Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 124

1883 November 7

Bericht¹ des bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Ausfertigung, Teildruck

[Im Reichsamt des Innern wurde mit der Ausarbeitung der dritten Unfallversicherungsvorlage in Form eines Gesetzentwurfs begonnen, die Berufsgenossenschaften sollen Voraussetzung und Grundlage von Gewerbe- und Landwirtschaftskammern werden]

Mit Bezug auf meinen gehorsamsten Bericht vom 4. 1. M. Nr. 488 beehre ich mich Euer Exzellenz anzuzeigen, daß mit der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs über die Unfallversicherung nach Maßgabe der fertigen Grundzüge im Reichsamt des Innern bereits begonnen worden ist.

Die beabsichtigte vorgängige Einsendung der Grundzüge an den Reichskanzler mußte nämlich in Rücksicht auf die neue Erkrankung des Fürsten² unterbleiben, und da vorläufig nicht abzusehen ist, wann der Reichskanzler wieder arbeitsfähig wird, so hielt Herr von Boetticher es für geraten, die Ausarbeitung des Gesetzentwurfs nicht länger zu verschieben, der andernfalls nicht mehr in dieser Session fertiggestellt werden könnte.³

[ Druckseite 400 ]

Von größeren Vorlagen wird noch der Entwurf des Aktiengesetzes⁴ an den Bundesrat gelangen, sowie jener des Versicherungsgesetzes⁵; letzterer jedoch nur in dem Falle, daß der Reichskanzler, der seit nahezu zwei Jahren sich nicht mehr mit dieser Materie beschäftigt hat, denselben gutheißt.

Sodann erfahre ich noch, daß folgende weitere Vorlagen mehr untergeordneter Bedeutung vorbereitet werden.

Neue gesetzliche Bestimmungen hinsichtlich der Unfälle zur See.⁶ Hier hat sich namentlich das Bedürfnis ergeben, eine II. Instanz zu schaffen, da die Urteile, gegen welche eine Revision bisher nicht Platz griff, häufig der Billigkeit nicht entsprochen haben.

Neue Bestimmungen über die Vermessung der Schiffe.⁷ Letztere Reform wird veranlaßt durch technische Veränderung in der Konstruktion der Schiffe.

Was die Einführung von Kammern des Handels, der Gewerbe und der Landwirtschaft durch das ganze Reich betrifft, von welchem Projekte ich gleichfalls in meinem gehorsamsten Berichte vom 4. 1 [aufenden] M[onats] Nr. 488 gesprochen habe, so war meine Voraussetzung, daß dasselbe sich noch in der Kindheit befindet und im Zusammenhange mit den Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung steht, eine richtige.

Direktor Bosse, der mir heute von dieser Sache sprach, äußerte sich dahin, daß nach seiner Ansicht die Voraussetzung und Grundlage dieser Kammern die künftigen Berufsgenossenschaften bilden würden. Die Bedeutung der ganzen Reform erblickt er in der Schaffung einer wirklichen Interessenvertretung.⁸

[ Druckseite 401 ]

• ¹BayHStA MA 77380, n.fol., Entwurf: ebd., Bayer. Gesandtschaft Berlin 1053. »
• ²Am 9.11.1883 schrieb Graf Wilhelm von Bismarck an von Rottenburg: S.D. kommt allmählich wieder ins Geleise und hält gut Diät, auch hielte er den Faktor Arbeit immer für unschuldiger an unseren Krankheiten als ihm gern zugeschoben wird. Jedoch: Auf Unfall lassen wir uns vorläufig kaum ein, und ich finde deshalb Ihr Argument sehr zweckmäßig, daß sie die ungestümen Kollegen (also wohl Bödiker u. Gamp) einstweilen beschäftigt haben. (BA Koblenz NL Rottenburg Nr. 4, fol. 202) »
• ³Am 11.11.1883 bat von Boetticher Bismarck um einen Wink, ob dieser sich schon wieder so gekräftigt fühle, um an die Durchsicht unserer Vorarbeiten für die Unfallversicherung herantreten zu können. Im übrigen ließe er schon jetzt, um die Zeit nicht ungenutzt zu lassen, den Gesetzentwurf sowohl durch Gamp als durch Bödiker und Magdeburg ausarbeiten (BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 212). Diese Erstfassung des Gesetzentwurfs war am 14.11.1883 fertig und von Bödikcr abgezeichnet, am 21.11. durch Bosse und am 24.11.1883 z.d.A. geschrieben (BArchP 15.01 Nr. 385, fol. 253─306 Rs.). Aufgrund der von Ende November bis Ende Dezember 1883 ergangenen neuen Direktiven Bismarcks hat diese Erstfassung der dritten Unfallversicherungsvorlage aber wohl keine besondere praktische Bedeutung als Vorlage oder dergleichen erlangt. »
• ⁴Mit der Vorbereitung des Gesetzes betreffend die Kommanditgesellschaft auf Aktien und die Aktiengesellschaft, das am 7.3.1884 von der Regierung dem Reichstag vorgelegt wurde, hatten Bosse und v. Boetticher bereits im Sommer 1883 Eduard Magdeburg beauftragt, der nun als Referent für die Arbeiterversicherung endgültig ausschied. Das Gesetz wurde am 18.7.1884 verabschiedet (RGBl. S. 124). »
• ⁵Dieses wurde dem Reichstag nicht vorgelegt, lediglich im Rahmen des Aktiengesetzes vom 18.7.1884 (§ 1 Art. 180 h, 215a) fanden sich zu Versicherungsgesellschaften dieser Rechtsform Bestimmungen; die “Verstaatlichungsdiskussion” ebbte danach ab, vgl. auch dazu: BArchP 07.01 Nr. 17438. »
• ⁶Das Gesetz über die Untersuchung von Seeunfällen vom 27.7.1877 (RGBl. S. 549) wurde nicht geändert, d.h. die untersuchenden Seeämter wurden abschließend tätig. »
• ⁷Die Schiffsvermessungsordnung vom 5.7.1872 (RGBl. S. 270) wurde erst 1895 abgeändert und neu gefaßt. »
• ⁸Vgl. Nr. 114 Anm. 6. »