Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 177

1884 Mai 21

Bericht1 über die 21. Sitzung der VII. Kommission des Reichstags

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[Beratung über §§ 1─5 auf der Grundlage des sog. klerikal-konservativen Kompromißantrags]

Die Kommission des Reichstags für die Beratung der Unfallversicherungsvorlage begann in der Sitzung vom 21. die zweite Lesung des Gesetzes. Eine [von Dr. Hirsch beantragte] Generaldebatte wurde nicht beliebt, obgleich von den Abg. Frh. v. Hertling, Dr. v. Kulmiz und Frh. v. Maltzahn-Gültz eine sehr große, das gesamte Gesetz umfassende und teilweise tief eingreifende Zahl von Anträgen vorlag, welche füglich als Kompromiß zwischen dem Zentrum, der Rechten und der Regierung betrachtet werden dürfte.2

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Zu § 1, Umfang der Versicherung, beantragten die genannten Abgeordneten noch weitere Einschränkungen gegen die Beschlüsse der ersten Lesung, ja selbst gegen die Regierungsvorlage, sowohl bezüglich der Nebengewerbe der Landwirtschaft als der Baugewerbe und der Verwendung von Explosivstoffen; die Nationalliberalen wünschten die Definition von “Fabrik” zu beseitigen, während die Deutsch-Freisinnigen wie in erster Lesung die Ausdehnung der Verpflichtung auf die gewerbsmäßige Beförderung von Personen und Gütern zu Lande oder auf Binnengewässern, auf den Speicher- und Kellereibetrieb, auf die Land- und Forstwirtschaft, auf das Handwerk und sonstige stehende Gewerbebetriebe beantragten. Die letzteren wollten zugleich hier wie im ganzen Gesetz statt “Versicherung” setzen “Entschädigung”, da es sich nach ausdrücklicher Erklärung der Regierungsvertreter um wahrhafte Versicherung gar nicht handle. Aus der Diskussion ist als neu hervorzuheben, daß die Konservativen erklärten, auf Einbeziehung der Land- und Forstwirtschaft nur darum zu verzichten, weil nach der Stellung des Zentrums und der Deutsch-Freisinnigen das Gesetz nur unter dieser Bedingung zustande kommen werde. Über die Worte “bei dem Betriebe” (sich ereignenden Unfälle) standen die Ansichten der Regierung und der verschiedenen Seiten der Kommission sich gegenüber; es handelt sich um die wichtige Frage, ob nur solche Unfälle versichert sein sollen, welche direkt infolge des speziellen Betriebes, oder auch solche, welche überhaupt im Betriebe und während des Betriebes eintreten, letzteres wurde von der Linken als notwendige Konsequenz der Unfallversicherung hingestellt. Bei der Abstimmung siegte die Koalition von Regierung, Zentrum und Rechter in allen Punkten; während alle Anträge der Linken abgelehnt wurden, wurde § 1 mit den zahlreichen Einschränkungen des Antrages v. Hertling mit allen gegen die Stimmen der Deutsch-Freisinnigen und des Abg. Buhl angenommen. Zu § 2 beantragte die Koalition, den Absatz 2, wonach kleinere Unternehmer sich für ihre Person versichern können, mit Rücksicht auf die angeblich großen Schwierigkeiten der Ausführung zu streichen. Obgleich seitens der Linken auf die humane Bedeutung und darauf hingewiesen wurde, daß die Regierungsvorlage selbst diese Fakultät enthalte, ward der Absatz gestrichen. Ebenso ward zu § 3 der Koalitionsantrag, wonach die Entschädigung für jugendliche Arbeiter und in der Ausbildung begriffene Personen, welche nach Ablauf der Ausbildungszeit zu leisten ist, vermindert werden soll, mit der üblichen Mehrheit angenommen. Nach § 4 der Regierungsvorlage sollen die Beamten in den Betriebsverwaltungen des Reichs der Einzelstaaten und der Kommunen von der Unfallversicherung aufgrund dieses Gesetzes ausgeschlossen sein; dagegen hatte die Kommission in erster Lesung selbst mit Zustimmung der Rechten

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beschlossen, diese Betriebsbeamten ebenso zu entschädigen wie die Beamten der Privatbetriebe und ihre vielfach niedrigeren Pensionsbezüge dabei in Anrechnung zu bringen. Die Koalition beantragte Wiederherstellung der Regierungsvorlage, besonders mit Rücksicht auf die bayerischen Pensionssätze; auch dieser Antrag wurde angenommen. Die lebhafteste Debatte entspann sich bei § 5 über die Karenzzeit. Während die Kommission in erster Lesung die Zeit, während welcher statt der Unfallversicherung die Arbeiterkrankenkassen die Entschädigung der Betriebsunfälle tragen sollen, von 13 auf 4 Wochen, und zwar mit erheblicher Majorität, vermindert hatte, beantragte die Koalition auch hier die Wiederherstellung der Regierungsvorlage, also 13wöchentliche Karenzzeit sowie Herabsetzung der Entschädigung für besser gelohnter Arbeiter und Beamte. Vergebens traten sämtliche Redner der Deutsch-Freisinnigen [Dr. Hirsch, Eberty, Eysoldt, Dr. Barth] und selbst der Nationalliberalen [Dr. Böttcher] aufs lebhafteste gegen diesen Rückschritt, welcher durch ungerechte Belastung den schlimmsten Eindruck auf die Arbeiter machen und den ganzen Erfolg des Gesetzes vereiteln werde, ein; Staatsminister v. Boetticher und die Vertreter der Koalition [Lohren] erklärten die 13wöchentliche Karenzzeit, im Anschluß an die Resolution des Zentralvereins der Deutschen Industriellen für erforderlich zur leichteren Abwicklung der Geschäfte, für eine unerhebliche Last der Arbeiter3 usw. und auch diese Anträge wurden gegen die Stimmen der Linken und des Abg. Stötzel (Zentrum) angenommen. Die Deutsch-Freisinnigen hatten gänzliche Beseitigung der Karenzzeit beantragt. Die Abg. Dr. Buhl und Dr. Boettcher (nationalliberal) erklärten, daß durch diese und die anderen Anträge v. Hertling und Genossen (besonders auch bezüglich des Reservefonds und der Reichsgarantie) das Unfallversicherungsgesetz zwischen der 1. und 2. Lesung gänzlich verschoben sei, und daß sie bedauern müßten, mit ihrer Fraktion gegenwärtig keine Fühlung nehmen zu können.4

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Registerinformationen

Personen

  • Barth, Dr. Theodor Wilhelm (1849─1909) Schriftsteller, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Baur von Breitenfeld, Fidel (1834─1886) württemb. Gesandter in Berlin
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boettcher, Dr. Friedrich (1842─1922) Schriftsteller, MdR (nationalliberal)
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Eberty, Eduard Gustav (1840─1894) Stadtsyndikus in Berlin, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Eysoldt, Arthur (1832─1907) Rechtsanwalt, MdR (Fortschritt)
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Mittnacht, Hermann (1825─1909) württemberg. Ministerpräsident
  • Rèe, Dr. Anton (1815─1891) Schulvorsteher, MdR (Fortschritt)
  • Schirmeister, Heinrich von (1817─1892) Landrat a.D., MdR (Liberale Vereinigung)
  • Schrader, Karl (1834─1913) Eisenbahndirektor, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Stephani, Martin Eduard (1817─1885) Bürgermeister a.D., MdR (nationalliberal)
  • Stötzel, Gerhard (1835─1905) Metallarbeiter, Redakteur, MdR (Zentrum)
  • 1Zeitschrift für Versicherungswesen, VIII. Jg. 1884, Nr. 20 v. 26.5.1884, S. 291. »
  • 2Vgl. dazu auch den Bericht des bayer. Bundesratsbevollmächtigten Joseph Herrmann v. 21.5.1884: In der heutigen ersten Sitzung der zweiten Lesung wurde das Kompromiß stramm gehalten, indem zu den §§ 1─5, welche zur Erledigung kamen, die Anträge auf Drucks(ache) Nr. 34 unverändert mit 15 Stimmen der Konservat(iven) und des Zentrums gegen die 13 Stimmen der Liberalen durchgesetzt wurden. Von besonderem Interesse ist die Wiederherstellung des § 4 der Regierungsvorlage, wonach Staats- und Reichsbeamte mit Pensionsberechtigung vom Gesetze eximiert sein sollen. Ich ergriff zu diesem § das Wort, um nachzuweisen, daß die bayer. Beamten höhere Pensionsansprüche haben, als die Gesetzesvorlage gewährt, daß also für dieselben die Voraussetzung gar nicht zutrifft, von welchen die Beschlüsse erster Lesung ausgehen. (BayHStA MA 77380, n.fol.). Der bayer. Gesandte Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering berichtete hierzu am 25.5.1884 an v. Crailsheim: Das Zentrum hat ohne Gegenleistung die Regierung unterstützt, wenigstens ohne förmliches Ausbedingen einer solchen. Nachträglich hat jedoch Freiherr von Franckenstein die Hoffnung ausgesprochen, daß die Reichsregierung die Aufhebung der Ausweisungsparagraphen (§§ 1─3 des Gesetzes vom 4.5.1884, RGBl. S. 43) zugestehen werde. Ob er hierzu in dieser Session noch kommt, ist fraglich der Reichskanzler diese Konzession machen wird hält man für zweifelhaft, scheint noch fraglich. (BayHStA Bayer. Gesandtschaft Berlin 1054, n.fol) Die Annalen des gesamten Versicherungswesens Nr. 25 v. 6.6.1884, S. 232, berichten hierüber: Die Unfallversicherungskommission ist am 21. v. M. zum Beginn der zweiten Lesung der sie beschäftigenden Vorlage mit einem vollständigen System von Abänderungsanträgen überrascht worden, welche zwischen den Vertretern des Zentrums und der beiden konservativen Fraktionen unter Beihilfe der Regierungsvertreter vereinbart worden sind. Damit ist das Schicksal des Gesetzes in der Kommission entschieden. ─ Vor allem in der liberalen Tagespresse erregte der “klerikal-konservative Kompromiß” besonderes Aufsehen; vgl. z. B. Frankfurter Zeitung v. 24.5.1884 (Morgen- und Abendausgabe), Berliner Tageblatt v. 30.5. (Abendausgabe), Hamburgischer Correspondent v. 27.5.1884 (Nr. 147). ─ Die Morgenausgabe der Frankfurter Zeitung vom 24.5.1884 zog eine Parallele zum Zustandekommen des Zolltarifs von 1879, wie dieser diene das Gesetz nur den Interessen der Großgrundbesitzer und Großindustriellen: Die Verantwortung hierfür fällt ganz allein den Nationalliberalen zu, welche durch ihre gebundene Marschroute von Heidelberg das neueste Zusammengehen der Konservativen und des Zentrums provoziert haben. Nach den Informationen der Zeitung hatten sie den Beschlüssen der ersten Lesung nur in der Hoffnung zugestimmt, daß sie bei der zweiten Lesung entweder das Umlageverfahren ganz beseitigen oder doch einen Beschluß durchsetzen würden, nach welchem der Beharrungszustand erst bei dem 2 1/2fachen Betrage der für ein Jahr notwendigen Summe, also bei 40 Millionen, eintreten sollte. Auf diese Weise wäre wenigstens eine halbwegs solide Grundlage geschaffen worden. Durch die von der nationalliberalen Partei aber provozierte konservativ-klerikale Koalition haben die Nationalliberalen alles verloren, da das Umlageverfahren auf einer durchaus schwindelhaften Basis nunmehr von der Kommission akzeptiert werden wird. Auch diese Konsequenzen wird man mit dem Heidelberger Programm rechtfertigen müssen. »
  • 3Das Sitzungsprotokoll verzeichnet: Herr Staatsminister von Boetticher betonte wiederholt, daß die Verlängerung der Karenzzeit in ihren Folgen zu unrecht überschätzt sei, es handele sich in der Tat um minimale Beträge. »
  • 4Der Ausschluß der Nationalliberalen von den internen Beratungen des sog. klerikal-konservativen Kompromisses ─ trotz der Heidelberger Erklärung und deren Akzeptanz auf dem Berliner Parteitag vom 18.5.1884 ─ wurde allgemein als Affront empfunden. Der württembergische Gesandte Fidel von Baur-Breitenfeld berichtete darüber am 22.5.1884 dem Ministerpräsidenten Freiherrn von Mittnacht: Die Nationalliberalen, welche in ihrer am letzten Sonntag hier abgehaltenen großen Versammlung den Entschluß gefaßt haben, die Reichsregierung in ihren auf die Verbesserung der sozialen Lage der arbeitenden Klassen gerichteten Bestrebungen vorbehaltlich einer sorgfältigen Prüfung der einzelnen Maßregeln mit allen Kräften zu unterstützen, sind zu den stattgehabten Besprechungen in der vergangenen Woche, wie ich höre, von Baron Franckenstein veranlaßt, zwischen den in der Unfallkommission befindlichen Leitern der oben genannten drei Parteien (Zentrum, Konservative, Reichspartei) mit Vertretern der Reichsregierung nicht zugezogen worden und sollen darüber tief verstimmt sein (BA Koblenz NL 298 Goldschmidt Nr. 31), vgl. dazu auch Nr. 180. Vgl. zur Selbstdarstellung der Nationalliberalen über ihren Anteil am Zustandekommen des Unfallversicherungsgesetzes auch den Bericht des nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Eduard Stephani (Annalen des gesamten Versicherungswesen, 15. Jg. 1884, Nr. 33 v. 5.8.1884, S. 453) und den Abdruck eines Beitrages der Berliner Börsenzeitung (ebd., Nr. 36 v. 30.8.1884, S. 503 f.). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 177, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0177

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