Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 137

1884 Januar 25

Der Gewerkverein Nr. 4 Die neueste Unfallvorlage und die Arbeiter

Teildruck

[Kritik an dem materiellen Gehalt der “Grundzüge”]

In der Beilage der vorigen Nr. haben wir unseren Lesern die “Grundzüge für die Unfallversicherung der Arbeiter” mitgeteilt. Wir empfehlen ihnen dies neueste Erzeugnis der Reichssozialpolitik zur aufmerksamen Prüfung. Und da die Grundzüge trotz ihrer Länge recht übersichtlich und wenigstens in den meisten Punkten verständlich sind, so bedarf es nur einer kurzen Beleuchtung von unserer Seite.

Der größte Teil der Presse, einschließlich der liberalen, hat die neuen Grundzüge “sympatisch begrüßt”. Wir kennen das schon von der ersten Unfallvorlage her; und merkwürdig, je öfter die Regierung durch neue Entwürfe zugesteht, daß die früheren, doch ebenfalls als Meisterwerke angepriesenen, unbrauchbar waren, desto mehr Lob zollten ihr die Blätter. Als sich aber herausstellte, daß die deutschen Gewerkvereine bei dem ungleich schwierigeren Werke der Invalidenversicherung im Anfang einen Fehler begangen, den sie mit aller Kraft wiedergutzumachen suchten, da spendeten dieselben Blätter kein Lob, sondern Hohn und Verdammung. Die große geniale Reichsregierung kann sich irren, und es ist höchst ruhmvoll, wenn sie dann auch nur etwas Besseres macht, aber einfache Privatleute und Arbeiter ─ ja, Bauer, das ist ganz was anderes!

Aber ist denn der neueste Entwurf wirklich in der Hauptsache besser als seine Vorgänger? Lassen wir die großen Theorien und Organisationsfragen beiseite und fragen wir kurz und bündig: was bieten die Grundzüge den Arbeitern? Denn um die Arbeiter handelt es sich ja doch jedenfalls in erster Linie bei diesem Arbeiterversicherungsgesetz. Da kommen wir denn zu folgenden Ergebnissen.

Die Grundzüge schließen zunächst ganz große Arbeiterklassen von der Unfallversicherung aus, obgleich dieselben ebensosehr durch Betriebsunfälle gefährdet sind wie die geschützten. Dazu gehören vor allem die Arbeiter auf Werften und Bauten, die mit Motoren beschäftigten und die Millionen land- und forstwirtschaftlicher Arbeiter. Dieselben sollen nur vorläufig ausgeschlossen sein, aber man [ Druckseite 480 ] weiß, wie langsam die Gesetzgebung auf diesem Gebiete vorwärts schreitet! Der vorletzte Entwurf hatte die Werft- und Bauarbeiter usw. schon inbegriffen; irgend triftige Gründe, sie noch jahrelang gänzlich schutzlos zu lassen, sind in den Motiven nicht angegeben.

Die Entschädigung für die Verunglückten und Hinterbliebenen bleibt nach dem neuen Entwurfe im wesentlichen so ungenügend wie bisher. 20 Prozent des Lohns für die Witwe, 10 Prozent für jedes Kind; im ganzen höchstens 50 Prozent für sämtliche Hinterbliebenen bilden in den meisten Fällen keinen Ersatz für die verlorene Arbeitskraft des Ernährers, keine Bürgschaft für eine angemessene Pflege und Erziehung! Einzelne Vergünstigungen, wie für den Fall der Wiederverheiratung einer Witwe, sind anzuerkennen.

Trotz der kümmerlichen Entschädigung will auch der neue Entwurf die Arbeiter in hohem Maße mit den Kosten der Unfallversicherung belasten. Volle 13 Wochen sollen die Arbeiterkrankenkassen die Entschädigung tragen und damit bei 96 Prozent aller Betriebsunfälle die Haftpflicht des Unternehmers, mindestens zu 2/3, bei den freien Hilfskassen aber ganz auf die Arbeiter abwälzen. Zugleich aber wird dadurch die ohnehin knappe Geldentschädigung von zwei Drittel des wirklichen Arbeitsverdienstes während der ersten 13 Wochen ─ also in der großen Mehrzahl der Fälle und in der für die Heilung allerwichtigsten Zeit ─ auf die Hälfte, in der Gemeindeversicherung auf die Hälfte des ortsüblichen Tagelohns, herabgedrückt. Und hieran hält die Reichsregierung fest, obgleich nicht nur die Arbeiterschaft Deutschlands, nicht nur die Liberalen, sondern selbst die konservativ-klerikale Mehrheit des Reichstags sich gegen diese Bestimmung erklärt haben.

Mit der Organisation und Verwaltung der Unfallversicherung betrauen die Grundzüge die sog. Berufsgenossenschaften, d. h. Zwangsverbände sämtlicher Unternehmer gleicher oder ähnlicher Betriebszweige. Das Arbeiterelement ist in den Berufsgenossenschaften nicht vertreten. Vielmehr ist als sicher anzunehmen, daß gerade durch diese zwangsweise Zusammenführung aller Arbeitgeber eine übermäßige Koalition derselben gegenüber den Arbeitern auch bezüglich des Lohnes, der Arbeitszeit, der Arbeitsbücher und Entlassungsscheine usw. bewirkt werden wird!

Allerdings sollen für gewisse Angelegenheiten der Unfallversicherung auch die Arbeiter vertreten sein ─ aber wie! Durch sog. Arbeiterausschüsse, welche keineswegs direkt von allen Arbeitern des betr. Industriezweigs, sondern nur von den Arbeitervorständen der Orts-, Fabriks- und Knappschaftskassen gewählt werden. Die freien eingeschriebenen Hilfskassen sind also, trotzdem sie aufgrund zweier Gesetze bestehen und obgleich sie 13 Wochen lang die ganze Last der Unfallversicherung tragen müssen, von jeder Vertretung ausgeschlossen. Die Arbeitervorstände der Zwangskassen aber stehen, wie jedermann weiß, größtenteils unter dem Einfluß der Arbeitgeber und bilden demnach kein Gegengewicht, sondern eine Verstärkung der Arbeitgebervertretung. Und selbst diesen, in der Regel gewiß recht zahmen Arbeiterausschüssen gewähren die Grundzüge nur sehr beschränkte Befugnisse. Sie können erstens bei der Untersuchung der Unfälle mitwirken; sie haben zweitens die Hälfte der Beisitzer des Schiedsgerichts selbst zu wählen, aber der Vorsitzende des Schiedsgerichts, in dessen Händen meist die Entscheidung liegt, wird von der Regierung aus der Zahl der öffentlichen Beamten (also auch [ Druckseite 481 ] Vorstände von Staats- und Reichsbetrieben, d. h. in Wahrheit selbst Arbeitgeber!) ernannt. Sie haben drittens die Vorschriften zur Sicherung gegen Unfälle, welche die Unternehmergenossenschaft etwa zu erlassen gedenkt, zu begutachten; zu beschließen dagegen haben, obgleich es Gesundheit und Leben der Arbeiter betrifft, nur die Unternehmer. Daß auf solche Weise für das Allerwichtigste, die Unfallverhütung, nicht in der richtigen Weise gesorgt werden wird, ist leider anzunehmen.

Mögen die deutschen Arbeiter und Volksvertreter hiernach entscheiden, ob die “Grundzüge” wirklich den Rechten und Interessen der Arbeiter, selbst den maßvollsten, entsprechen!

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843─1917) Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Bismarcks

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 137, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0137

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