Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 115

1883 [Oktober 10]

Ausarbeitung1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann

Niederschrift, Teildruck

[Zwangsgenossenschaften können weder die ihnen zugedachten sozialpolitischen noch die allgemeinpolitischen Aufgaben erfüllen, sie sind nicht besser als die gegenwärtigen Wahlkreise]

Sollen die Berufsgenossenschaften für die soziale und politische Entwicklung die erhoffte entscheidende Bedeutung gewinnen, so müßten sie erstens eine Ausdehnung haben, durch welche ihnen als Vertretungen großer Massen ein entscheidendes Gewicht naturgemäß zufällt, zweitens aus Elementen zusammengesetzt werden, welche durch die Gleichartigkeit ihrer Interessen und ihrer sozialen Stellung einen genossenschaftlichen Zusammenschluß und eine einheitliche genossenschaftliche Tätigkeit ermöglichen.

Die Erfüllung der ersten Voraussetzung hat man in der Hand, wenn man ohne Rücksicht auf die Willfährigkeit der Beteiligten die der gewollten Ausdehnung entsprechende Zahl von Industriezweigen zu einer Genossenschaft vereinigt. Gefährdet wird diese Voraussetzung in dem Maße, in welchem man den Wünschen der Beteiligten einen Einfluß auf die Zusammensetzung der Genossenschaften einräumt, weil die vielfach auseinandergehenden Interessen der verschiedenen Industriezweige mit Notwendigkeit auf Absonderung und damit auf Bildung möglichst vieler Genossenschaften hindrängen.

Die zweite Voraussetzung wird sich umso weniger erfüllen, je weniger man bei der Bildung der Genossenschaften auf die Wünsche der Beteiligten Rücksicht nimmt, ja es läßt sich mit Sicherheit voraussehen, daß, solange man überhaupt an dem Prinzip der Zwangsgenossenschaften festhält, die Berücksichtigung der Wünsche der Beteiligten niemals so weit gehen kann, daß die Erfüllung der zweiten Voraussetzung gesichert würde.

Ganz abgesehen davon, daß man es keinesfalls umgehen könnte, Industriezweige zu vereinigen, deren Angehörige der Vereinigung wegen abweichender Interessen widerstreben, so führt schon die zwangsweise Vereinigung sämtlicher [ Druckseite 384 ] Angehöriger eines Industriezweiges zu Genossenschaften, welche aus sehr ungleichartigen Elementen zusammengesetzt sind, und denen deshalb von vornherein die Bedingungen einer lebensfähigen genossenschaftlichen Entwicklung abgehen. Die Lebensverhältnisse, Lebensanschauung und Interessen der großen und kleinen Unternehmer desselben Industriezweigs sind vielfach so verschieden, daß bei zwangsweiser Vereinigung zu einer Genossenschaft der entschiedenste Gegensatz der Interessen in denselben sich ausbilden würde, und zwar um so mehr, je weiter man das Gebiet der Aufgaben der Genossenschaften über diejenige der Unfallversicherung hinaus erweitern würde. Die Regel würde naturgemäß auch hier sein, daß das Interesse der großen Unternehmungen in der Genossenschaft zur Herrschaft gelangen, das der kleinen in derselben nicht zur Geltung gelangen würde. [...] Es folgen Ausführungen über die fehlende Zeckmäßigkeit der vorgesehenen Genossenschaften für die Durchführung der Unfallversicherung, insbesondere zur Festsetzung des Beitragsfußes.

Es wird nicht bezweifelt werden können, daß man die nächste Aufgabe (Unfallversicherung) in befriedigender Weise ohne einen so weitläufigen Apparat, wie die in Aussicht genommenen Zwangsgenossenschaften würde lösen können, ja daß für diese nächste Aufgabe die beabsichtigte Organisation nicht einmal als eine besonders zweckmäßige angesehen werden kann. Es ist demnach die Frage berechtigt, welche Aussichten auf Entfaltung einer umfassenderen sozialpolitischen und politischen Wirksamkeit die beabsichtigten Genossenschaften bieten würden.

Sofern aber an der berufsgenossenschaftlichen Organisation, neben der Lösung einzelner sozialpolitischer Aufgaben, eine allgemeine Einwirkung auf das gesamte Volksleben und die Ermöglichung einer Ersetzung des unberechenbaren Zusammenwirkens atomistischer Kräfte durch die zielbewußte Lebensäußerung organischer Gliederungen erwartet wird, kann doch die Frage nicht abgewiesen werden, ob Genossenschaften, wie sie jetzt begründet werden sollen, überhaupt geeignet sind, eine wirkliche Gemeinschaft der Interessen und der Anschauungen für ihre Mitglieder anzubahnen, welche diesen ermöglicht, in dem Bestande der Genossenschaft eine Befriedigung ihres eigenen Interesses und in den Genossenschaftsorganen die erwünschteste und wirksame Vertretung zu erkennen. Erreicht man dieses Ziel nicht, so werden die Genossenschaften auch als Wahlkörper für die politischen Vertretungen die auf sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen. Sie werden dann nur eine etwas veränderte Auflage unserer gegenwärtigen Wahlkreise bilden, welche als solche weder einen politischen Charakter noch politische Ziele noch politisches Verantwortlichkeitsgefühl haben und in welchen die Entscheidung im einzelnen Falle nicht durch ein genossenschaftliches Gesamtinteresse, sondern durch die von außerhalb der Genossenschaft liegenden Momenten bestimmten Einzelinteressen, für welche sich unter den Genossenschaftsmitgliedern eine zufällige Majorität zusammenfindet, bedingt sein wird.

Erreichen wird man aber jenes Ziel der Anbahnung eines genossenschaftlichen Gemeingeistes nur, wenn man die Genossenschaftsbildung in einer Weise vor sich gehen läßt, welche nicht widerstrebende Elemente durch einen äußeren Zwang aneinanderkettet, sondern die einzelnen durch den Antrieb gemeinsamer Interessen zusammenführt.

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Registerinformationen

Personen

  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Oechelhäuser, Wilhelm (1820─1902) Industrieller, MdR (nationaliberal)
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 17, fol. 120─126. Die Datierung erfolgt durch die Bearbeiter, sie ist mangels konkreter Anhaltspunkte nicht genau möglich. [ebd., fol. 244─246, Kritik des verabschiedeten Gesetzes mit skizzenhafter Aufstellung: Obliegenheiten des Reichsversicherungsamtes (fol. 244 Rs.) und in der Kommissionsfassung (fol. 210─219)] »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 115, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0115

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