Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 149

1884 März 17

Bericht1 über die erste Lesung der dritten Unfallversicherungsvorlage im Deutschen Reichstag

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[Darstellung der Grundpositionen der einzelnen Fraktionen]

Der Entwurf eines Gesetzes, betr. die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle, hat im Reichstage die erste Lesung passiert.2 Die erste Lesung eines Gesetzes hat bekanntlich den Zweck, von vornherein im allgemeinen die Stellung der Parteien zu der Vorlage klarzustellen. Die hervorragendsten Bestimmungen der Vorlage werden dabei nur im allgemeinen gestreift, um entweder die Möglichkeit darzutun, das Gesetz gleich im Hause selbst zu erledigen oder die Notwendigkeit zu begründen, dasselbe zunächst einer Kommission zur Vorberatung zu überweisen. Daß der Reichstag sich dem Unfallversicherungsgesetze gegenüber für die Kommissionsberatung entscheiden werde, stand natürlich von vornherein fest, und deshalb galt die erste Lesung mehr der Erfüllung einer von der Geschäftsordnung vorgesehenen Form. An den beiden ersten Tagen sprachen die Abgeordneten v. Vollmar von der sozialdemokratischen, v. Maltzahn-Gültz von der konservativen, Oechelhäuser von der nationalliberalen, Lohren von der freikonservativen, Dr. Bamberger von der sezessionistischen, Dr. v. Hertling3 von der ultramontanen

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und Löwe von der Fortschrittspartei. Alle Reden lassen sich kurz dahin zusammenfassen, daß die Vorlage auf keiner Seite des Hauses voll und ganz befriedigt, daß aber allseitig der Wunsch betont wurde, die Angelegenheit in der gegenwärtigen Session zum Abschluß zu bringen. Schroff ablehnend verhielt sich eigentlich nur der Redner der sozialdemokratischen Partei. Die konservative Partei bemängelte namentlich die Beschränkung des Kreises der versicherten Personen, die verfehlte Definition des Begriffes Fabrik, die irrationelle Ausdehnung der Berufsgenossenschaften, den indirekten Reichszuschuß etc. Die nationalliberale Partei verwarf die Berufsgenossenschaften gänzlich und forderte die Beschränkung der Karenzzeit von 13 Wochen, die Zulassung der Privatversicherungsgesellschaften als zweckmäßig und sogar notwendig, die Beseitigung des unsoliden Umlageverfahrens, die Untersuchung der Unfälle durch Staatskommissare und die Entscheidung der Streitfälle durch die ordentlichen Richter, nicht durch Schiedsgerichte. Auch die freikonservative Partei verlangte die Einbeziehung der Bauhandwerker sowie der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter. Die sezessionistische Fraktion bezeichnete die Vorlage überhaupt als einen Kunstbau um staatssozialistischer Experimente willen, mit denen sich nimmermehr unsere sozialen Schäden heilen ließen. Eine verhältnismäßig freundliche Haltung nahm der Redner des Zentrums ein, dessen Ideale die Vorlage ja bereits in den Berufsgenossenschaften verwirklichen will. Er will jedenfalls die auf Erwerb gerichteten Unfallversicherungsgesellschaften ausschließen; das Baugewerbe soll zu den versicherungspflichtigen Betrieben gehören, fakultativ auch die Landwirtschaft; für die Arbeiter, für welche die Unfallversicherung keine Fürsorge trifft, verlangt er eine Reform des Haftpflichtgesetzes; die Selbstverwaltung werde von bürokratischen Tendenzen überwuchert; die Berufsgenossenschaften hätten einen zu großen Umfang, als daß sie ein korporatives Leben ermöglichen könnten; am bedenklichsten von allem sei aber das Reichsversicherungsamt als ein Präzedenz, das zu weitgehenden Konsequenzen fuhren könne. Die Fortschrittspartei endlich wendete sich gegen die Verschlechterung der Lage der Arbeiter, gegen jede Karenzzeit, gegen die Abschwächung des Verantwortlichkeitsbewußtseins der Arbeiter, gegen die Ausschließung der Privatgesellschaften, gegen die Verminderung der Sicherheit der Arbeiter durch das Umlageverfahren, gegen den indirekten Reichszuschuß und gegen die Berufsgenossenschaften als Koalitionen der Arbeitgeber begünstigend; die Fortschrittspartei hält an der Verbesserung des Haftpflichtgesetzes fest und will dieselbe durch Amendierung der Vorlage zu erreichen suchen. Namens der Reichsregierung antwortete der Staatssekretär des Innern, Staatsminister v. Boetticher, ohne dabei besonders glücklich zu sein. Während der Rede [ Druckseite 543 ] trat der Reichskanzler in das Haus, doch verließ er dasselbe alsbald wieder, ohne in die Diskussion einzugreifen. Das geschah erst in der dritten, der Vorlage gewidmeten Sitzung, am Sonnabend. Der Reichskanzler erschien bereits vor Eröffnung der Verhandlungen im Hause und ergriff sofort nach der Eröffnung das Wort, um auf die einzelnen Reden der ersten beiden Tage zu antworten. [...] Wird ausgeführt, es folgen dann noch Angaben zum Inhalt der Repliken auf Bismarcks Rede.

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Feilitzsch, Max Freiherr von (1834─1913) bayer. Innenminister
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Herrmann, Joseph (1836─1914) Ministerialrat im bayer. Innenministerium, stellvertretender Bundesratsbevollmächtigter
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • 1Zeitschrift für Versicherungswesen, 8. Jg. 1884, S. 123. »
  • 2Sitzung vom 13.3.1884, Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 1, S. 35 ff. »
  • 3In seinen Erinnerungen berichtet Georg Freiherr von Hertling darüber: In der Tat wurde dem im März 1884 wieder zusammengetretenen Reichstage ein neuer, der dritte Entwurf eines Arbeiterunfallversicherungsgesetzes vorgelegt. Bei der ersten Beratung am 14. März konnte ich der Genugtuung darüber Ausdruck geben, daß die Vorlagen sich ganz wesentlich dem von mir und meinen Freunden vertretenen Standpunkt angenähert hätten. Der Reichszuschuß in der früher in Aussicht genommenen Form war fallengelassen, und, was ich besonders begrüßte, die Organisation der Unfallversicherung war auf korporative Grundlage gestellt durch Schaffung von Berufsgenossenschaften. Bedenken blieben auch jetzt noch zurück; sie richteten sich gegen die Ausdehnung dieser Berufsgenossenschaften über das ganze Reich, wogegen ich die Bildung kleinerer Verbände empfahl, und sodann gegen die zentralistisch-bürokratische Ausgestaltung des Reichsversicherungsamtes. In der Kommission, an welche die Vorlage verwiesen und in der ich zum Berichterstatter gewählt wurde, gelang es aufgrund einer Vereinbarung mit den Mitgliedern der beiden Reichsparteien, einschneidende Verbesserungen in meinem Sinne vorzunehmen. (Georg von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2, Kempten und München 1920, S. 43); vgl. auch Nr. 157, 159 u. 176. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 149, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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