II. Abteilung, Band 1

Nr. 15

1881 November 18

Frankfurter Zeitung1 Nr. 322, Abendausgabe

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Kommentierung und Kritik der Kaiserlichen Botschaft

Mit Spannung durfte man nach dem unerwarteten Ausfall der Wahlen der ersten offiziellen Kundgebung der Regierung, der Thronrede bei Eröffnung des Reichstags, entgegensehen. Vergrößert wurde diese ganz natürliche Spannung in den letzten Tagen durch Nachrichten der seltsamsten Art. Nachdem zuerst die „Prov[inzial]-Corr[espondenz]“2 erklärt hatte, die Regierung sehe ihre wirtschaftlichen Pläne als fürs erste gescheitert an, bereitete ein Artikel der „Post“3 die Welt auf den Rücktritt [ Druckseite 73 ] des Kanzlers vor. Dann hieß es, Fürst Bismarck werde den Versuch machen, ein Verständigungsministerium zu bilden und sich zu diesem Zweck mit dem Zentrum und den Liberalen in Verhandlungen über ein bestimmtes, einer Majorität genehmes Regierungsprogramm einlassen.4 Dann wieder: Fürst Bismarck werde die Dinge ihren Lauf gehen lassen, er halte es für das beste, wenn die Maschine ganz stillstehe, da alsdann ein Umschwung der Stimmung der Wähler mit Sicherheit zu erwarten sei. Da die Widersprüche in diesen Nachrichten handgreiflich waren, wußte zuletzt niemand mehr, was die Regierung unter der Logik der durch die Wahl geschaffenen Tatsachen, von der ihre Presse immer wieder sprach, eigentlich verstehe, und daraus erklärt sich die aufs höchste gespannte Erwartung, mit der man der Erlösung von allen Zweifeln durch die Thronrede entgegensah.

Diese Erlösung ist jetzt da, und allgemeine Überraschung wird ihr folgen, eine Überraschung von keineswegs angenehmer Art. Wenn man die Thronrede vor sich hat, sollte man glauben, die Wahlen hätten ein den Absichten und Wünschen der Regierung entsprechendes Resultat gehabt, in den Reichstag sei eine Mehrheit zur „vertrauenden Unterordnung“ unter die Regierung eingezogen, eine Mehrheit, die bereit wäre, alle Projekte des Reichskanzlers, denen sich der vorige Reichstag widersetzt hat, zur Ausführung zu bringen. Nur, wenn man die Tatsachen auf den Kopf stellt, kann man zu solcher Logik derselben gelangen.

Um es mit einer kurzen Formel zu sagen: Diese Eröffnungsrede in der Form einer kaiserlichen Botschaft ─ aus dieser Form ergibt sich, daß der Kaiser seine Absicht, in eigener Person den Reichstag zu eröffnen, erst in allerletzter Stunde aufgegeben hat ─ gibt dem Gedanken, den der Reichskanzler im vorigen Jahr in die Worte faßte: „J‘y suis, j‘y reste“5, die richtige Deutung und eine bemerkenswerte Ergänzung. Der Kanzler bleibt, und er bleibt der, der er ist; er gibt trotz des Ausfalls der Wahlen, [ Druckseite 74 ] deren Bedeutung allgemein als eine Niederlage seiner Politik erkannt wurde, kein Jota von seinem politischen und wirtschaftlichen Programm auf.

Das ist nicht etwa zwischen den Zeilen zu lesen, sondern tritt in denselben klar und bestimmt hervor. Da wird zuerst angekündigt, die Regierung werde den Versuch, eine Verlängerung der Budget- und Legislaturperioden herbeizuführen auch jetzt wieder erneuern, da heißt es weiter, das Unfallversicherungsgesetz werde wiederkehren, ohne daß auch nur angedeutet wird, die Idee des Staatszuschusses, die im vorigen Reichstag nahezu einstimmig zurückgewiesen wurde, sei aufgegeben. Abermals wird das bekannte finanzpolitische Programm des Reichskanzlers vorgetragen und durch das „letzte Ideal“, das Tabaksmonopol, erweitert. Das System der indirekten Besteuerung soll erweitert werden, einesteils, um die Bürger von der Last der direkten Steuern zu befreien, anderenteils, um das Reich in den Stand zu setzen, seine Fürsorge für die arbeitenden Klassen durch Unfallversicherung, Alters- und Invalidenversicherung betätigen zu können. Die bezüglichen Ausführungen der kaiserlichen Botschaft geben fast wörtlich die Gedanken wieder, die der Reichskanzler früher vor der Volksvertretung entwickelt hat und die während der Wahlbewegung von der Regierungspresse so eifrig ausgesponnen wurden, um als Propaganda für die gouvernementalen Kandidaten zu dienen. Nur dem sozialpolitischen Programm des Zentrums6 scheint ein Zugeständnis gemacht worden zu sein; so wenigstens deuten wir den Passus von dem „Zusammenfassen der realen Kräfte des Volkslebens in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung“.

Der neuen Wirtschaftspolitik wird ein gutes Zeugnis ausgestellt. Wieweit sich hier von Erfolgen für die Finanzen des Reichs reden läßt, wird sich demnächst bei Prüfung des Budgets herauszustellen haben; von Erfolgen gleicher Art für die Hebung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes schweigt die Botschaft. Hier haben auch die Handelskammerberichte und andere Zeugnisse laut genug gesprochen, und wenn es an anderer Stelle in der Thronrede heißt, die Bestrebungen der Regierung seien von fiskalischen Hintergedanken frei, so wird man sich einer objektiven Prüfung der Wirkungen der Schutzzollpolitik auf das Wohl der Nation nicht entziehen können. Was die Zölle dem Reich zuführen, steht doch erst in zweiter Linie; die nächstliegende Frage kann nur sein: Was bringen sie dem Volk?

Keine der Verheißungen, die wir vor den Wahlen zu hören bekamen, fehlt in der Thronrede, sie machen also wirklich das Programm der Regierung aus. Glaubt diese aber, nachdem das Land sein Votum darüber abgegeben, nachdem es namentlich das Tabaksmonopol und die Pensionierung der Arbeiter aus Staatsmitteln mit erdrückender Majorität zurückgewiesen hat, der dieses Volksvotum repräsentierende Reichstag werde ihr Programm durchführen? Ein derartiger Glaube würde aller tatsächlichen Begründung entbehren, und so stehen wir, indem wir eines Rätsels Lösung haben, indem wir jetzt wissen, was die Regierung will, sogleich vor einem zweiten Rätsel, vor der Frage: Was will eine Regierung mit solchem Programm mit dem jetzigen Reichstag anfangen? Die Regierungspresse hat jüngst auf drei Möglichkeiten hingewiesen, [ Druckseite 75 ] auf baldige Auflösung des Reichstags, auf eine aus verschiedenen Parteien zusammengesetzte Majorität unter Führung der Regierung und endlich unter dem Bild einer Maschine, deren Räder gegeneinander arbeiten, auf vollständigen Stillstand in der Gesetzgebung. Da die Regierung ihre Gründe hat, einstweilen wenigstens die Auflösung nicht in den Kreis ihrer Berechnungen zu ziehen, da eine Majorität für eine Politik, in deren Mittelpunkt das Tabaksmonopol steht, nicht zu gewinnen sein wird, so bleibt nur die dritte Möglichkeit übrig, denn auch an ein „Verständigungsministerium“ aufgrund des in der Botschaft niedergelegten Programms kann nicht gedacht werden.

Stillstand demnach ─ ja, wenn es auch dabei sein Bewenden haben könnte. Aber dieser Stillstand wird nicht etwa die Folge resignierten Abwartens sein, sondern das Ergebnis resultatlosen Ringens von Gegensätzen, die sich im Kampf mehr und mehr verschärfen und schließlich zu schweren Konflikten führen müssen. Unfruchtbar an Resultaten, aber fruchtbar an erbitterten und verbitternden Debatten wird die nächste Zukunft sein, und nicht Segen, nicht Frieden und Wohlfahrt ist es, was die Nation davon zu erwarten haben wird. Sollte der Reichskanzler für die in der Thronrede dargelegte Politik die Zustimmung nicht nur des Kaisers, die ja selbstverständlich ist, sondern auch die des Kronprinzen gefunden haben, so eröffnet sich uns der betrübende Ausblick in eine unabsehbare Ära ernster Zerwürfnisse zwischen Volk und Regierung. Wenn Fürst Bismarck wirklich die Logik der durch die Wahlen geschaffenen Lage durch Beharren auf seinen Plänen hat erhärten wollen, so wird andererseits auch die deutsche Nation nicht umhin können, ihrerseits im Beharren im Widerstand die zwingende Logik anzuerkennen.

So trüber Aussicht steht in erfreulichem Gegensatz die Eröffnung gegenüber, welche die Botschaft dem Lande über unsere äußeren Beziehungen macht. Die Zuversicht in die Erhaltung des Friedens ist noch nie in einer deutschen Thronrede so voll und entschieden zum Ausdruck gelangt. So zuverlässig die Bürgschaft sein mag, die das Verhältnis der drei Kaiserreiche7 für die Erhaltung des Friedens bietet, als zuverlässigere Bürgschaft erscheint uns die in der Botschaft konstatierte Tatsache, daß der Glaube an Deutschlands friedliebende Politik bei allen Völkern festen Bestand gewonnen hat, denn es steht zu erwarten, daß dieser Glaube allein hinreichen wird, auch die Politik der anderen Völker mit der gleichen Tendenz zu erfüllen.

So werden wir denn, nicht beängstigt von Sorgen um die allen Parteien gleichmäßig am Herzen liegende Sicherheit des jungen Reiches, alle unsere Sorge, alle unsere Kraft darauf verwenden können, daß die leider unvermeidlichen Kämpfe im Innern zu einem für das Wohl der Nation heilsamen Ende geführt werden. Das Volk hat seinen Willen kundgegeben, Sache seiner Vertreter ist es zunächst, diesen Willen in verfassungsmäßiger Weise zur Geltung zu bringen.

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Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Hertling, Dr. Georg Freiherr von (1843–1919) , Philosophieprofessor in München, MdR (Zentrum)
  • Mac-Mahon, Maurice (1808–1893) , französischer Marschall
  • Wagner, Dr. Adolph (1835–1917) , Professor für Staatswissenschaften in Berlin
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Agitation
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Außenpolitik
  • Bundesrat
  • Bundesregierungen
  • Christentum
  • Etat, Reichsetat
  • Gemeinden, Kommunen
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Handelskammern
  • Korporationen
  • Maschinen
  • Parteien
  • Parteien – Sezession
  • Presse
  • Presse – Liberale Korrespondenz
  • Presse – Die Tribüne
  • Reichstag
  • Reichsverfassung
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Staatszuschuß
  • Steuern
  • Tabakmonopol
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Zölle
  • 1Die 1856 gegründete demokratische „Frankfurter Zeitung“ stand der Deutschen Volkspartei nahe, sie erschien in Frankfurt/M., Gründer, Eigentümer und Herausgeber war Leopold Sonnemann; vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, Frankfurt/M. 1911. »
  • 2Vgl. Provinzial-Correspondenz Nr. 44 vom 2.11.1881. »
  • 3Vgl. den Artikel Der Reichskanzler, in dem berichtet wird: Bismarck beabsichtigt, dem Vernehmen nach, im Laufe dieser Woche nach Berlin zurückzukehren, um angesichts des Ergebnisses der Reichstagswahlen S(eine)r Majestät dem Kaiser über die zukünftige Gestaltung der Regierung Vortrag zu halten. Wie wir hören, soll der Reichskanzler geäußert haben, er wäre es müde, das Stichblatt für alle Bosheit, Niederträchtigkeit, Verleumdung und neidische Verdächtigung zu sein, welche eine Bevölkerung von 45 Millionen ablagerte. Der Undank der Juden, die gerade seiner Reichspolitik ihre Gleichstellung verdanken, wird ihn vielleicht weniger kränken als die Tatsache, daß die große Majorität der deutschen Presse ihn politisch und persönlich anfeindet und seine Absichten verleumdet und daß die Mehrzahl der deutschen Wähler sich durch eigene Feindschaft oder durch wahrheitswidrige Agitationen bestimmen läßt, Gegner zu wählen, mit welchen eine Konsolidierung des Reiches und des monarchischen Prinzips unmöglich ist (Die Post Nr. 308 vom 9.11.1881). »
  • 4Die sezessionistische „Tribüne“ berichtet hierzu: Gegenüber der festen und einsichtigen Haltung, die das Volk bei der letzten Wahl innegehalten, werden Versuche, uns nachteilige Gesetze aufzudrängen, scheitern. Die liberale Partei im Reichstag ist nicht stark genug, um eine Vertretung in der Regierung beanspruchen zu können, aber stark genug, um einen Damm aufzuwerfen gegen Projekte, denen wir noch vor wenigen Monaten mit banger Sorge entgegenstanden (zitiert nach: Frankfurter Zeitung Nr. 323, Abendausgabe, vom 19.11. 1881). »
  • 5Dem französischen Marschall Maurice Mac-Mahon zugeschriebenes geflügeltes Wort. Bismarck griff es in seiner Rede im preußischen Abgeordnetenhaus am 4.2.1881 anläßlich der Beratung des Gesetzentwurfs, „betreffend die Verwendung der infolge weiterer Reichssteuerreformen an Preußen zu überweisenden Geldsummen“, im Hinblick auf das Tabakmonopol auf (Sten.Ber. AbgH 14. LP, 2. Session 1880/81, Bd. 2, S. 1541). Die entsprechenden Ausführungen lauteten: Ein braves Pferd stirbt in den Sielen. Ich habe früher die Absicht zurückzutreten unumwunden erklärt, weil ich mich körperlich nicht leistungsfähig mehr fühlte, die Sache fortzusetzen und weil ich bei meinen Kollegen nicht überall die Unterstützung fand, deren ich bedurfte, ich halte es für nützlich zu konstatieren, daß ich von dieser Velleität ganz zurückgekommen bin, es fällt mir nicht ein, zurückzutreten. J’y suis, j’y reste. Ich sage, ich gedenke so lange im Amt zu bleiben, wie Seine Majestät der Kaiser es für gut findet: Sein Wille ist das einzige, was mich aus dem Sattel heben wird. »
  • 6In seiner Reichstagsrede vom 1.4.1881 hatte der sozialpolitische Sprecher des Zentrums Freiherr v. Hertling korporative Unfallversicherungsgenossenschaften als Träger der Unfallversicherung vorgeschlagen. Damit war auch ein gewisser Anklang an ständegesellschaftliche Vorstellungen verbunden (27. Sitzung, Sten.Ber. RT 4. LP IV. Session 1881, S. 689 f.). »
  • 7Gemeint sind das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und Rußland. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 15, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0015

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