Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 158

1884 April 4

Bericht1 über die sechste Sitzung der VII. Kommission des Reichstags

Druck

[Fortsetzung der Beratung über § 9 der dritten Unfallversicherungsvorlagc]

In der Sitzung vom Freitage wurde in inhaltlichem Zusammenhange mit dem § 9 von dem Abg. Fritzen2 (Zentrum) ein Antrag zu § 10 gestellt, wonach die Genossenschaften, unbeschadet ihrer Haftbarkeit gegenüber den in ihren Betrieben beschäftigten versicherungspflichtigen Personen, ermächtigt werden, bei Versicherungsgesellschaften, welche sich verpflichten, die Deckungskapitalien bei der Deutschen Reichsbank zu hinterlegen, ganz oder teilweise Rückversicherung zu nehmen. Der Antragsteller erkannte an, daß die Privatgesellschaften auch Nützliches geleistet und wünschte durch seinen Antrag ihr Fortbestehen im Rahmen des

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Gesetzes zu ermöglichen. Die sich entwickelnde sehr lebhafte Diskussion wurde hauptsächlich zwischen den Rednern der freisinnigen Partei und den Regierungsvertretern über das “Sündenregister” [so Dr. Hirsch] der Privatversicherung geführt. Die ersteren, die Abg. Schrader, Dr. Hirsch, Dr. Barth, v. Schirmeister und Eysoldt, wiesen eingehend nach, daß die Anklagen gegen die freie Versicherung einerseits auf verhältnismäßig wenigen und zum Teil tendenziösen Angaben beruhen, andererseits in der Hauptsache nicht die Geschäftspraxis der Versicherungsgesellschaften, sondern das bestehende, allerseits als mangelhaft anerkannte Haftpflichtgesetz treffen. Die Kritik aller bisher gemachten Vorschläge zur Zwangsorganisation zeige schwere Mängel; insbesondere sei der Vorschlag des Abg. Oechelhäuser viel zu kompliziert, und der des Abg. Dr. v. Hertling bilde eigentlich eine Rückkehr zu dem allgemein verworfenen Regierungsentwurfe von 1882 und führe zur Zersplitterung, Leistungsunfähigkeit und Insolvenz. Gegenüber diesen Anträgen verdienten eventuell noch die Berufsgenossenschaften des jetzigen Entwurfs wegen ihrer Größe und relativen Freiheit den Vorzug, wenngleich auch in ihnen keine wahrhafte Selbstverwaltung möglich sei. Minister von Bötticher und Direktor Bosse hielten die Behauptung aufrecht, daß die Privatgesellschaften mit dem Versicherungszwang sich nicht vereinigen lassen, weil ihre Geschäftsführung keine Garantie biete, und weil man sie nicht verpflichten könne, besonders gefährliche Betriebe zu versichern. Es sei nicht einmal möglich, in zweiter Reihe Privatgesellschaften zuzulassen, da dieselben den Bestand der Zwangsgenossenschaften schwer erschüttern und die Kosten vergrößern würden. Neues Belastungsmaterial gegen die Privatgesellschaften wurde von den Regierungsvertretern nicht beigebracht.3 Nachdem Abg. v. Hammerstein die korporativen Verbände als den Hauptzweck des Gesetzes bezeichnet, rechtfertigte Abg. Dr. Buhl seinen Vermittlungsantrag, die Privatgesellschaften neben der öffentlichen Organisation bestehen zu lassen, wobei er aus taktischen Gründen die Aktiengesellschaften preisgeben würde. Namens des abwesenden Abg. Oechelhäuser erklärte er, daß derselbe unter Verzicht auf seinen Vorschlag, Verwaltungsbezirke und Reichsberufsgenossenschaften zusammen einzuführen, eventuell für die Berufsgenossenschaften eintreten würde. Nach längerer Geschäftsordnungsdebatte wurde die Diskussion über § 9 geschlossen, die Abstimmung darüber jedoch bis nach Beratung des § 10 vertagt und die nächste Sitzung auf den 23. d. M. anberaumt.4

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Registerinformationen

Personen

  • Barth, Dr. Theodor Wilhelm (1849─1909) Schriftsteller, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Eysoldt, Arthur (1832─1907) Rechtsanwalt, MdR (Fortschritt)
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Hammerstein, Wilhelm Freiherr von (1838─1904) Chefredakteur der “Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung”, MdR (konservativ)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Schirmeister, Heinrich von (1817─1892) Landrat a.D., MdR (Liberale Vereinigung)
  • Schrader, Karl (1834─1913) Eisenbahndirektor, MdR (Liberale Vereinigung)
  • 1ZfV, 8. Jg. 1884, S. 168, SP: BArchP 01.01 Nr. 3081, fol. 134─137, Anträge: fol. 138─146. »
  • 2Alois Fritzen (1840─1916), Landesrat, seit 1881 MdR (Zentrum). »
  • 3Sitzungsprotokoll: Staatsminister v. Boetticher betont, daß zuverlässiges Material vorgelegt worden sei, bitte auf den Seiten 185, 194, 221, 539, 647, 701 [791] der Berichte der Fabrikinspektoren nachzulesen. Die Gesellschaften seien erst in den letzten Jahren coulanter geworden, beruft sich auf eine Äußerung des Direktors der Leipziger Unfallversicherungsgesellschaft. Bismarck erfuhr über diese Debatte über die “Neuesten Mitteilungen Nr. 43 v. 10.4.1884 und bestellte daraufhin R(ottenburg) ad a(udiendum) (BArchP 07.01 Nr. 510, fol. 156). »
  • 4Hierzu verzeichnete Robert Bosse am 6.4.1884 in seinem Tagebuch: Bis jetzt erscheint unsere Vorlage nicht aussichtslos. Wenn die Zentrumsleute festhalten. Sie sind freilich unberechenbar. (GStA Dahlem Rep. 92 NL Bosse Nr. 7, fol. 40─42) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 158, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0158

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