Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 178

1884 Mai 23

Bericht1 über die 22. Sitzung der VII. Kommission des Reichstags

Druck

[Beratung über die §§ 9─67 der Unfallversicherungsvorlage in zweiter Lesung, Eingeständnis der Regierungsmitwirkung beim sog. klerikal-konservativen Kompromiß]

In der Sitzung vom 23. wurde zunächst gegen den Widerspruch des Geh. Rats Bödiker ein Antrag von deutsch-freisinniger Seite angenommen, wonach die Kinder des Verunglückten auch dann eine Entschädigungsrente erhalten, wenn die Ehe ihres Vaters erst nach dem Unfalle geschlossen ist. Zu § 9 beantragten die vereinigten Klerikalen und Konservativen Beseitigung der Bestimmung, wonach auf Antrag der beteiligten Betriebsunternehmer die Berufsgenossenschaft auf das ganze Reichsgebiet ausgedehnt werden kann, erklärten dies indes für eine bloß redaktionelle Änderung, da die im § 9 vorgesehene Bildung der Berufsgenossenschaften “für bestimmte Bezirke” auch die Möglichkeit enthalte, das Reich als solchen Bezirk anzusehen.2 Der Antrag ward angenommen.

Ein Kollektivantrag der Deutsch-freisinnigen3 bezweckte die Lösung der Versicherungsfrage in erster Linie auf dem Wege der Privatversicherung anstelle der Berufsgenossenschaften. Dieser eventuelle Antrag war in erster Linie darauf gerichtet, [ Druckseite 616 ] alle Arten von Versicherungsanstalten (Gegenseitigkeits- und Aktiengesellschaften), in zweiter Linie wenigstens die Gegenseitigkeitsgesellschaften zuzulassen, wie letzteres ein Antrag des Abg. Buhl in erster Lesung erstrebt hatte. Von nationalliberaler Seite [Marquardsen] wurde die Erklärung abgegeben, daß man, um das Zustandekommen des Gesetzes nicht zu gefährden, auch in der abgeschwächten Form des Buhlschen Antrags erster Lesung von der Privatversicherung absehe, und daß man hierin keine Verleugnung der Prinzipien des vor zwei Jahren eingebrachten Haftpflichtantrags Buhl und Genossen4 erblicken könne, weil dieser Antrag nur auf dem Wege des Kompromisses zustande gekommen sei und sich mit den Anschauungen der nationalliberalen Fraktion nicht decke. Von freisinniger Seite wurde darauf hingewiesen, wie sehr man damals von nationalliberaler Seite auf die Regelung der Versicherung auf dem Wege des Zwangs zur Privatversicherung gedrängt und wie im besonderen Abg. v. Bennigsen sich hierfür bemüht, dagegen die damalige sezessionistische und fortschrittliche Partei gerade im Interesse der Einigung mit den Nationalliberalen diesen bei dem Antrage Buhl und Genossen die wesentlichsten Konzessionen gemacht habe.5 Staatsminister v. Boetticher war gegen die Zulassung [ Druckseite 617 ] der Privatversicherung, weil die Berufsgenossenschaften daneben nicht bestehen könnten.

Auf eine bezügliche Andeutung von freisinniger Seite [Löwe; außerdem kritisierte der nationalliberale Dr. Marquardsen die Vorgänge in Form einer persönlichen Erklärung] gesteht Herr v. Boetticher zu, daß die zur zweiten Lesung gestellten Kollektivanträge der Konservativen und Klerikalen mit Hilfe eines Regierungsvertreters redigiert seien.6

Bei der Abstimmung wurde § 9 mit obiger Abänderung angenommen, unter Verwerfung aller freisinnigen Anträge. Gegen letztere stimmten auch die Nationalliberalen, auch in der eventuellen, in erster Lesung von ihnen selbst eingebrachten Fassung, und ist hiermit die Privatversicherung in jeder Form beseitigt.

Zu § 10 war von freisinniger Seite Einführung des Deckungsverfahrens statt des Umlageverfahrens beantragt. Der Antrag wird mit allen, auch den nationalliberalen Stimmen gegen die Stimmen der Freisinnigen abgelehnt. § 10 wurde nach den Anträgen v. Hertling und Genossen wesentlich der Regierungsvorlage entsprechend angenommen, unter Beseitigung der vom Zentrum in erster Lesung beantragten und durchgesetzten Rückversicherung bei Privatgesellschaften sowie unter Aufnahme einer Bestimmung, welche die Vorauserhebung von Beiträgen zum Zwecke der Deckung der Verwaltungskosten ermöglicht.

Die §§ 11 bis 16 wurden mit kleinen Abänderungen angenommen; § 17 mit dem von nationalliberaler Seite gestellten Antrage, daß durch das Genossenschaftsstatut auch über die Versicherung nicht versicherungspflichtiger Personen Bestimmung getroffen werden kann. Die Beschlußfassung über §§ 18 und 19 wurde nach kurzer Debatte vertagt.7 Die §§ 20 bis 31 wurden teils verändert, teils mit unerheblichen [ Druckseite 618 ] Abänderungen angenommen. Zu § 33 beantragten Abg. v. Hertling und Genossen Wiederherstellung der Vorlage, wonach die Verpflichtungen leistungsunfahiger Berufsgenossenschaften aufs Reich (anstatt, wie in erster Lesung beschlossen, auf die Gesamtheit der Genossenschaften) übergehen sollen. Von freisinniger Seite wurde Streichung jeder Garantie beantragt; der konservative Antrag wurde vom Abg. Marquardsen unterstützt, vom Abg. Buhl bekämpft. Abg. Schrader wies auf die Verfassungsschwierigkeiten hin, die entstehen würden, wenn man dem Bundesrate die Befugnis zuweise, durch Auflösung von Berufsgenossenschaften das Reich mit unabsehbaren Verpflichtungen zu belasten. Abg. Barth führte aus, wie die Reichsgarantie und eine Subvention an die Betriebsunternehmer nur eine traurige Konsequenz des unsoliden Umlageverfahrens sei. Abg. Bötticher sprach sich für die Reichsgarantie aus; man werde zu erwägen haben, ob man nicht auch bei der Krankenversicherung zur Staatsgarantie gelange. § 33 ward mit der Reichsgarantie angenommen; gegen die Reichsgarantie stimmten die Freisinnigen und die Abgg. Dr. Buhl und Oechelhäuser. Die §§ 34 bis 37 wurden ohne Debatte nach den Beschlüssen erster Lesung angenommen, letzterer mit unerheblichen Zusätzen, ebenso §§ 38 bis 40. §§ 41 bis 45 sollen nach dem Antrag v. Hertling und Genossen wesentlich umgestaltet werden.8 Die neue Gestaltung nähert sich wieder mehr den Arbeiterausschüssen der [Regierungs-]Vorlage, jedoch mit wesentlicher Abschwächung des Einflusses der Arbeiter. Der Antrag v. Hertling wurde angenommen. Ebenso die §§ 46 bis 62 mit kleinen Änderungen. Zu § 63 wiederholten die Abgg. Gutfleisch und Schrader den Antrag, den Versicherten und deren Hinterbliebenen den ordentlichen Rechtsweg zu gestatten. Der Antrag ward wiederum vom Zentrum und den Konservativen gegen Nationalliberale und Freisinnige abgelehnt. Die §§ 63 bis 67 wurden fast unverändert angenommen. Darauf wurde die Sitzung vertagt.

[ Druckseite 619 ]

Registerinformationen

Personen

  • Barth, Dr. Theodor Wilhelm (1849─1909) Schriftsteller, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Bennigsen, Dr. Rudolf von (1824─1902) Landesdirektor der Provinz Hannover, MdR (nationalliberal)
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Kulmiz, Dr. Paul von (1836─1895) Rittergutsbesitzer und Industrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Marquardsen, Dr. Heinrich (1826─1897) Staatsrechtslehrer, MdR (nationalliberal)
  • Oechelhäuser, Wilhelm (1820─1902) Industrieller, MdR (nationaliberal)
  • Schrader, Karl (1834─1913) Eisenbahndirektor, MdR (Liberale Vereinigung)
  • 1ZfV, 8. Jg. 1884, S. 291, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3081, fol. 351─355 Rs., Anträge: fol. 356─361. »
  • 2SP: Abg. v. Maltzahn erläutert die Fassung der Anträge unter Nr. 34 (vgl. Nr. 176). Dr. Barth: es sei ihm nicht klar geworden, wie man es mit diesen Bezirken halten wolle. Lehnt seine u. seiner Freunde Verantwortung für das Gesetz gänzlich ab. Er habe keinen Grund gegen die eventuelle Beteiligung der Privatgesellschaften gehört. Staatsminister v. Boetticher: Die Privatgesellschaften böten keinen Raum für den Inhalt des vorgeschlagenen Gesetz(es); er würde bei jeder Aufforderung zu Verbesserung des Gesetzes mitgewirkt haben. Man wolle die freiwillige Bildung von Berufsgenossenschaften aufgrund der Wünsche der Industrie; dann erfolge die Prüfung dieser Wünsche. Hierbei werde der Gesichtspunkt der dauernden Leistungsfähigkeit der entscheidende sein. Das “Wie?” könne nicht beantwortet werden, da die Wünsche der Industrie noch nicht bekannt seien. Er sehe nicht ein, warum eine Berufsgenossenschaft weniger leistungsfähig sein solle als die Privatgesellschaften. Der Krach sei auch gar nicht so gefährlich, gegen denselben gebe der § 23 Handhabe. Abg. Frhr. v. Hertling: Es solle die größtmöglichste Freiheit bei der Bildung der Berufsgenossenschaften herrschen; in seinem Antrag liege kein anderer Sinn als der Wortlaut darstelle. Die Durchführbarkeit denke er sich ebenso wie die Regierung in ihrer Vorlage. Man könne ziffernmäßig nicht zum Ausdruck bringen, inwieweit es gerecht sei, den Arbeitgeber u. Arbeitnehmer an den Kosten der Unfallversicherung teilnehmen zu lassen. »
  • 3Abänderungsantrag Nr. 36 Dr. Barth, Eberty, Eysoldt, Dr. Gutfleisch, Dr. Hirsch, Loewe, Dr. Rèe, v. Schirmeister, Schrader (BArchP 01.01 Nr. 3081, fol. 349). Dieser Antrag, nach dem die Unternehmer der nach § 1 versicherungspflichtigen Betriebe die Versicherung bei einer zu diesem Zwecke im Deutschen Reiche zugelassenen Versicherungsanstalt (Genossenschaft oder sonstigen Versicherungsgesellschaft) zu bewirken hatten, war für den Fall der Ablehnung mit einem weiteren Antrag (eventuell) und für den Fall der Ablehnung auch dieses mit einem zusätzlichen Ganz eventuell-Antrag versehen. »
  • 4Vgl. Nr. 37. »
  • 5Das Sitzungsprotokoll vermerkt: Dr. Buhl hat seine und die Oechelh(äuserschen) Anträge nicht wiederholt, da sie aussichtslos seien. Abg. Marq(uardsen) verwahrt sich und die nationalliberale Partei gegen ihre Vinculierung durch den früheren Buhlschen Antrag. Hofft auf Kompromisse im Plenum auf der Basis der 1. Kom(missions)Lesung. Dr. Hirsch begreift die Resignation der Nationalliberalen nicht, da es sich hier um prinzipielle Paragraphen handele. Wendet sich gegen die Hertlingschen Ausführungen, hält es für nicht zutreffend, daß unter “bestimmten Bezirken” auch das Reich zu verstehen sei. Ob nun gleichartige und verwandte Betriebe Berufsgenossenschaften bilden dürften oder ob dies allen möglichen Betrieben gestattet sei? Wenn z. B. die Württembergischen oder die bayerischen Betriebe eine Berufsgenossenschaft bilden wollen, müsse der Bundesrat dies genehmigen. Abg. Löwe freut sich über die korrekte Situation, welche durch die Hertlingschen Anträge gebildet worden sei; es lägen jetzt präzise und klare Übereinkünfte vor, welche entsprechend im Plenum bekämpft werden könnten. Die vorgeschlagene Organisation sei eine Prämie auf die Festhaltung der Unfälle. Jeder Industrielle, der es gut meine, werde in Strafkompanien hineingezwungen, wo es für andere, mit denen er zusammengespannt werde und die keine so hohen idealen Interessen hätten und nichts für (die) Besserung ihrer Einrichtung tätigen, mitbezahlen müßte. Man wende Zwangsmittel an, da man Angst habe, sonst Fiasko zu machen. Redner bespricht das Verhältnis seiner Partei zu den Nationalliberalen. Staatsminister v. Boetticher: Man habe keine Angst, wolle aber die Lebensfähigkeit der Schöpfungen schützen gegen die Konkurrenz der Privatgesellschaften. Der deutsche Entwurf gälte allgemein als der beste, und man könne deshalb nicht behaupten, daß damit keine Ehre eingehalten werde. An Stelle des jetzigen Laissezfaire wolle man eine feste Organisation mit Abstufung der Gefahrenklassen pp. treten lassen. Für jeden Unfall müsse die Genossenschaft bluten, es könne von einer Prämie für gewissenlose Betriebe gar keine Rede sein. Dr. Buhl: Wenn ein Gesetz zustande komme, welches das Interesse der Arbeiter wahre, so werden er und seine Freunde sich an dieser Arbeit beteiligen u. ein Teil seiner Anträge werde in der Plenarberatung wieder eingebracht werden. Das Compelle (Zwangsmittel) zur Verhütung von Unfällen sei bei der Vorlage mindestens ebenso groß wie bei den Privatgesellschaften. Dr. Barth bestreitet, daß er die Zwangsversicherung für notwendig halte, er glaube, daß seine Freunde ebenso dächten. Für die Privatgesellschaften liege eine genügende Garantie vor. Die Zwangsgenossenschaften würden allerdings die Konkurrenz jener nicht aushalten. Staatsminister v. Boetticher: Das sei ein weiterer Grund, um die Privatwirtschaft auszuschließen; erwähnt den Fall, wenn eine Privatgesellschaft plötzlich aufhöre und ihren Verpflichtungen nicht nachkäme, worauf Abg. Barth antwortet, daß man ja zu bestimmten Deckungskapitalien zwingen könne. »
  • 6Vgl. Nr. 175. »
  • 7 Dr. Buhl wünscht entsprechend seinem Antrag eine wesentliche Erhöhung des Reservefonds, der von dem Abg. Hertling eingeschlagene Weg sei ein vollständig verfehlter, da man in den Jahren, wo ohnedem die Leistungen der Berufsgenossenschaften am bedeutendsten seien, die Erhöhung des Reservefonds verlange. Frhr. v. Maltzahn glaubt auch bei diesem §, daß die von ihm mit unterzeichneten Anträge nichts Vollständiges enthalten; man habe auch berücksichtigen wollen, daß der Industrie (durch) den Reservefonds nicht zu viel Kapitalien entzogen würden; behält sich jedoch seine Abstimmung für das Plenum vor. Abg. Lohren bemängelt die Fassung beider Anträge, die Buhlsche sei ihm materiell sympathisch. Dr. Buhl. Man möge doch die Sache in der Kommission zum Ausdruck bringen, da keine prinzipiellen Gegensätze vorhanden seien. Redner beantragt, die Beratung über § 18 auszusetzen, womit auch Frhr. v. Maltzahn u. Direktor v. Bosse einverstanden sind. Die Kommission beschließt demgemäß. »
  • 8 Frhr. v. Hertling setzt die Absicht seiner Anträge auseinander, durch welche Funktionen der Arbeiterausschüsse anderweitig verteilt würden. Bei Unfallverhütungsvorschriften müßten die Vertreter der Arbeiter zugezogen werden. Dr. Hirsch: Die bevollmächtigten Arbeiter seien nichts anderes als ein Arbeiterausschuß; statt die Arbeiter zu befriedigen, gebe man ihnen eine ganz subalterne dekorative Stellung im Vorstand der Strohmänner; der Vermittlungsausschuß sei sehr schwächlich, die freien Hilfskassen seien nicht zugelassen. Dr. Buhl hält die vorgeschlagene Lösung für ganz zweckmäßig und nicht für die Arbeiter ungünstiger als die Regierungsvorlage. Im § 45 seien die freien Hilfskassen nicht angeschlossen. Frhr. v. Maltzahn bestätigt letzteres. Dr. Hirsch möchte Beteiligung der freien Hilfskassen auch im § 42, was von Dr. v. Hertling für untunlich erklärt wird, da die Mitglieder der freien Hilfskassen der Berufsgenossenschaft zu fern stünden. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 178, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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