Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 127

1883 November 25

Germania1 Nr. 271

Teildruck

[Bericht über die sog. Lohmann-Krisis, Berufsgenossenschaften als organische Grundlage der Unfallversicherung werden als conditio sine qua non der parlamentarischen Verabschiedung des Gesetzentwurfs angesehen]

Als neulich die Nachricht auftauchte, daß in betreff des Unfallversicherungsgesetzes eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Geh.[Regierungs-]Rat Lohmann und dem Reichskanzler entstanden sei, infolge deren der erstere von der Ausarbeitung des Entwurfes zurücktreten mußte, betrachtete man das auf Seiten der Freunde dieser Gesetzgebung als ein bedenkliches Zeichen für das Zustandekommen derselben. Man mußte vermuten, daß zum Rücktritt Lohmanns nur die Kernfrage des Gesetzes die genossenschaftliche Organisation, Anlaß gegeben. Nun wurde aber allgemein angenommen, daß Herr Lohmann der berufsgenossenschaftlichen Organisation, welche die Mehrheit des Reichstages fordert, günstig gestimmt sei. Daraus ergab sich die Folgerung, daß der Reichskanzler jetzt wie früher keine berufsgenossenschaftliche Organisation wolle. Gegen diesen Schluß ließ sich weiter nichts anführen als ein Artikel der “Norddeutschen Allgemeinen Zeitung”, welche kurz vorher erklärt hatte, daß der Reichskanzler nach wie vor auf dem Boden der Kaiserlichen Botschaft stehe und an der “berufsgenossenschaftlichen” Grundlage “festhalte”. Für den gewöhnlichen Sprachgebrauch schien dieser offiziöse Artikel

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nichts anderes bedeuten zu können, als daß der Reichskanzler sich vollständig zu der organischen Zusammenfassung der realen Kräfte der einzelnen Berufszweige bekenne; die Skeptiker aber sahen an dem Ausdruck “festhalten” sowie an den beiläufigen Zärtlichkeiten der “Nordd. Allg. Ztg.” für die “Gefahrenklassen” und ähnliche mechanische Organisationsmittel, daß es mit der berufsgenossenschaftlichen Organisation doch nicht ernst sei. Leider behalten, wie gewöhnlich, die Pessimisten recht; heute lesen wir in dem offiziösen Blatte2:

“Der ‘Westf. Merkur’3 teilt bezüglich des sogenannten ‘Lohmannschen Zwischenfalls’ in der Ausarbeitung des neuen Unfallversicherungsgesetzes mit, der Reichskanzler habe einstweilen nachgegeben. Als wesentlichste Differenzpunkte in den beiderseitigen Ansichten bleiben nach dem ‘Westf. Merkur’ bestehen, daß der Reichskanzler den Reichszuschuß und die Verstaatlichung der korporativen Genossenschaften verlange, während Geheimrat Lohmann dagegen sei. Woher der ‘Westf. Merkur’ seine Wissenschaft geschöpft hat, ist uns unbekannt; jedenfalls aber aus einer unzuverlässigen Quelle. Der wirkliche Sachverhalt ist der, daß der Geheimrat Lohmann dem Reichskanzler bei dessen letzter Anwesenheit in Berlin erklärt hat, er sei außerstande, die Vorlage des Unfallversicherungsgesetzes in dem Sinne auszuarbeiten, wie der Reichskanzler es verlangt und wie es den früheren Stadien entspricht. Infolgedessen hat der Reichskanzler den Geheimrat Lohmann von der Ausarbeitung des Entwurfs entbunden und den Geheimrat Gamp aus dem preußischen Handelsministerium und den Geheimrat Bödiker aus dem Reichsamt des Innern damit vertraut.”

Die Bemerkung, daß der Reichskanzler die Ausarbeitung des Entwurfes so verlangt habe, “wie es den früheren Stadien entspricht”, beseitigt auch den letzten Zweifel, daß er nicht die Zusammenfassung der realen Kräfte des christlichen Volkslebens in lebensvolle Korporationen, wie sie die Kaiserliche Botschaft uns hoffen ließ, sondern wieder eine Art von mechanischer Gruppierung unter bürokratische Leitung anstrebt. Die hohen Ziele der Kaiserlichen Botschaft sind also wiederum verlassen, die Forderung des Reichstags wird nicht beachtet, und statt einer Neubelebung der sozialen Volkskräfte haben wir den neuen Versuch einer Verstaatlichung zu erwarten.

Man vergleiche nun einmal mit dieser Note der “Nordd. Allg. Ztg.” die Auslassungen desselben Blattes vom 26. [recte: 25.] September d. J.:

“Als eine Unwahrheit können wir es bezeichnen, wenn die ‘Germania’ behauptet, daß die Regierung die Grundlage der berufsgenossenschaftlichen Organisation scheute und ‘trotz der Kaiserlichen Botschaft’ verschmähte. Wir wissen nicht, was das Zentrum hierbei unter ‘Regierung’ versteht, das aber wissen wir, daß der Reichskanzler, und wir glauben auch, die Mehrheit des Bundesrates, an der berufsgenossenschaftlichen Organisation der Arbeiterversicherung unbedingt festhält. Der Reichskanzler ist zwar seit Jahresfrist durch schwere Krankheiten verhindert gewesen, sich an der Förderung der von ihm angeregten sozialen Reform in gleichem Maße, wie bei Vorbereitung der früheren Vorlagen zu beteiligen, aber wir [ Druckseite 441 ] wissen aus guter Quelle, daß er an den in der Kaiserlichen Botschaft gegebenen Grundzügen festhält und die Beibehaltung der Berufsgenossenschaften als Unterlage der Arbeiterunfallversicherung nicht nur formell angeordnet, sondern von derselben auch seine fernere amtliche Mitwirkung bei den Geschäften abhängig gemacht hat.4 Die gegenteiligen Behauptungen der ‘Germania’ tragen den Charakter einer unwahren Insinuation.”5

Fällt nun der Vorwurf der “Unwahrheit” nicht auf die “Nordd. Allg. Ztg.” zurück, welche mit dem Worte “Berufsgenossenschaften” ein täuschendes Spiel trieb?

Wir bemerkten am 26. September mit höflicher Skepsis: “Was den letzten Teil des Artikels der ‘Nordd. Allg. Ztg.’ betrifft, so würden wir das Bekenntnis des Reichskanzlers zur genossenschaftlichen Organisation mit noch größerer Freude begrüßen, wenn statt ‘festhalten’ der korrektere Ausdruck ‘zurückkehren’ gebraucht würde. Die bürokratische Zentralisation im ersten Unfallversicherungsentwurfe und die mechanischen Gefahrenklassen des zweiten waren doch wahrlich kein ‘Festhalten’ an dem Programm der Botschaft. Deshalb werden wir gut tun, erst abzuwarten, welche Berufsgenossenschaften der neue Entwurf, unter dem Druck einer Demissionsandrohung des Reichskanzlers, zuwege bringt. Daß das Kokettieren mit dem Liberalismus und die Verleumdung der bisherigen Unterstützer der Reform unser Vertrauen nicht erhöht, versteht sich leider von selbst.”

Die heutige Auslassung des offiziösen Blattes zeigt leider, daß unsere Zweifel nur zu berechtigt waren. Der Begriff der “Berufsgenossenschaft”, als der organischen Verbindung der durch die gemeinsame Berufstätigkeit und deren gemeinsame Interessen aufeinander angewiesenen Kräfte, ist doch schon an sich so klar und durch die bereits bestehenden Muster (Knappschaftskassen, Buchdruckerverband, Maschinenbauerkassen, Genossenschaft der Bühnenangehörigen etc.) so unzweideutig gemacht, daß das offiziöse Spiel mit diesem Wort ein sehr bedenkliches Licht auf die Spieler wirft. Wenn die neuen Mitarbeiter bei diesem Gesetzentwurfe gleich der “Nordd. Allg. Ztg.” eine Klassifikation, welche die Gehilfen des Kakaofabrikanten mit Eisenarbeitern zu einer Einheit zusammenbringen will, für eine berufsgenossenschaftliche Grundlage der Unfallversicherung halten sollten, dann würden sie nach unserer Ansicht gut tun, ihre Arbeit pro nihilo möglichst bald einzustellen.

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Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Crailsheim, Krafft Frhr. von (1841─1926) bayer. Außenminister
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843─1925) bayer. Gesandter in Berlin
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1Die 1871 gegründete Berliner Zeitung Germania, Zeitung für das Volk und Handelsblatt, war das Zentralorgan der Zentrumspartei. »
  • 2Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 551 v. 24.11.1883. »
  • 3Der Westfälische Merkur war eines der Hauptorgane der Zentrumspartei, er erschien seit 1822 in Münster. »
  • 4Bereits am 31.10.1883 hatte die “Germania” (Nr. 250) im Hinblick auf diese Verlautbarung kommentiert: Solches schweres Geschütz wird doch der Reichskanzler nicht gegen einen seiner Geheimen Räte auffahren. »
  • 5Die “nationalliberale Correspondenz” hatte anläßlich dieser Mitteilung spekuliert: Es war in jüngster Zeit überaus wenig über die Fortführung der sozialpolitischen Gesetzgebung und deren Richtung in die Öffentlichkeit gedrungen, man gewann den Eindruck, daß eine gewisse Stockung eingetreten sei, und daß es über eine Reihe Fragen von entscheidender Wichtigkeit an der ausschlaggebenden Direktive fehlte. Aus den Andeutungen der “Nordd. Allg. Ztg.” ist nun zu schließen, daß es darüber in den leitenden Kreisen zu sehr ernsten Meinungsverschiedenheiten gekommen ist, hinter welchen sogar eine neue Reichskanzlerkrisis in der Ferne wieder sichtbar wurde. Man muß abwarten, wie unter dem Einfluß dieser Vorgänge die Fortführung der Sozialreform sich gestalten wird; bei den dermaligen noch sehr unklaren Umrissen der Angelegenheit bleiben zu viele Zweifel und Rätsel übrig, um ein Bild von der weiteren Entwicklung dieser Reform sich machen zu können. (zit. nach Kölnische Volkszeitung, Nr. 266 v. 28.9.1883) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 127, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0127

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