II. Abteilung, Band 1

Nr. 17

1881 November 18

Germania1 Nr. 264 Das Regierungsprogramm

Druck, Teildruck

Kommentierung und Kritik der Kaiserlichen Botschaft

Den Rücktrittsgerüchten des Kanzlers2 gegenüber, welche in der vorigen Woche auftauchten, gab die „Kreuzzeitung“3 ihre Meinung dahin ab, der Kanzler ziehe eine Konsequenz der letzten Wahlen, indem er dem Kaiser seine Demission zu Füßen lege; aber er tue es eben in der Weise, wie er den Konstitutionalismus auffasse, d. h. im monarchischen Sinne, indem er den Kaiser als Richter anrufe zwischen seiner Auffassung und derjenigen der liberalen Partei. Diese kaiserliche Entscheidung ist jetzt erfolgt. In der gestern verlesenen Allerhöchsten Botschaft liegt sie vor und gibt dem Kanzler die unbedingteste Genugtuung. Nicht nur betreffs der auswärtigen Politik spricht der Kaiser die höchste Befriedigung aus, sondern auch in allen Hauptfragen der inneren Politik erfährt die vollendete wie noch projektierte Aktion des Kanzlers die vollste Anerkennung und Zustimmung. [...] Der Inhalt der Kaiserlichen Botschaft wird unter Verwendung zahlreicher Zitate referiert.

Wir unsererseits sind imstande, den feierlichen Ernst und die Herzlichkeit der kaiserlichen Botschaft voll und ganz zu würdigen. Wir erkennen die Größe der Aufgabe an, haben die Notwendigkeit ihrer Lösung schon lange vor dem Jahre 1878 betont,4

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zweifeln auch gar nicht an der Möglichkeit dieser Lösung. Auch Fürst Bismarck hat den richtigen Weg schon in seiner großen Reichstagsrede vom 2. April d. J. vorgezeichnet, indem er als Ziel aller seiner Versicherungsgedanken für Arbeiter wörtlich „eine Organisation“ bezeichnete, „nach welcher die Erwerbszweige, die ihre Arbeiter versichert haben, in sich korporative Genossenschaften bilden, welche ihren wirklichen Bedarf an Entschädigungen durch Prämien in sich aufbringen“ und welche zugleich nach den verschiedenen Seiten hin „eine Kontrolle über ihre Mitglieder dahin ausüben können“, daß die Unterstützungsbedürftigkeit durch Vorbeugungsmaßregeln nach Möglichkeit vermieden wird und so den Genossenschaften möglichst wenig Lasten erwachsen.5 Leider enthielt das Unfallversicherungsgesetz von dieser genossenschaftlichen Organisation in seinem ersten Entwurf gar nichts, und es mußten gegenüber der projektierten bürokratischen und zentralistischen Verwaltung einige Gedanken genossenschaftlicher Mitwirkung und der Dezentralisation erst durch Bundesrat und Reichstag in das Gesetz hineingearbeitet werden.6 Auch die Ankündigungen über die Alters- und Invaliditätsversicherung, wie sie aus dem Munde des Herrn Professors Wagner durch die „Nordd[eutsche] Allg[emeine] Z[ei]tung“ und allerdings in sehr allgemeiner Form auch durch die „Prov[inzial]-Corr[espondenz]“ erfolgten,7 enthielten von genossenschaftlichen Organisationen nichts, sondern waren nur von einer zentralisierten Staatstätigkeit zu verstehen. Erst die weitere Diskussion brachte die berufsständischen Organisationen mehr zur Geltung, und zu unserer großen Freude fordert nun auch die kaiserliche Botschaft „den engeren Anschluß an die realen Kräfte des christlichen Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung“. Dadurch wird gehofft, „die Lösung auch von Aufgaben möglich zu machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sein würde“.

Diese Sätze sind ein hochbefriedigender Zug in der kaiserlichen Botschaft! Durch dieselbe wird ein großer Teil der Schwierigkeiten für die verschiedenen Arten der Arbeiterversicherung beseitigt, und wir geben uns der Hoffnung hin, daß auch die Unfallversicherungsvorlage, deren „Umarbeitung mit Rücksicht auf die im Reichstag stattgehabten Verhandlungen“ angekündigt wird, dem Reichstag aufgrund korporativer Versicherung innerhalb der einzelnen Erwerbszweige zugeht. Dadurch würde unter anderem auch die Frage der Reichs- oder Staatsversicherung vollständig in den Hintergrund gedrängt. Auch bei der angekündigten „Ergänzung“ der Unfallversicherungsvorlage „durch eine Vorlage, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt“, was bekanntlich zur Ausfüllung der Karenzzeit bei der Unfallversicherung erforderlich ist, hoffen wir die Selbstverwaltung der Kassen in vollem Maße erhalten zu sehen.

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Sind in allen diesen Beziehungen die Aussichten für eine Vereinbarung der hochwichtigen sozialpolitischen Vorlagen durch die kaiserliche Botschaft gestiegen, so bedauern wir um so tiefer, daß dieselbe an den bisherigen staatskommunistischen Nebengedanken unbedingt festhält. Bei der verhängnisvollen, in ihren Folgen gar nicht absehbaren Bedeutung, welche das Beschreiten dieses Weges für die Entwicklung unseres ganzen Staatslebens haben würde, halten wir uns hier ebensosehr zur Konstatierung unserer unerschütterlichen prinzipiellen und praktischen Bedenken für im Gewissen verpflichtet, als wir zu den Grundgedanken und Zielen und der angekündigten korporativen Organisation der verschiedenen Arbeiterversicherungsinstitute unsere volle und freudige Zustimmung aussprechen können. Wir brauchen uns aber über diese Vermischung von Armenpflege und Versicherung und über die Bedeutung „erheblicher Staatsmittel“ zu den Zwecken der Arbeiterversicherung hier nicht mehr auszulassen, da das oft genug geschehen ist. Nur das wollen wir noch einmal heute hervorheben, daß alle projektierten Versicherungsinstitute auch ohne diese staatskommunistischen Zutaten möglich sind und ohne dieselben der Gefahr entbehren, welche der Staatskommunismus ohne Zweifel im Gefolge haben müßte.

Zur Aufbringung der „erheblichen Mittel“ der Arbeiterversicherungen und zugleich zur „weiteren Durchführung der in den letzten Jahren begonnenen Steuerreform“ wird in der kaiserlichen Botschaft die Einführung des Tabakmonopols in Aussicht genommen und zugleich „die Wiederholung früherer Anträge auf stärkere Besteuerung der Getränke“. Das allein wären schon Gegenstände von kritischer Bedeutung, da aber selbst über die Ziele dieser Reform die Meinungen weit auseinandergehen, eröffnet das Regierungsprogramm die Aussicht auf die lebhaftesten parlamentarischen Kämpfe. Keine Partei des Hauses wird es ganz akzeptieren mögen!

Registerinformationen

Regionen

  • Preußen

Orte

  • Elberfeld
  • Wien

Personen

  • Dernburg, Friedrich (1833–1911) , Chefredakteur der „Nationalzeitung“ in Berlin
  • Wagner, Dr. Adolph (1835–1917) , Professor für Staatswissenschaften in Berlin

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Armenpflege
  • Bundesrat
  • Christentum
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Heilige Allianz
  • Kommunismus
  • Korporationen
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Parteien
  • Parteien – Nationalliberale
  • Presse
  • Presse – National-Zeitung
  • Presse – Norddeutsche Allgemeine Zeitung
  • Presse – Provinzial-Correspondenz
  • Reichsregierung
  • Selbstverwaltung
  • Staatssozialismus
  • Steuern
  • Tabakmonopol
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • 1Die 1871 gegründete „Germania. Zeitung für das deutsche Volk“ erschien in Berlin und war Zentralorgan der Zentrumspartei, Chefredakteur war Fritz Nienkemper. »
  • 2Vgl. Nr. 15 Anm. 3. »
  • 3Vgl. Neue preußische Zeitung Nr. 266 vom 12.11.1881. »
  • 4Vermutlich sind hier die entsprechenden Abhandlungen des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel Freiherr v. Ketteler gemeint; vgl. dazu die von Erwin Iserloh herausgegebene Ausgabe: Sämtliche Werke und Briefe, Mainz 1977 ff.; außerdem: Erwin Iserloh, Wilhelm Emmanuel von Ketteler ─ sein Kampf für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, Mainz 1987. »
  • 5Sten.Ber. RT 4. LP IV. Session 1881, S. 711─717 (713), Teilabdruck: Nr. 220 Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 6Vgl. Nr. 1 Anm. 13. »
  • 7Vgl. hierzu die Wahlrede Adolph Wagners in Elberfeld am 12.8.1881 (Abdruck: Nr. 189 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung) und die Ausführungen über diese Rede in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung Nr. 390 vom 23.8.1881 (Teilabdruck: Nr. 189 Bd. 1 der I. Abteilung, Anm. 6) und der Provinzial-Correspondenz Nr. 35 vom 31.8.1881. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 17, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0017

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