Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

Eine chronologische Auflistung der Quellen über alle Bände hinweg ist als PDF verfügbar.

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 110

1883 September 27

Schreiben1 des Geheimen Regierungsrates Tonio Bödiker an den Geheimen Regierungsrat Dr. Franz von Rottenburg

Eigenhändige Ausfertigung

[Bödiker ist völlig überrascht von Bismarcks Plan, die Durchführung der Unfallversicherung auf Berufsgenossenschaften zu stützen, die offiziöse Pressemitteilung darüber hält er für Zeitungsplänkelei, die von Rottenburg aufhalten soll]

Die Nordd[eutsche] Allg[emeine] Z[ei]t[un]g von vorgestern2 brachte einen offenbar inspirierten Artikel in betreff der Stellung des Herrn Reichskanzlers zur Unfallversicherungsorganisation, worin der “berufsgenossenschaftliche” Aufbau stark in den Vordergrund geschoben wurde.

[ Druckseite 371 ]

Ich möchte Sie nun bitten, dahin zu wirken, daß vor der Hand das Engagement in dieser Richtung nicht noch weitergeführt werde, sofern nämlich unter “Berufsgenossenschaft” jene enge Genossenschaft unter Betrieben desselben Industriezweigs oder derselben Betriebsart verstanden werden sollte. Von dieser Art von Berufsgenossenschaften werden sich nämlich, ausweislich der Statistik, verhältnismäßig nur sehr wenige bilden lassen. Hierin sind die Herren v. Boetticher Exz., Bosse und Lohmann, denen ich ad hoc ausgearbeitete, für Se. Durchlaucht bestimmte Karten vorgelegt habe, mit mir einig.3 Denn im allgemeinen wird doch daran festzuhalten sein, daß eine solche Genossenschaft die Grenzen einer Provinz möglichst nicht überschreiten oder, um mich korrekter auszudrücken, kein größeres Territorium umfassen soll. Ist in der Regel ein größerer Bezirk erforderlich, so wird das korporative Leben an den großen Entfernungen, den Reisekosten, dem rein schriftlichen Verfahren gefährliche Klippen finden. Alle diese Dinge habe ich an der Hand der Statistik unter Beifügung von Berechnungen verschiedener Art näher dargelegt, und der Herr Minister v. Boetticher wird Sr. Durchlaucht ehestens Vortrag in der Sache halten. Bis dahin suchen Sie die Zeitungsplänkeleien von Ihrer Seite aufzuhalten.

Freilich kann man unter “Berufsgenossenschaften” ja sehr wohl die Genossenschaften der Industriellen überhaupt verstehen, denn gegenüber dem Stande der Offiziere, Beamten, Ärzte, Geistlichen, Landwirte etc. etc. bilden sie ja einen Berufsstand, und der A[ller] H[öchsten] Botschaft vom 17.11.1881 entspricht es m. E. durchaus, in diesem Sinne von den Industriellen als einem Berufsstande zu reden. Es kommt hinzu, daß m. E. die “Bezirksgenossenschaften”, also geographisch abgegrenzte Genossenschaften mit verschiedenartigen Betrieben, bei dem starken Fluktuieren der Arbeiterbevölkerung, für die Organisation der Alters- und Invalidenversorgung schwerlich zu entbehren sein werden.

[ Druckseite 372 ]

Dies alles würde ich Ihnen mündlich näher darlegen können, wenn ich nicht im Begriff stände, endlich eine 10tägige Ausspannung mir zu gönnen, denn seit vorigem Winter bin ich noch in unausgesetzter Aktion. Meinen Sommerurlaub mußte ich verwenden, um im amtlichen Auftrag “Das Gewerberecht”4 zu schreiben und den Unfall näher zu studieren. Es wird Zeit, daß ich ein Weilchen Ruhe mir gönne.

Hoffentlich bringen Sie Se. Durchlaucht gestärkt zurück. Dem Vernehmen nach reist der Fürst ja sofort nach Friedrichsruh durch. ─ Um in Gastein5 den Fürsten nicht zu behelligen, schrieb ich meine unmaßgeblichen Gedanken, betreffend Berufs- und Bezirksgenossenschaften, nicht nach Gastein.

Registerinformationen

Personen

  • Bernstein, Eduard (1850─1932) Bankkaufmann, Schriftsteller und sozialdemokratischer Theoretiker
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Engels, Friedrich (1820─1895) Industrieller, sozialistischer Schriftsteller
  • Richter, Eugen (1838─1906) Jurist und Politiker, MdR (Fortschritt) und MdAbgH
  • 1BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 202─203 Rs. Mit diesem “persönlichen” Schreiben hielt der zu dieser Zeit beurlaubte Bödiker sich nicht an den Dienstweg (vgl. auch Nr. 117), es ist nicht ersichtlich, daß Bismarck dieses eigenmächtige Vorgehen “honoriert” hat. Bödiker dürfte sich dazu befugt gefühlt haben, nachdem er sich anläßlich der aufsehenerregenden Reichstagsdebatte über die von ihm ausgearbeitete Gewerbeordnungsnovelle (Gewerbebetrieb im Umherziehen) vom 1.7.1883 (RGBl. S. 159) bei Bismarck seine “Sporen verdient” und damit dann geradezu angebiedert hatte: Wütend starrte mich von der Treppe links der Abgeordnete Richter an, sobald ich mich zum Reden erhob, am letzten Abend hob sich buchstäblich der Fortschritt von seinen Sitzen, um eine drohende Haltung gegen mich anzunehmen. Mutterseelenallein an den langen Bänken des Bundesrats, stellte ich mich unter den Schutz Gottes, bis bei dem letzten maßlosen Angriff Richters, der noch dazu so ungerecht war, die Tränen mir in die Augen kamen. (...) Heftige Kopfschmerzen, die ich sonst nicht kenne, quälten mich in der Nacht; am anderen Tag hatte ich Stiche im Herzen ─ Durchlaucht! So bin ich durch den Kampf gegangen. (Schreiben vom 5.6.1883: BArchP 07.01 Nr. 1439, fol. 45─48 Rs. und den Antwortbrief Bismarcks v. 7.6.1883, ebd., fol. 49─50 Rs. und 07.01 Nr. 1656, fol. 174─174 Rs., abgedruckt bei Heinrich von Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, 3. Bd. 1879─1890, Breslau 1896, S. 89). Friedrich Engels sprach in einem Brief an Eduard Bernstein vom 12.6.1883 vom “dumm-schnoddrigen Bödiker” [MEW Bd. 36, S. 37]); vgl. auch Nr. 78 Anm. 2. »
  • 2Vgl. Nr. 109 Anm. 4. »
  • 3Dies geschah wohl bei der Dienstbesprechung am 24.9.1884 (vgl. Nr. 107 Anm. 1). »
  • 4Tonio Bödiker, Das Gewerberecht des Deutschen Reichs. Im amtlichen Auftrage, Berlin 1883. Das Vorwort datiert vom September 1883; vom 27.9.─7.10.1883 (einschl.) war T. Bödiker beurlaubt (BArchP 15.01 Nr. 14265, fol. 159). »
  • 5Bismarck hielt sich vom 1.9. bis 24.9.1883 in Gastein auf. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 110, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0110

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.