II. Abteilung, Band 1

Nr. 19

1881 November 21

Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen Nr. 544, Abendausgabe1 Thronrede und Botschaft

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Staatsrechtliche Analyse der Rolle des Kaisers bei der Reichstagseröffnung, Kritik am politischen Programm der Kaiserlichen Botschaft, das dem mehrheitlichen Wählerwillen widerspricht

Allgemach beginnt die politische Welt sich von der Überraschung zu erholen, welche ihr durch die Kaiserliche „Botschaft“, welche an die Stelle der Thronrede getreten ist, bereitet wurde. Daß jetzt der Kaiser persönlich für die Politik seines Reichskanzlers eintritt, ist zwar kein neues Moment in der konstitutionellen Entwicklung der deutschen Staaten. Der König von Preußen ist in der Konfliktszeit mit derselben Wärme für die Politik seines Ministerpräsidenten eingetreten, und wenn dies damals in der Form von Thronreden geschah, während man diesmal die Form einer „Botschaft“ an den Reichstag gewählt hat, so kann der zufällige Umstand, daß der Kaiser in letzter Stunde sich nicht befähigt fühlte, die schon gedruckte Thronrede zu verlesen, einen staatsrechtlichen Unterschied nicht hervorbringen. Die Verfassung des Deutschen Reichs vindiziert dem Kaiser persönlich (die Verfassung des Norddeutschen Bundes dem „Präsidium“ des Bundesrats) das Recht, den „Reichstag zu eröffnen“.2 Daß dies mündlich erfolgen müsse, ist in der Reichsverfassung nicht gesagt. Eine schriftliche Eröffnung ist also genau ebenso einer der höchsten Regierungsakte des Kaisers wie eine mündliche, ein Regierungsakt, dessen Vollziehung nur dem Kaiser zusteht. Es ist daher staatsrechtlich nicht richtig, wenn dieser kaiserlichen „Botschaft“ ein anderer mehr persönlicher Charakter vindiziert wird, als einer kaiserlichen Thronrede zukommen würde.

Der deutsche Bundesstaat, welcher nach dem Eingang der Reichsverfassung „den Namen Deutsches Reich führt“, wird regiert durch den Bundesrat, dessen „Präsidium dem König von Preußen zusteht“, und dieser letztere führt in dieser seiner Eigenschaft „den Namen Deutscher Kaiser“. Seine „Anordnungen und Verfügungen“, welche er im Namen des Reichs erläßt, „bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers“. Die vom Reichskanzler gegengezeichnete „Botschaft“ vom 17. d. M. ist also auch der äußeren Form nach ein Regierungsakt des Kaisers, für welchen der Reichskanzler „dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt!“ Wird dieser Regierungsakt einer Kritik unterzogen, die sich hiernach immer nur gegen den Inhalt, nicht gegen die verfassungsmäßig korrekte Form richten wird, so trifft diese Kritik die Politik des Reichskanzlers und kann sich niemals gegen eine Politik des Kaisers oder gegen dessen Person richten. Im absoluten monarchischen Staat hat die Theorie, daß der Befehl des Monarchen über der Kritik stehe und unbedingten [ Druckseite 83 ] Gehorsam fordere, eine gewisse Berechtigung, insbesondere für die Praxis. Im konstitutionellen Staat trifft diese Theorie nicht zu. Der konstitutionelle Monarch ist an die Zustimmung der Volksvertretung gebunden. Erst die Zustimmung der letzteren macht seinen Befehl zu dem, was der Befehl des absoluten Monarchen von selbst ist, zur Norm für den Gehorsam der Staatsbürger. Bevor diese erfolgt ist, hat die Kritik freien Spielraum, und es ist ein verfassungswidriges Verlangen, wenn man die Zustimmung zu der Politik des Kaisers zum Maßstab für die Treue gegen Kaiser und Reich machen will. Eine solche Prätention vernichtet geradezu jedes Verfassungsrecht, und der Kaiser selbst ist weit davon entfernt, diesen Maßstab anzulegen, wie es auch der König von Preußen nicht getan hat.

Von diesem Standpunkt aus nehmen wir das Recht in Anspruch, unbeschadet unserer Treue gegen und unserer Verehrung für den Kaiser, den Inhalt der „Botschaft“ einer unbefangenen Prüfung zu unterwerfen und uns für oder wider die einzelnen in derselben berührten Fragen auszusprechen. Die Politik des Reichskanzlers ist von der Majorität der Wähler in ganz unzweideutiger Weise verworfen worden, und diese Verwerfung würde noch viel deutlicher und umfassender ausgefallen sein, wenn die Wahlen so frei erfolgt wären, wie sie erfolgen sollten, und wenn jeder Wähler durch das vorgeschriebene Geheimnis der Abstimmung sich genügend gedeckt fühlen könnte. Es ist vollkommen verfassungswidrig, wenn uns ─ und darauf müssen wir demnächst gefaßt sein ─ zugemutet werden wird, eine Politik, die wir um ihrer selbst willen nicht zu billigen vermögen, darum zu billigen, weil der Kaiser sie für eine Angelegenheit seines Herzens erklärt. Wir haben gleich von vornherein ausgesprochen, daß wir die Ziele, welche der Kaiser aufstellt, von Herzen akzeptieren und denselben mit demjenigen Eifer nachstreben, welcher den Geboten der Religion wie der guten Politik gleichmäßig entspricht, und auch weiter nachzustreben bereit sind. Daß wir deshalb auch die Mittel und Wege billigen und unterstützen sollen, welche ein dem Irrtum gleich uns zugänglicher Mann uns zwingen will, einzuschlagen, das gebietet weder die Religion noch die Treue, die wir unserem Kaiser und angestammten König schuldig und freudig zu bewähren [sic!] entschlossen sind. Im Gegenteil, wenn wir nach gewissenhafter Erwägung uns gegen die Politik des Reichskanzlers erklären, so folgen wir nur dem Gebot und erfüllen eine Pflicht, welche uns von der Überzeugung auferlegt wird, daß diese Mittel und Wege nicht zum Heil des Volkes und auch nicht einmal zum Ruhm der Krone führen können.

Die kategorische Alternative: „entweder ─ oder“, welche man vor den Wahlen von seiten der Organe der Regierung aufgestellt hatte, lautete damals: „für oder wider Bismarck“. Diese Alternative ist von dem Volk nicht akzeptiert worden. Selbst konservative Wahlkandidaten haben nicht gewagt, durchweg für dieselbe einzutreten. Man wird uns bei der nächsten Gelegenheit ─ und wie nahe oder fern dieselbe sein mag, weiß heute niemand zu sagen ─ vor die Alternative zu stellen versuchen: „für oder wider den Kaiser!“ Diese Alternative ist ebenso falsch, wie es jene war. Man konnte mit einem Schein von Berechtigung sagen ─ in Wahrheit war dies freilich tatsächlich unrichtig ─, wer nicht für die Politik des Reichskanzlers stimmt, der äußert den Wunsch, diesen von seinem Platz entfernt zu sehen. Man hat an diese Fiktion allerlei Schauergemälde geknüpft, als wenn der Bestand des Deutschen Reiches und der monarchischen Verfassung nur davon abhänge, daß der Fürst Bismarck in seiner starken Hand alle Gewalt vereinige, und als wenn alles zugrunde gehen müsse, wenn diese Hand erlahmt. Man wird ein gleiches Spiel mit der nächsten Alternative nicht treiben dürfen. Denn das Deutsche Reich wird bestehen und erstarken, [ Druckseite 84 ] und der Kaiser wird nach wie vor von der Liebe und Ehrfurcht des deutschen Volkes getragen werden, auch wenn der Ausfall der nächsten Wahlen eine noch stärkere und unzweideutigere Mißbilligung der Politik des Reichskanzlers und seiner Regierungsmethode bezeugen wird.

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  • Reichstagswahlen – 1881
  • Tabakmonopol
  • 1Die 1704 gegründete liberale sog. Vossische Zeitung erschien zwölfmal wöchentlich in Berlin; Chefredakteur war seit 1880 Friedrich Stephany. »
  • 2Vgl. Art. 12 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16.4.1871 (BGBl, S. 63). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 19, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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