Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 116

1883 Oktober 19

Gewerkverein1 Nr. 42 Zum Entwurfe des Unfallversicherungsgesetzes

Teildruck

[Kritik an einem Alternativentwurf für ein Unfallversicherungsgesetz, den der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Oechelhäuser publiziert hat]

Der Abgeordnete Oechelhäuser2 hat bei der letzten kurzen Session des Reichstages3 eine Arbeit4 über dieses Thema an die Mitglieder gelangen lassen. Das Wesentliche seiner Vorschläge besteht in folgendem: 1. Der Umfang der Unfallversicherung ist dem Umfange der Krankenversicherung möglichst zu nähern und allmählich damit vollkommen in Übereinstimmung zu bringen. 2. Die Krankenfürsorge und Entschädigung für alle vorübergehend durch Unfälle erwerbsunfähig Gewordenen wird ohne Einschränkung der Zeit von den Krankenkassen übernommen, unter Festhaltung der dreitägigen Karenzzeit. Die Krankenkassen tragen hierzu jedoch nur etwa die Hälfte bei, den Mehrbetrag die Unternehmer. Auch erhalten die Unfallkranken, eventuell von einem gewissen Zeitpunkt ab, nicht die Hälfte, sondern zwei Drittel des Arbeitsverdienstes als Entschädigung. 3. Das Unfallgesetz umfaßt hiernach nur die schweren Unfälle: Invalidität und Tötung. 4. Die Verwaltung des Unfallwesens wird mit dem Organismus der Krankenkassen verknüpft. 5. Die Unfallbelastung wird zu einem Teile, etwa zur Hälfte, von der gesamten deutschen Industrie getragen. 6. Es werden nicht die zur Deckung der laufenden Renten und Pensionen erforderlichen Summen, sondern die zu berechnenden Deckungskapitalien eingezogen, welche jedoch bis auf weitere Erfahrung niedriger gegriffen werden können, als die bisherige Sterblichkeitsstatistik angibt. 7. Diese Deckungskapitalien sollen an die Reichszentralstelle abgeführt werden, welche die Auszahlung der Renten durch die Post besorgt. Den Krankenkassen soll es gestattet sein, sich die Deckungskapitalien durch Rückversicherung bei Privatgesellschaften mittelst Prämienzahlung zu beschaffen, und sie selbst haften der Zentralstelle. Es wird angeführt, daß die Unfälle, deren schädliche Folgen nur 13 Wochen dauern, 94 bis 95 % sämtlicher Verunglückungen ausmachen, und wenn man die längeren Unglückserkrankungen noch hinzunehme, so stiege das Verhältnis auf 97 %, so daß nur 3 % Unglücksfälle mit tödlichem Ausgange oder dauernder Erwerbsunfähigkeit übrigblieben ─ im ganzen vielleicht 3700 Fälle, für welche die Regierung einen Apparat von 4 ─ 500 Betriebsverbänden mit 1500 bis 2000 Indu-

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strieabteilungen konstruieren wolle. Auf den Betriebsverband kämen also jährlich 7 ─ 8 Fälle, und das sei eine Verschwendung an Menschen, Zeit und Geld, welche durch die Übertragung der ganzen Sache auf die Krankenkassen vermieden werde.

Was man mit dem Krankenversicherungsgesetz gemacht hat, wird man erst erkennen, wenn es an die Ausführung geht, und die Möglichkeit der letzteren erscheint uns so zweifelhaft, daß wir es für sehr gewagt halten müssen, mit der Zuversicht des Milchmädchens schon weitere Pläne an die noch nicht vorhandene Kuh zu knüpfen. Aber abgesehen von diesen Bedenken liegt an und für sich der Hauptfehler der einschlägigen Gesetzgebung schon in dem Zusammenhange, in welchem man Krankenversicherung und Unfallversicherung bis jetzt bringen wollte. Die Zwangsversicherung gegen Krankheit ist ein Unrecht gegen den Arbeiter, von welchem man Achtung vor dem Eigentum erwartet, während man doch das Eigentum an seinem Monatsverdienst nicht achtet. Was der Arbeiter mit der Krankenversicherung schafft, mußte ihm eine richtige Armenpflege auch sonst gewähren, und er kann verlangen, daß man es seiner eigenen Beurteilung überlasse, ob er imstande sei, sich von der Armenpflege loszukaufen. Keinesfalls darf man die Lasten schwerer machen als nötig. Mit den Unfällen verhält es sich ganz anders. Für diese schafft der Unternehmer die Gelegenheit, er muß sie daher als einen Teil der Geschäftsunkosten übernehmen wie der Landwirt Hagelschäden und Viehseuchen. Es kommt dabei gar nicht einmal auf die Verschuldung an. Wo kein Dampfkessel ist, kann keiner zerspringen, und wo kein Haus gebaut wird, kann niemand vom Gerüst fallen. Selbst das Versehen des Verunglückten kann den Unternehmer nicht befreien, denn er muß mit der mangelhaften Menschennatur rechnen und kann von einem durch zehnstündige Arbeit ermüdeten Arbeiter nicht die äußerste, frische Aufmerksamkeit verlangen. Setzt er einen besonders unachtsamen Menschen oder einen Betrunkenen der Gefahr aus, so trifft ihn der Schaden, wie wenn er ein unbrauchbares Pferd anspannt und dieses den Wagen zerbricht. Das Haftpflichtgesetz hat dies nicht gehörig berücksichtigt und leidet außerdem an dem Fehler, daß es einen Gegensatz des direkten Interesses herbeiführt zwischen zwei Parteien, von denen die eine nicht immer in der Lage ist, ihr volles Recht geltend machen zu können. Eine Gesetzgebung, welche diese Übelstände beseitigt, wäre daher nur zu billigen, aber sie müßte sich streng auf dem ihr zustehenden Gebiete halten und nur den Unternehmer heranziehen. Das soll aber bekanntlich schon nach dem Regierungsentwurf nicht geschehen, welcher der Industrie teils eine Staatsunterstützung aus den Taschen der Steuerzahler gewähren, teils die Krankenkassen heranziehen will, zu welchen er den Arbeitern das Brot von dem Munde wegnimmt. Und der Oechelhäusersche Vorschlag ist in letzterer Beziehung nicht besser.

Die Krankenkassen werden schon an und für sich mit Opfern belastet, die eigentlich in die Unfallversicherung gehören und von denen diese befreit bleibt, weil die Grenze nicht scharf zu ziehen ist. Es gibt eine Menge Industrien ─ wir brauchen nur an die Fabrikation der Zündhölzchen5 und die Schleifereien zu erinnern ─ bei welchen zwar keine besonderen Unfälle eintreten, die aber die Gesundheit des Arbeiters schädigen und sein Leben verkürzen. Dieser Schaden müßte von Rechts [ Druckseite 387 ] wegen auf die Fabrikationskosten geschlagen werden, aber er fällt jetzt den Krankenkassen zu, für welche ganz andere Berufsklassen mit beisteuern sollen. Man tröstet sich darüber mit den Knappschaftskassen, die aber nur einem besonderen Gewerbe dienen. Zum Überfluß zieht der Regierungsentwurf noch verschiedene Grenzen für Krankenkassen und Unfallversicherung, so daß den ersteren Kreise unterliegen, die von der letzteren ausgeschlossen sind. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843─1917) Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Bismarcks
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • 1Der Gewerkverein war das Organ des Verbandes deutscher Gewerkvereine. Redakteur war der Verbandsanwalt Dr. Max Hirsch, der die Zeitschrift 1869 gegründet hatte. »
  • 2Wilhelm Oechelhäuser (1820─1902), Generaldirektor, seit 1878 MdR (nationaliberal). »
  • 3Die III. (außerordentliche) Session der V. Legislaturperiode (vom 29.8.─1.9.1883) dauerte nur vier Tage. »
  • 4Diese wurde zunächst in der Kölnischen Zeitung und dann als anonymer Privatdruck (Vorschläge zur einfachsten Lösung der Unfallversicherungsfrage. Von einem Reichstagsabgeordneten, Köln 1883) verbreitet, überliefert (mit Anschreiben Oechelhäusers): BArchP 15.01 Nr. 396, fol. 19─21 [S. 1─25]. »
  • 5Gemeint ist die durch den roten Phosphor hervorgerufene schwere Gewerbekrankheit Phosphornekrose (“Kieferfraß”). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 116, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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