II. Abteilung, Band 1

Nr. 11

1881 November 17

Bericht1 des Bundesratsbevollmächtigten Karl Paul Edler von der Planitz2 an den sächsischen Außenminister Hermann von Nostitz-Wallwitz3

Ausfertigung

Politische Ansichten und Absichten Bismarcks nach der Reichstagswahl

Dem mir gewordenen Auftrag entsprechend habe ich bei der heute erfolgten Eröffnung des Reichstags das Königreich Sachsen als erster Bevollmächtigter zum Bundesrat vertreten. Wie Euer Exzellenz aus den Zeitungen ersehen haben werden, hat Seine Majestät der Kaiser davon Abstand genommen, die Eröffnung in allerhöchsteigener Person auszuführen; die Erwartung der Eröffnung des Reichstags durch Seine Majestät hatte indes bewirkt, daß die Reichstagsmitglieder sich verhältnismäßig zahlreich eingefunden hatten.

Bemerkenswert an der Thronrede scheint, neben der Ankündigung des Tabaksmonopols und der Altersversorgung pp., die Betonung der wirtschaftlichen Entwicklung des Reichs in der früher angekündigten und bereits versuchten Richtung und endlich die vollständige Ignorierung des Umstandes, daß anscheinend durch den Ausfall der Wahlen die finanzwirtschaftlichen Reformen und Unternehmungen in dieser Ausdehnung im allgemeinen von den Wählern nicht gewünscht werden.

Ein Exemplar der Thronrede erlaube ich mir Eurer Exzellenz in der Anlage ganz gehorsamst zu übersenden.

Bei dem Diner, welches der Reichskanzler gestern dem Bundesrat gab, äußerte er sich in bezug auf die Wahlen in ziemlich energischer Weise.4 Besonders unangenehm berührt schien er durch die indifferente Haltung der Großgrundbesitzer; er exemplifizierte [ Druckseite 68 ] daher besonders auf den Oberstkämmerer Grafen Redern5, der für Wahlzwecke erst gar nichts habe geben wollen, schließlich allerdings 50 Mark geschickt habe, deren Annahme dann indes verweigert worden sei. Ebenso unverhohlen sprach er seinen Ärger über einzelne Regierungen, z. B. Meiningen und Weimar aus, Staaten in denen der Ehrgeiz der leitenden Minister eben bloß darin bestehe, die Sekretäre der Majoritäten in ihren betreffenden Landesvertretungen zu sein. Dieser Indifferentismus würde sich nach Ansicht des Fürsten aber nicht bloß an den betreffenden Staatsmännern und Regierungen, sondern auch an den Existenzbedingungen der Staaten selbst notwendigerweise bestrafen. Er, der Reichskanzler, könne die Stärke und Macht, welche die Regierungen bedürften, allein nicht verteidigen; er brauche die Unterstützung. In dem Bewußtsein der mangelnden Unterstützung und der schweren Angriffe gegen ihn, als den angeblichen Vertreter der Reaktion in jeder Beziehung bis zu der Wiederherstellung des jus primae noctis, hätte er daran gedacht, einem anderen die Führung des Kampfes zu übertragen; die Pflicht, den Wünschen seines kaiserlichen Herrn zu entsprechen, habe ihn aber bewogen, auf seinem Posten auszuharren. Freilich könne dieses Ausharren immer nur ein bedingtes sein, das heißt, er werde die Führung der äußeren Angelegenheiten eventuell fortbehalten, dagegen in der inneren Politik sich durch einen Vizekanzler vertreten lassen, den man aus den leitenden Parteien des Reichstags nehmen müsse. Er nannte dann als einen derartigen Vizekanzler den Freiherrn von Franckenstein, der seinerseits sich dann wahrscheinlich auf Moufang stützen werde, und andererseits die Herren von Bennigsen6 und von Forckenbeck7 als die Vertreter der alten Nationalliberalen Partei (jetzt Nationalliberale und Sezessionisten).

Es ist dies dasselbe Projekt, welches die Zeitungen schon vielfach gebracht haben, dessen Ausführbarkeit indes wenig Glauben findet und vielleicht auch beansprucht.

Rücksichtlich der Wirtschaftspolitik schien der Reichskanzler nach seinen Äußerungen einen Stillstand für geboten zu halten, und wird diese Annahme auch durch die Thronrede nicht entkräftet.

Interessant war es, daß der Reichskanzler sich bei dieser Gelegenheit auch über den8 Besuch von Gambetta9 bei ihm äußerte. Schon 1874 sei über einen derartigen Besuch verhandelt worden, derselbe sei aber damals nicht zur Ausführung gekommen; jetzt habe Gambetta wohl auf eine Aufforderung seitens des Reichskanzlers gewartet, zu einer derartigen Aufforderung die Gelegenheit gegeben und vielleicht sogar den Wunsch [ Druckseite 69 ] gehabt, seinerseits in dieser Beziehung den ersten Anlaß zu bieten, schließlich diesen Schritt aber unterlassen, wohl in Rücksicht auf die mögliche Auslegung desselben. Jedenfalls sei Gambetta nicht bei ihm gewesen; er, der Reichskanzler, habe aber keine Veranlassung gehabt, die Nachrichten über die Zusammenkunft zu desavouieren.

Registerinformationen

Regionen

  • Elsaß-Lothringen
  • Sachsen-Meiningen, Herzogtum
  • Sachsen-Weimar-Eisenach, Großherzogtum

Personen

  • Bennigsen, Dr. Rudolf von (1824–1902) , Landesdirektor der Provinz Hannover, MdPrAbgH, MdR (nationalliberal)
  • Forckenbeck, Dr. Max von (1821–1892) , Rechtsanwalt, Oberbürgermeister von Berlin, MdR (Sezession)
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von , und zu (1825–1890) , Jurist und Gutsbesitzer in Ullstadt (Be-, zirksamt Scheinfeld), MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Gambetta, Leon (1838–1882) , französischer Ministerpräsident
  • Moufang, Dr. Christoph (1817–1890) , Bistumsverweser in Mainz, MdR (Zentrum)
  • Redern, Wilhelm Graf von (1802–1883) , preußischer General und Oberstkämmerer
  • Rouvroy, Claude Henry de, Graf von Saint Simon (1760–1825) , französischer Soziologe und Sozialreformer

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Außenpolitik
  • Berufsstatistik
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Matrikularbeiträge
  • Parteien
  • Parteien – Nationalliberale
  • Parteien – Sezession
  • Parteien – Zentrum
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Sachsen-Meiningen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Sachsen-Weimar-Eisenach
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Zölle
  • 1Ausfertigung: SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 1405, n. fol., Entwurf: ebenda, Bestand 10719 Sächsische Gesandtschaft Nr. 235, n. fol. »
  • 2Karl Paul Edler von der Planitz (1837─1902), Oberstleutnant im sächsischen Kriegsministerium, seit 1873 Militärbevollmächtigter in Berlin, seit 1874 Bundesratsbevollmächtigter; im Winter 1881/82 vertrat er für die Dauer von etwa acht Monaten den sächsischen Gesandten und stimmführenden Bundesratsbevollmächtigten Oswald v. Nostitz-Wallwitz. »
  • 3Hermann von Nostitz-Wallwitz (1826─1906), seit 1876 sächsischer Außenminister, seit 1866 sächsischer Innenminister. »
  • 4Vgl. dazu auch den Bericht des badischen Bundesratsbevollmächtigten Hans Freiherr v. Türckheim vom 17.11.1881 (Entwurf: GLA Karlsruhe 49 Nr. 2012, n. fol.; Teilabdrucke bei: Fürst Bismarck. Neue Tischgespräche und Interviews, hg. von Heinrich von Poschinger, Stuttgart und Leipzig 1899, S. 115 ff., und Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871─1907, hg. von Walther Peter Fuchs, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 165─167). Vgl. auch weitere Berichte über dieses Diner, u. a. des braunschweigischen Ministerresidenten vom 17.11.1881 (Ausfertigung: Nieders. StA Wolfenbüttel 12 Neu Präs., 12 Neu 13 Nr. 4285, n. fol.), des württembergischen Gesandten vom 17.11.1881 (Abschrift: BArch N 1298 [Goldschmidt] Nr. 30, n. fol.) und des sächsischen Gesandten vom 17.11.1881 (vgl. Nr. 11); vgl. ergänzend Nr. 21 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 5Wilhelm Graf von Redern (1802─1883), preußischer General und Oberstkämmerer, vgl. dazu den Brief Wilhelm v. Bismarcks an seinen Vater vom 13.10.1881 (Nr. 208 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung), sowie: Friedrich Wilhelm von Redern, Unter drei Königen. Lebenserinnerungen eines preußischen Oberstkämmerers und Generalintendanten, Köln 2003. »
  • 6Dr. Rudolf von Bennigsen (1824─1902), seit 1868 Landesdirektor der Provinz Hannover, seit 1867 MdPrAbgH und MdR (nationalliberal). »
  • 7Dr. Max von Forckenbeck (1821─1892), seit 1878 Oberbürgermeister von Berlin, seit 1867 MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung). »
  • 8Wohl nachträgliche Einfügung von unbekannter Hand: angeblichen. »
  • 9Leon Gambetta (1838─1882), seit 14.11.1881 französischer Ministerpräsident.Gambetta, ehemaliger (1870) französischer Kriegsminister, hielt sich als Führer der französischen Republikaner und designierter Regierungschef im September 1881 inkognito in Deutschland auf, vgl. hierzu: Helmuth Rogge, Holstein und Hohenlohe, Stuttgart 1957, S. 164 ff., sowie J. P. T. Bury, Gambetta’s Final Years. ‚The Era of Difficulties‘ 1877─1882, London u. New York 1982, S. 269 ff. Gambetta galt als Gegner des Versailler Friedensvertrages und plante mit englischer und russischer Hilfe, Elsaß-Lothringen zurückzuerobern. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 11, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0011

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