Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 154

1884 März 31

Eingabe1 der Handelskammer Bochum an den preußischen Handelsminister Otto Fürst von Bismarck

Metallographierte Ausfertigung, Teildruck

[Kritik an der dritten Unfallversicherungsvorlage, Forderungen nach Reichszuschuß bzw. anderer öffentlicher Subvention sowie Arbeiterbeitrag, Ablehnung der Arbeiterausschüsse und undifferenzierter Entschädigung schuldhaft herbeigeführter Unfälle; es wird empfohlen, Pläne für ein Kapitaldeckungsverfahren durch einen Reservefonds abzuwehren]

Ew. Durchlaucht gestattet sich die gehorsamst unterzeichnete Handelskammer ihr Bedauern auszusprechen, daß sich die Notwendigkeit ergeben hat, in dem neuen Gesetzentwurf betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, um das Zustandekommen des Gesetzes zu ermöglichen, einige gewichtige grundlegende Bestimmungen, welche früher von Ew. Durchlaucht Selbst unter freudiger Zustimmung der gesamten Deutschen Industrie für recht und billig befunden waren, aufzugeben. Wenn der Zentralverband Deutscher Industrieller, sowie die ehrerbietigst unterzeichnete Handelskammer, welche ebensowenig als der erstere an der Gesetzge-

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bung mitwirken, daher auch keine Kompromisse mit anderen gesetzgebenden Faktoren schließen kann, jene grundlegenden Bedingungen, auf die wir noch zurückkommen werden, als die allein richtigen anerkennt und dafür in Wort und Schrift eintritt, so geschieht dies in der Überzeugung, daß Ew. Durchlaucht diese Stellungnahme nicht allein als eine berechtigte, sondern auch als eine pflichtgemäße anerkennen werden, keineswegs aber darin eine Opposition gegen diejenigen Maßnahmen erblicken, welche Ew. Durchlaucht zu ergreifen für notwendig befunden haben.

Von dieser Auffassung ausgehend, halten wir uns als Wächter der Interessen eines der industriereichsten und bevölkertsten Kreise der Monarchie für verpflichtet, Ew. Durchlaucht mit Einhelligkeit unsere Überzeugung dahin offenzulegen, daß wir die vom Zentralverband Deutscher Industrieller am 11. und 12. Februar a. c.2 in Berlin ausgesprochenen und veröffentlichten Wünsche in jeder Hinsicht teilen, daher auch glauben, Ew. Durchlaucht tunlichster Berücksichtigung hierdurch gehorsamst empfehlen zu müssen.

Unsere Ansicht, daß zu den Versicherungskosten der Arbeiter, durch welche die Gemeinden entlastet werden, ein Zuschuß aus öffentlichen Mitteln gerecht und billig ist, können wir nicht aufgeben, erblicken auch in der dem Reiche in dem neuen Gesetzentwurf vorbehaltenen, im Reichstage schon lebhaft bekämpften eventuellen Beihilfe keinen genügenden Ausgleich für den Wegfall des Reichszuschusses.

Ebenso halten wir Ew. Durchlaucht ursprüngliche Auffassung, wonach der Arbeiter zu den Kosten der auf alle Unfälle auszudehnenden Versicherung einen mäßigen Beitrag leisten soll, für die allein richtige und müssen unsererseits daran festhalten. Es geschieht dies nicht allein, um dem Arbeiter ein Recht zur Mitwirkung an der Verwaltung zu geben, sondern auch um sein eigenes materielles Interesse mit dem der Arbeitgeber in bezug auf die Verhütung von Unfällen und zur Bekämpfung des alljährlich zunehmenden Simulantentums zu identifizieren. Genaue Untersuchungen in den Industriebezirken würden in dieser Hinsicht unglaublich raffinierte Kunstgriffe und Betrügereien zutage fördern, welche unter der Anleitung bezüglicher Spezialwinkelkonsulanten zum Nachteil der Industriellen und der ordentlichen Arbeiter ausgeübt werden.

Aus demselben Grunde halten wir es auch im allgemeinen Interesse für dringend wünschenswert, die dreizehnwöchentliche Leistung der Krankenkassen und die damit verbundene höchst wertvolle Kontrolle von seiten ihrer Verwaltungen unverkürzt festzuhalten. Wir betrachten es als einen Fehler, der sich schwer rächen wird, durch grobes Verschulden herbeigeführte Unfälle ebenso hoch wie andere zu entschädigen. Wir halten ferner geeignete Vorkehrungen für notwendig, um eine gewinnsüchtige Ausbeutung von Doppelversicherungen zu verhüten.

Endlich müssen wir die regierungsseitig im Gesetzentwurf vorgesehene Bildung von selbständigen Arbeiterausschüssen, an deren Beratungen die Arbeitgeber nicht teilnehmen sollen, denen auch das Recht der Begutachtung von Anordnungen der Betriebsleitung zustehen soll, als überaus bedenklich bezeichnen. Die unterzeichnete Handelskammer ist einhellig auf das innigste davon überzeugt, daß durch eine derartige Organisation der Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeiter in geradezu verhängnisvoller Weise verschärft werden muß, daß den sozialdemokratischen Umsturzbestrebungen [ Druckseite 551 ] dadurch freierer Spielraum geschaffen und die unentbehrliche Autorität der Arbeitgeber in ganz unzulässiger Weise geschädigt werden würde.

Indem wir darauf verzichten, die sonstigen vom Ausschuß des Zentralverbandes Deutscher Industrieller kundgegebenen Anträge, mit denen wir uns in allen Teilen einverstanden erklären, zu wiederholen, gestatten wir uns noch in bezug auf die Frage des Umlageverfahrens bzw. der Kapitalsdeckung im Nachfolgenden Ew. Durchlaucht geneigte Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Moment ergebenst hinzulenken.

Es ist die in der Regierungsvorlage und auch im Reichstage unseres Erachtens sehr unterschätzte Belastung gewisser hochbedeutender Industriezweige durch die auf alle Unfälle zu erstreckenden Kosten der Versicherung. Unter Berufung auf die Erfahrungen der Leipziger Unfallbank auf Gegenseitigkeit ─ ein Institut, dessen kulanten und soliden Geschäftsprinzipien wir unsere volle Anerkennung zollen müssen 3 ─ hat der Abgeordnete Herr Oechelhäuser seine Berechnungen auf einen Prämiensatz von jährlich 7 Mark pro Kopf der Arbeiter basiert, eine Ziffer, die auch bei den von anderer Seite mit Recht bemängelten Kalkulationen der Zeitschrift “Nation”, die bekanntlich nach 75 Jahren ein Deckungskapital von M 234 700 000 herausrechnet, benutzt worden ist.4 Leider fehlt es ja an genügenden Erfahrungen, wie sich die allerdings seit Erlaß des Haftpflichtgesetzes gestiegenen Unfallkosten in Zukunft gestalten werden.

Angenommen nun, die Ziffer 7 Mark jährlich pro Kopf im Durchschnitt auf 2 Millionen Arbeiter gerechnet, sei richtig, was wir im Hinblick auf die verhältnismäßig hohen Unfallentschädigungen bezweifeln, so würden den geringfügigen Ausgaben in ungefährlichen Industriezweigen und in Bezirken, wo die Arbeitslöhne niedrig sind, in anderen Bezirken mit gefährlichen Industrien und hohen Löhnen so bedeutende Ausgaben gegenüberstehen, daß diese Industrien in ihrer Konkurrenzkraft gegen das Ausland geschwächt werden müssen. Zum Beweise für die letztere Behauptung gestatten wir uns die anliegende Tabelle5 über die alljährlich gestiegenen Kosten der Unfallversicherung der hiesigen Gußstahlfabrik, des bedeutendsten Hüttenwerks unseres Bezirks, gehorsamst zu überreichen. Es betragen darnach die Kosten der vollen Versicherung für die haftpflichtigen Unfälle und der teilweisen für nicht haftpflichtige ─ bis zur Höhe von 3000 M pro Kopf der verheirateten und 1500 M der unverheirateten Arbeiter - jährlich M 17,96 pro Kopf. Diese Ziffer ist keineswegs lokaler Natur, denn sie beruht auf den faktischen Ergebnissen der Leipziger Gegenseitigkeitsversicherung der betreffenden Industriezweige im ganzen Deutschen Reiche, muß also als zutreffend angesehen werden und halten wir uns verpflichtet, Ew. Durchlaucht Aufmerksamkeit auf dieses hochwichtige Moment ergebenst hinzulenken. Dasselbe spricht für unsere Auffassung, daß die Unterlegung bestimmter Ziffern für Berechnungen auf Menschenalter hinaus als ein höchst gewagtes Unternehmen anzusehen ist. Wir halten es aber für weniger bedenklich, durch das im Gesetzentwurf vorgesehene Umlageverfahren zunächst die Industrie zu gering zu belasten ─ ein Fehler, der an der Hand der Erfahrung jederzeit im Wege [ Druckseite 552 ] der Gesetzgebung beseitigt werden kann ─ als dieselbe durch Entziehung unentbehrlicher Kapitalien schwer zu schädigen und namentlich in bezug auf ihre Exportfähigkeit zu schwächen. [...]

In der Hoffnung, Ew. Durchlaucht möchten unsere obigen pflichtgemäßen Darlegungen wohlwollend aufzunehmen die Gewogenheit haben, unterzeichnen ehrerbietigst

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Eysoldt, Arthur (1832─1907) Rechtsanwalt, MdR (Fortschritt)
  • Oechelhäuser, Wilhelm (1820─1902) Industrieller, MdR (nationaliberal)
  • 1GStA Dahlem (M) Rep. 120 BB VII 4 Nr. 1 Bd. 5, fol. 74─77. Die Eingabe ist unterzeichnet (und vermutlich auch verfaßt!) von dem Vorsitzenden der Handelskammer Bochum, dem Generaldirektor des Bochumer Vereins Louis Baare. »
  • 2Vgl. Nr. 142. »
  • 3Vgl. Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, Nr. 45, 46, 56 und 57. »
  • 4Vgl. Nr. 147 Anm. 1. »
  • 5GStA Dahlem (M) Rep. 120 BB VII 4 Nr. 1 Bd. 5, fol. 78─80. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 154, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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