II. Abteilung, Band 1

Nr. 21

1881 November 24

Der Sozialdemokrat Nr. 481 Eine kaiserliche Botschaft und eine sozialdemokratische Antwort

Druck, Teildruck

Ablehnung einer Bündnispolitik mit den Konservativen zugunsten einer sozialen Reformpolitik; Recht und Pflicht des Volkes zur Anwendung von Gewalt „im Notfall“ für seine Forderungen

An demselben Tag, an welchem der Deutsche Kaiser dem neugewählten Reichstag durch seinen Reichskanzler in einer Botschaft sein „allerhöchstes Einverständnis“ mit der sogenannten Sozialreform des letzteren verkünden ließ, machte durch die deutsche Presse2 eine Erklärung unserer Genossen Bebel3 und Liebknecht4 die Runde, welche mit Recht als die Antwort der Sozialdemokratie auf die kaiserlichen Ausführungen betrachtet werden kann. Aus diesem Grunde halten wir es für zweckmäßig, beide Erklärungen an hervorragender Stelle im Parteiorgan abzudrucken.

In der kaiserlichen Botschaft heißt es: [...] Vgl. Nr. 9.

Die Erklärung unserer Genossen aber lautet:

„Die Mitteilungen des ‚Reichsboten‘5 in bezug auf die Unterhandlungen, welche anläßlich der Stichwahlen im vierten und sechsten Berliner Wahlkreis zwischen den Führern der Konservativen und Sozialreformer (den Herren Prof. Wagner, Hofprediger Stoecker6, Distelkamp7 etc.) einerseits und Angehörigen der sozialdemokratischen Partei andererseits stattgehabt haben, veranlassen uns zu folgender Darlegung:

Donnerstag mittag, den 10. November, erschienen hier in Dresden zwei unserer Berliner Parteigenossen und teilten uns mit, daß zwischen ihnen und den Führern der Konservativen und Sozialreformer Unterhandlungen wegen der bevorstehenden engeren Wahlen in Berlin stattgefunden8 und zu folgendem Resultat geführt hätten:

[ Druckseite 86 ]

Wir, die Unterzeichneten nebst Hasenclever, sollten folgende Erklärung unterschreiben:

‚Wir erklären:

1. Daß wir die arbeiterfreundliche Absicht der deutschen Reichsregierung in ihrer Reformpolitik anerkennen;

2. daß wir ernstlich gewillt sind, gemeinsam mit den sozialreformerischen Parteien in Frieden an der Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu arbeiten;

3. daß wir hoffen, nach dem Wort eines unserer Reichstagsabgeordneten (?) durch energische soziale Reformen die Revolution zu überwinden.‘

Als Preis für die Unterzeichnung dieser drei Punkte wurde uns geboten:

1. Die oben erwähnten Führer der Konservativen und Sozialreformer Berlins wollten dafür eintreten, daß ihre Parteigenossen im vierten und sechsten Berliner Wahlkreis bei der Stichwahl am 12. Nov[ember] für uns stimmten;9

2. erboten sie sich, alsdann folgende Gegenerklärung zu unterzeichnen: ‚Dagegen erklären wir, daß wir, wenn die deutschen Sozialisten auf gesetzlichem Wege innerhalb der bestehenden Staatsordnung die Reform erstreben, wir für die Aufhebung des Sozialistengesetzes im gegebenen Fall stimmen werden.‘

Weiter wurde uns mündlich mitgeteilt: Weigerten wir uns, auf diesen Vertrag einzugehen, so würden die erwähnten Führer die Losung ausgeben: Stimmenthaltung, und dann sei unsere Niederlage in Berlin gewiß.

Wir haben darauf entschieden und bestimmt mündlich erklärt:

1. daß wir jeden Schacher und Stimmenkauf von uns wiesen; daß wir lieber 3 000 ehrlich gewonnene Stimmen als 30 000 erkaufte haben wollen; daß wir nicht in der Lage seien, die mit Erlaß des Sozialistengesetzes inaugurierte Wirtschaftspolitik der Reichsregierung: Vermehrung und Erhöhung der indirekten Steuern und Zölle auf notwendige Lebensbedürfnisse, Vermehrung der Militärlasten, Innungsgesetz u. dgl. als arbeiterfreundlich anzuerkennen;

2. daß wir nie abgelehnt ─ wie unsere Haltung und unsere Erklärungen noch zuletzt gegenüber dem Unfallgesetz gezeigt10 ─, Reformvorschläge der Reichsregierung ernsthaft zu prüfen; zu versuchen, sie unseren Wünschen entsprechend umzugestalten und, wenn sie unserm Standpunkt entsprächen, zu akzeptieren, daß wir es aber ablehnen müßten, mit Parteien gemeinsame Sache zu machen, die in ihren Bestrebungen reaktionär und darum arbeiterfeindlich seien;

3. daß, wenn mit Punkt 3 die Annahme ausgesprochen sein sollte, als wollten wir eine gewaltsame Revolution, dies eine ganz willkürliche Annahme sei. Wir hatten [ Druckseite 87 ] stets erklärt, daß planmäßige gründliche und ganze Reformen der gewaltsamen sozialen Revolution, die andernfalls eine notwendige Folge unserer politischen und ökonomischen Entwicklung sei, vorbeugen könnten und wir nicht verantwortlich seien für Dinge, die nicht in unserem Willen und in unserer Macht liegen, sondern von dem Willen und der Macht unserer bisherigen Gegner abhängen.

Mit dieser Antwort reisten unsere Parteigenossen nach Berlin zurück. Das Wahlresultat ist bekannt.

Dresden11, den 16. November 1881.

A. Bebel, W. Liebknecht“

Setzt man in der letzteren Erklärung überall statt konservative Partei Reichsregierung, und tatsächlich sind ja doch die Herren Wagner, Stoecker und Genossen nur die Mundstücke Bismarcks, so haben wir ein Bild der Situation unserer Partei in Deutschland, wie es klassischer nicht gekennzeichnet werden kann.

Wir nannten absichtlich die Erklärung unserer Genossen eine Antwort auf die Botschaft, obwohl eigentlich das Umgekehrte der Fall ist: Die Botschaft ist eine Antwort auf die Erklärung.12 Am 10. November fanden die Verhandlungen statt, von denen Bismarck zweifelsohne unterrichtet worden war, noch am 12. erscheint in der „Norddeutschen Allgemeinen“13 an hervorragendster Stelle ein Leitartikel, in dem es am Schluß mit unverkennbarer Absichtlichkeit heißt: [...] Vgl. den Abdruck unter Nr. 219 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung.

Deutlicher kann man schon nicht mehr reden. Offen und unumwunden wird uns hier zugerufen: Stimmt meiner Sozialreform zu, und das Sozialistengesetz ist nicht mehr! Auf schwache Gemüter hätten so verführerische Lockrufe ihre Wirkung sicher nicht verfehlt, keine andere Partei hätte in gleicher Lage wie die Sozialdemokratie ihnen Widerstand geleistet ─ man vergleiche nur die ewige Jammerei der Nationalliberalen ─, die Sozialdemokratie aber, durch Kampf und Verfolgung gehärtet, antwortet im Bewußtsein der Stärke ihrer Sache selbstbewußt: Nein! Wir verzichten nun und nimmermehr auf das Recht der selbständigen Prüfung. Soweit Eure Projekte den Arbeitern von Nutzen, nehmen wir sie an ─ ohne Euren Dank dafür zu verlangen, soweit sie aber die Arbeiter schädigen ─ und dazu gehört vor allen Dingen Euer Lieblingsprojekt, die Ersetzung der direkten Steuern durch indirekte, durch Mehrbelastung der notwendigsten Lebensmittel ─, weisen wir sie rundweg ab, ohne Furcht vor Euren Repressalien. Auf reaktionäre, d. h. arbeiterfeindliche Bestrebungen, lassen wir uns nicht ein.

Da kommt nun die kaiserliche Botschaft, von neuem wird die zärtliche Fürsorge für das Wohl der Arbeiter in den Vordergrund gestellt, das Sozialistengesetz aber nur flüchtig berührt und die Versicherung abgegeben, daß die Umwandlung der bestehenden Staats- und Gemeindelasten in „weniger drückende, indirekte Reichssteuern“ ─ [„]nicht nur von fiskalischen, sondern auch von reaktionären Hintergedanken frei ist“. Wir wollen ja gar keine Reaktion, wir wollen nur den Bestand des Reiches sichern, heißt es am Schluß.

[ Druckseite 88 ]

Aber die Logik der Sozialdemokratie ist unerbittlich, ihr gegenüber helfen keine Ausflüchte. Die kaiserliche Botschaft wird mit den Worten abgetrumpft, daß wir nicht in der Lage sind, die Erhöhung der indirekten Steuern ─ als arbeiterfreundlich anzuerkennen. Ob sie von reaktionären Hintergedanken frei ist, das ist uns sehr gleichgültig, sie ist an und für sich so reaktionär, daß es der Hintergedanken gar nicht bedarf. Was soll es denn noch Reaktionäreres geben, als dem Arbeiter zehnfach das vom Munde wegzureißen, was er von Rechts wegen höchstens einfach zu zahlen hätte? Für den reichen Mann, für den Kanzler, mag es „wenig drückend“ sein, wenn die Lebensmittel teurer werden, für den Arbeiter, der mit Pfennigen zu rechnen hat, bedeutet jeder Preisaufschlag nur neue Entbehrungen. Und mag man die Verfolgungen gegen uns verzehnfachen, niemals werden wir unsere Zustimmung zu solchen „Reformen“ geben. Niemals werden wir um das Linsengericht einer Unfallund Invalidenversicherung von höchst zweifelhaftem Wert das Recht des Volkes auf Arbeit und Existenz, niemals das Recht und die Pflicht des Volkes, seine Forderungen im Notfall mit Gewalt durchzusetzen, preisgeben.

Das ist die stolze Antwort der Sozialdemokratie auf die Kaiserliche Botschaft.

Registerinformationen

Orte

  • Dresden

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Hasenclever, Wilhelm (1837–1889) , Lohgerber, Journalist in Berlin, MdR (Sozialdemokrat)
  • Klotz, Moritz (1813–1892) , Landgerichtsrat in Berlin, MdR (Fortschritt)
  • Liebknecht, Wilhelm (1826–1900) , Journalist in Borsdorf (Amtshauptmannschaft Grimma), MdR (Sozialdemokrat)
  • Meyer, J. H. , Obermeister der Drechslerinnung in Berlin
  • Richter, Eugen (1838–1906) , Regierungsassessor a. D., Schriftsteller in Berlin, liberaler Parteiführer, MdPrAbgH, MdR (Fortschritt)
  • Scholz, Dr. Adolf von (1833–1924) , Staatssekretär im Reichsschatzamt; später: preußischer Finanzminister
  • Stoecker, Adolf (1835–1909) , Hofprediger in Berlin, MdR (konservativ)
  • Träger, Albert (1830–1912) , Rechtsanwalt und Notar in Nordhausen, MdR (Freisinn)
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Etat, Reichsetat
  • Gemeinden, Kommunen
  • Innungen
  • Landtag
  • Landtag – sächsischer
  • Parteien
  • Parteien – Fortschritt, Freisinn
  • Parteien – Nationalliberale
  • Parteien – Zentrum
  • Presse
  • Presse – Norddeutsche Allgemeine Zeitung
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Repression
  • Revolution
  • Soldaten
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Steuern
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Zölle
  • 1Der „Sozialdemokrat. Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie“ erschien seit Oktober 1879 wöchentlich in Zürich. Redakteur des aufgrund des Sozialistengesetzes im Deutschen Reich verbotenen Parteiorgans war seit 1881 Eduard Bernstein. »
  • 2Abdruck u. a.: Frankfurter Zeitung Nr. 321 vom 17.11.1881 und Volks-Zeitung Nr. 270, 1. Blatt, v. 18.11.1881. »
  • 3August Bebel (1840─1913), Drechslermeister in Borsdorf bei Leipzig (nach Ausweisung aus Leipzig am 28.6.1881), seit 1867 MdR (Sozialdemokrat), seit September 1881 Mitglied des sächsischen Landtags, sozialdemokratischer Parteiführer. »
  • 4Wilhelm Liebknecht (1826─1900), Journalist in Borsdorf bei Leipzig (nach Ausweisung aus Leipzig am 28.6.1881), seit 1867 (mit Unterbrechung) MdR (Sozialdemokrat), seit 1879 Mitglied des sächsischen Landtags, Mitbegründer der SDAP. »
  • 5Der Reichsbote, Deutsche Wochenzeitung für Christentum und Volkstum, Nr. 267 vom 13.11.1881, Artikel: Zur Wahlbewegung in Berlin. »
  • 6Adolf Stoecker (1835─1909), seit 1874 Hofprediger in Berlin, seit Oktober 1881 MdR (konservativ). »
  • 7Karl Ludwig Diestelkamp (1833─1912), seit 1874 Pfarrer an der Nazarethkirche in Berlin. D. stammte aus einer Arbeiterfamilie und wurde wohl auch deshalb für diese Verhandlung ausgewählt. »
  • 8Vgl. dazu Nr. 4. »
  • 9Der „Reichsbote“ (Nr. 268 vom 15.11.81) berichtete über die Stichwahlen vom 12.11. 1881: Bei den Berliner Stichwahlen wurden abgegeben: Im 6. Wahlkreis 35 323 gültige Stimmen; davon fielen auf Klotz (Fortschr[itt]) 17 946, auf Hasenclever (Soz[ialdemokrat]) 17 377 St(immen); mithin Klotz mehr 569 Stimmen. (Am 27. Oktober hatten 38 723 Wähler gestimmt: es hatten erhalten Klotz 18 911 St., Meyer (Konservativ) 8 959 St., Hasenclever 10 629 St., zersplittert 224 St.) Im 4. Wahlkreis wurden 38 454 Stimmen abgegeben, wovon auf Träger (Fortschr.) 19 030, auf Bebel (Soziald.) 18 979 Stimmen fielen. Mithin auf Träger mehr 51 Stimmen. Ungültig 445 Stimmen. (Am 27. Oktober waren 41 601 Stimmzettel abgegeben; davon lauteten auf Träger 19 527 St., Dr. Wagner 8 740 St., Bebel 13 573. Zersplittert 231 St.) »
  • 10Vgl. dazu die Reichstagsrede August Bebels vom 4.4.1881 (29. Sitzung, Sten.Ber. RT 4. LP IV. Session 1881, S. 744─756). »
  • 11Bebel und Liebknecht hielten sich wohl aufgrund ihrer Tätigkeit als Landtagsabgeordnete in Dresden auf. »
  • 12Der Verlauf war, wie sich aus Nr. 1 bis Nr. 9 ergibt, ein anderer als hier unterstellt. »
  • 13Nr. 528 (Morgenausgabe). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 21, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0021

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.