Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 114

1883 Oktober 5

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Pastor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Bericht über den “Bruch” mit Bismarck und dessen politische Absichten mit der Organisation der Unfallversicherung]

[...] Es trifft sich so, daß ich gerade heute Dir über eine entscheidende Wendung in meinen dienstlichen Verhältnissen eine, wenn auch zunächst noch vertrauliche Mitteilung machen kann. Ich werde hinfort, wenigstens vorläufig, an der sozialpolitischen Gesetzgebung nicht mehr mitarbeiten.3 An dem Tage, wo der Reichskanzler morgens in Berlin angekommen war, ließ er mich mittags rufen und würdigte mich einer etwa 3/4-stündigen Unterredung, in welcher er mir seine Anschauungen über die Grundlagen des nunmehr vorzulegenden Unfallgesetzentwurfs auseinandersetzte: Zwangsberufsgenossenschaften, Umlageverfahren, Vorschuß der Jahresausgaben seitens des Reiches etc.4 Ich setzte ihm auseinander, daß man zu lebensfähigen Genossenschaften niemals auf dem Wege des direkten Zwanges, sondern nur auf dem der indirekten Nötigung, bei welchem die konkreten Genossenschaften durch die Initiative der Beteiligten zustande kämen, gelangen würde, und daß eine Organisation, wie er sie im Sinne habe, Schwierigkeiten biete, welche legislatorisch und verwaltungstechnisch nicht zu überwinden seien. Obwohl ich mehr sprach als jemals bei einer Unterredung mit ihm, gelang es mir doch in keinem Punkte, meine Gründe vollständig darzulegen, indem er wie gewöhnlich an irgendeinem Punkte in die Rede fiel und von der vermeintlichen Widerlegung meiner Einwürfe wieder ins Dozieren überging. Mein beharrlicher Widerspruch5 veranlaßte ihn endlich zu der Äußerung: “Sie haben wohl den Geschmack an der Sache verloren?” Ich erwiderte, es würde mir ja nur eine Freude und hohe Befriedigung sein, wenn ich zum Zustandekommen des Werkes mitwirken könne; aber jedes Menschen Kraft habe seine Grenzen, und obwohl ich in der Sache mehr als irgendein anderer gearbeitet und mir redlich Mühe gegeben, so wisse ich doch jetzt keinen Vorschlag mehr zur Ausführung seiner Pläne zu machen, wenn die von ihm dargelegte Grundlage beibehalten werden müsse. Darauf er: Er bedauere es, wenn

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meine Kenntnisse und Erfahrung der Sache nicht mehr zugute kommen sollten; aber von den für ihn einmal feststehenden Grundlagen werde er nicht abgehen, wenn auch, was ja sehr wahrscheinlich, vorläufig gar nichts zustande kommen sollte. Die Unfallversicherung an sich sei ihm Nebensache, die Hauptsache sei ihm, bei dieser Gelegenheit zu korporativen Genossenschaften zu gelangen, welche nach und nach für alle produktiven Volksklassen durchgeführt werden müßten, damit man eine Grundlage für eine künftige Volksvertretung gewinne, welche anstatt oder neben dem Reichstage ein wesentlich mitbestimmender Faktor der Gesetzgebung werde, wenn auch äußerstenfalls durch die Mittel eines Staatsstreichs.6 Ich fand nicht die Möglichkeit und fühlte auch nicht den Beruf, ihm auseinanderzusetzen, daß aus diesem schönen Gedanken auf dem von ihm gewählten Wege des mechanischen Zusammenschweißens unorganisierter und zumindestens apathischer, wenn nicht widerwilliger Elemente niemals etwas werden könne, und wir schieden ohne Verständigung bzw. Unterwerfung meinerseits.7

Vorgestern Abend ist nun der Minister8 von Friedrichsruh zurückgekehrt, wo die Grundlagen des künftigen Entwurfs, wenn auch nur in sehr rohen Umrissen, festgestellt sind.9 Zur Ausarbeitung desselben werden nun ein Rat aus dem Handelsministerium10 und einer meiner Kollegen im Reichsamt des Innern kommandiert, [ Druckseite 382 ] von denen der letztere über den ihm gewordenen Auftrag außer sich ist, und mich heute händeringend bat, ihn doch nicht im Stiche zu lassen.11 Der Minister seinerseits bat mich, einen meiner Auffassung entsprechenden Entwurf, wenn auch auf die Gefahr völlig vergeblicher Arbeit auszuarbeiten; indem er es immer noch für möglich und auf diesem Wege allein für möglich halte, daß der Reichskanzler, wenn der nach seinen Weisungen im Detail ausgearbeitete Entwurf vorläge, von der Unmöglichkeit der Durchführung sich überzeuge und dann vielleicht für einen verständigen und durchführbaren Entwurf, wenn er fertig vorläge, zu gewinnen sein möchte.

Der Reichskanzler muß übrigens in einer ziemlich sonderbaren Gemütsverfassung sein; denn er hat dem Minister unter anderem gesagt, dies eine, nämlich die Berufsgenossenschaften, wolle er noch zustande bringen (!); dann wolle er sich auf das Auswärtige Amt als sein Altenteil zurückziehen und die Fortführung der inneren Angelegenheiten andern überlassen.12

Ich für meine Person fühlte heute nach der Unterredung mit dem Minister eine wahre Erleichterung, daß ich künftig nicht mehr für Dinge einzutreten habe, welche ich nicht allein für verkehrt, sondern auch für völlig unausführbar halte; wenn ich auch keineswegs leichten Herzens von einer Tätigkeit, wenigstens vorläufig, Abschied nehme, auf die mich meine ganze Lebensführung und meine Neigung so recht eigentlich hinwies. Ich bin mir aber bewußt, daß ich in dieser Sache an meinem Teile im ganzen und großen getan habe, was in meinen Kräften stand, in den einzelnen entscheidenden Stadien im wesentlichen auch gehandelt habe, wie ich mußte, und mir keine Vorwürfe darüber zu machen habe, daß diese Episode meines [ Druckseite 383 ] amtlichen Lebens ziemlich genau den Ausgang genommen hat, welchen ich in Differenz mit der Mehrzahl meiner hiesigen Freunde und Kollegen von Anfang an vorausgesagt habe. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Eckardt, Julius von (1836─1908) Schriftsteller und Diplomat
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Hahn, Dr. Ludwig (1820─1888) Redakteur der “Provinzialkorrespondenz”
  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Moeller, Dr. Ernst von (1834─1886) Unterstaatssekretär im preuß. Handelsministerium
  • Puttkamer, Robert von (1828─1900) preuß. Innenminister
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843─1917) Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Bismarcks
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 177─180 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Kirchen- und Familienangelegenheiten. »
  • 3Soweit ersichtlich, war Lohmann aber noch als Referent für Krankenversicherung tätig und als Ratgeber Robert Bosses; vgl. auch Nr. 143. »
  • 4Vgl. Nr. 111. »
  • 5In diesem Zusammenhang verdient Windthorsts Äußerung Beachtung, wonach Bismarck unter vier Augen der gefährlichste Gegner (sei), den man sich denken kann. Er weiß einen derartig zu bestricken, daß man nach einer halben Stunde nicht mehr weiß, welche Ansicht man bei Anfang der Unterredung eigentlich hatte. (Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Bd. 2, Göttingen 1957, S. 19) »
  • 6Dieser Gedanke kam für die Referenten aus dem Reichsamt des Innern überraschend, obwohl Bismarck ihn in nuce bereits in Marginalbemerkungen zu der Aufzeichnung Edmund von Heykings offenbart hatte (vgl. Nr. 31 Anm. 18). Er gehört in den Gesamtzusammenhang von Bismarcks Gedanken einer ständischen Organisation als Gegengewicht zum Reichstag, die bereits ─ auf der Ebene Preußens ─ zum Volkswirtschaftrat geführt hatten; vgl. auch die Einleitung. Im übrigen wurde dieser Plan nicht vertraulich gehandhabt, sondern in der Artikelserie “Korporative Bestrebungen im deutschen Gewerbeleben” in der offiziellen “Provinzialkorrespondenz” (Nr. 42 v. 17.10.1883, Nr. 43 v. 24.10.1883 u. Nr. 46 v. 14.11.1883), die schon 1881 als Sprachrohr für Bismarcks korporative Vorstellungen fungiert hatte, breit erörtert. Verfasser dieser Artikel war vermutlich Julius v. Eckardt, der seit Frühsommer 1882 Redakteur der “Provinzialkorrespondenz” geworden war, versehen mit dem Spezialauftrag des preuß. Innenministers v. Puttkamer, die dem Durchschnitt liberaler wie konservativer Politiker bisher unverständlich gebliebenen sozialpolitischen Pläne des Reichskanzlers von einem “höheren Standpunkte aus” zu erläutern (Julius v. Eckardt, Lebenserinnerungen, Bd. 2, Leipzig 1910, S. 67 f.); der langjährige Redakteur Ludwig Hahn war seit 1882 pensioniert. »
  • 7Auch aus Nr. 115 folgt, daß Lohmann dem politischen Gedanken als solchen wohl nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstand, er fürchtete vielmehr die vertane Chance zur Sozialreform bei dem “mechanischen” Mißgriff Bismarcks. »
  • 8Karl-Heinrich von Boetticher. »
  • 9Vgl. Nr. 111. »
  • 10Gemeint ist Karl Gamp. Bismarck, dem auch Gamps Schrift “Die wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben unserer Zeit auf industriellen und landwirtschaftlichem Gebiet” (Berlin 1880) inhaltlich zugesagt hatte (vgl. den Brief v. Rottenburgs an v. Rantzau v. 11.11. 1882, in dem dieser davon spricht, daß Bismarck an dieser Publikation des Genannten Gefallen fand (Bismarck Archiv Friedrichsruh B 100a), sah nach den Auseinandersetzungen mit dem Reichsamt des Innern bzw. mit Lohmann in Gamp den für die Durchführung seiner politischen Intentionen zur Unfallversicherung geeigneten Mann, dabei scheute er sich nicht, das ─ federführende ─ Reichsamt des Innern bzw. v. Boetticher mit dieser Personalintervention zu brüskieren: Des Streites müde, ließ Bismarck schließlich den Unterstaatssekretär im Handelsministerium Dr. (Ernst) von Moeller rufen und bedeutete ihm, da Lohmann strike, solle Geheimrat Gamp aus dem Handelsministerium die Arbeit in die Hand nehmen und zunächst die Grundzüge des Entwurfs nach den vom Kanzler gegebenen Direktiven ausarbeiten. So drohte der Schwerpunkt für die Ausarbeitung der ganzen Sozialgesetzgebung sich aus dem Ressort des Reichsamts des Innern in das des preußischen Handelsministeriums zu verflüchtigen. Diese Entwickelung konnte dem Staatssekretär des Innern nicht gleichgültig sein ─ genug, eines Tages erhielt (von v. Boetticher) Geheimrat Bödiker den Auftrag, sich nun auch seinerseits an die Ausarbeitung von Grundzügen für die Unfallversicherung auf berufsgenossenschaftlicher Grundlage zu machen. (Heinrich von Poschinger, Fürst Bismarck. Neue Tischgespräche und Interviews, Stuttgart 1895, S. 122) Bei den folgenden Grundzügen bzw. Gesetzentwürfen hat dann Gamp als Referent nahezu alle Erstkonzepte geliefert, die allerdings von Bödiker als Koreferent teilweise erheblich abgeändert bzw. ergänzt wurden, Gamp wurde im Dezember 1883 im Interesse der ordnungsmäßigen Verteilung und Kontrolle der Geschäfte zum Vortragenden Rat im Reichsamt des Innern im Nebenamt ernannt (vgl. dazu den Immediatbericht Karl Heinrich v. Boettichers v. 3.12.1883, BArchP 15.01 Nr. 14332, fol. 51─52). “Der Sozialdemokrat” polemisierte gegen Gamp als Bismarcks neuesten Hausknecht für das Sozialreform und Kurpfuscher Departement und nette Pflanze, die plötzlich durch einen Griff der Bismarckschen Hand aus dem Dunkel hervorgeholt und mit der Ausarbeitung des Unfallversicherungsgesetzes Nr. 3 beauftragt worden ist. Wer ist Gamp? Was war Gamp? lautete wochenlang die erstaunte Frage. (Nr. 2 v. 10.1.1884, S. 2) »
  • 11Aus Nr. 113 folgt, daß es sich dabei um Eduard Magdeburg, nicht um Tonio Bödiker handelte, der noch in Urlaub war. »
  • 12Vgl. auch Nr. 123. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 114, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0114

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