rep. 030 Tit. 95 Nr. 15070, fol. 171). Am Abend des gleichen Tages gab der Verein der Konservativen des 2. Reichstagswahlkreises ein Festessen zu Ehren Stoeckers, in dem der konservative Reichstagskandidat Dr. Josef Cremer u. a. ausführte: Unsere (Wahl-)Niederlage wandelt sich bereits zum Sieg. Kann es eine glänzendere Rechtfertigung für uns geben als die Kaiserliche Botschaft? (...) Wird vom Regierungstisch ein anderes Wort verkündet, als welches wir verkündet haben? Der gewaltigste Antifortschrittler ist der Fürst Bismarck (Der Reichsbote Nr. 284 vom 3.12.1881). »
  • 3Gesetz, betreffend die Verbindlichkeit zum Schadensersatz für die bei dem Betrieb von Eisenbahnen, Bergwerken etc. herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen, vom 7.6.1871 (RGBl, S. 207); vgl. zur Problematik der Haftpflichtversicherung Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 4Vgl. das Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen vom 7.4.1876 (RGBl, S. 125); dieses enthielt Normalbestimmungen für selbständige und selbstverwaltete Krankenkassen jeder Kategorie bzw. jeden Typs, d. h. unabhängig von Gründungsakt bzw. -akteur (zwangsweise oder freiwillig und nicht begrenzt auf gewerbliche Arbeitnehmer). »
  • 5Gemeint ist das Gesetz, betreffend die Abänderung des Titel VIII der Gewerbeordnung, vom 8.4.1876 (RGBl, S. 134). Dieses enthielt Regelungen zur Krankenversicherung für gewerbliche Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter auf der Grundlage des bedingten Versicherungszwangs, d. h. Kassenerrichtung und -zwang als ausschließliche Angelegenheit der kommunalen Selbstverwaltung, zur Gleichstellung ortsstatutarischer und freier eingeschriebener Hilfskassen (Ersatzkassenprinzip), zur Beitragspflicht für Fabrik- und Bergwerksbesitzer (nicht für Arbeitgeber generell) als Zuschuß, Konkurrenzklausel zugunsten süddeutscher Gemeindekrankenkassen, und setzte eine Frist zur Umwandlung bestehender Pflichtkassen nach Maßgabe der normativen Vorgaben des Hilfskassengesetzes bis 1884. Vgl. zu den genannten Gesetzen insgesamt Bd. 5 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 6Vgl. hierzu Liebknechts entsprechende, wenngleich nicht wörtlichen Äußerungen im Leipziger Hochverratsprozeß im März 1872 (Karl-Heinz Leidigkeit [Hg.], Der Leipziger Hochverratsprozess vom Jahre 1872, Berlin 1960, S. 44 f.). »
  • 7Vgl. die entsprechenden Ausführungen Liebknechts vom 31.5.1881 anläßlich der zweiten Beratung des Unfallversicheningsgesetzentwurfs am 31.5.1881 (Sten.Ber. RT 4. LP IV. Session 1881, S. 1457). »
  • 8Zitat aus Goethes Faust I, Vers 725. »
  • 9Vgl. zur Versammlung des Vereins Deutscher Studenten in Breslau Nr. 13 Anm. 1, die Einweihung des Gedenksteins erfolgte erst 1896, 1993 wurde er erneuert (vgl. Marc Zirlewagen (Hg.), Kaisertreue ─ Führergedanke ─ Demokratie, Köln 2000, und Martin Otto, Kyffhäuserideale deutscher Akademiker und Verwaltungsrechtswissenschaft im Werden. Ein Beitrag zu Karl Kormann (1884─1914), seinem sozialpolitischen und verwaltungsrechtlichen Wirken im Deutschen Kaiserreich, in: Zeitschrift für Sozialreform 48 [2002], S. 354─364). Vgl. auch Gunther Mai (Hg.), Das Kyffhäuser-Denkmal 1896─1996, Köln u. a. 1997, S. 158 f., dort finden sich auch Informationen über die Würdigung der Kaiserlichen Botschaft vom 17.11.1881 auf weiteren Kaiser-Wilhelm-Denkmälern. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 24, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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