Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 107

1883 September 24

Denkschrift1 des Geheimen Regierungsrates Tonio Bödiker für den Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher

Eigenhändige Ausfertigung

[Grundzüge für eine Organisation der Unfallversicherung auf der Grundlage von Bezirksgenossenschaften und Berufsgenossenschaften als befristet zugelassene Alternative]

Grundzüge betreffend die Organisation der Unfallversicherung im Anschlusse an den Gesetzentwurf vom Jahre 1882, dessen Bestimmungen im übrigen mut[atis] mut[andis] im wesentlichen beibehalten wurden

1. Die Versicherung erfolgt durch die Unternehmer der unter § 12 fallenden Betriebe auf Gegenseitigkeit, in der Weise, daß die zu leistenden Entschädigungen nach Abzug von 20 %, welche vom Reiche gewährt werden, aufzubringen sind nach Maßgabe der in den Betrieben verdienten anrechnungsfähigen Löhne und Gehälter sowie in Gemäßheit der nach § 10 Abs. 2 festgestellten Prozentsätze der Gefahrenklassen a) mit 40 % von der Gesamtheit aller Betriebsunternehmer im Deutschen Reiche und b) mit 40 % von den Mitgliedern derjenigen Bezirksgenossenschaft (Ziffer 2 unten) oder derjenigen Berufsgenossenschaft (Ziffer 3 unten), welcher der von dem Unfall betroffene Betrieb angehört.

2. Alle unter § 1 fallenden und im Bezirke einer höheren Verwaltungsbehörde belegenen Betriebe bilden zusammen eine Bezirksgenossenschaft.

Die Zentralbehörden der Bundesstaaten können bestimmen, daß, wo die Verhältnisse es wünschenswert machen, in einem höheren Verwaltungsbezirk zwei oder mehrere örtlich abgegrenzte Bezirksgenossenschaften errichtet, oder daß zwei oder mehrere höhere Verwaltungsbezirke oder Teile derselben zu einer Bezirksgenossenschaft vereinigt werden.

Aufgrund gemeinsamer Bestimmung der Zentralbehörden können unter vorstehender Voraussetzung die in benachbarten Bezirken oder Teilen derselben, welche verschiedenen Bundesstaaten angehören, vorhandene Betriebe zu einer Bezirksgenossenschaft vereinigt werden.

3. Innerhalb sechs Monaten nach der Verkündigung des Gesetzes können die demselben Industriezweige oder derselben Betriebsart angehörenden Betriebsunternehmer bei den beteiligten Zentralbehörden den Antrag stellen, zu Berufsgenossenschaften vereinigt zu werden.

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Die Mindestzahl zur Bildung einer Berufsgenossenschaft erforderlichen Betriebe, sowie die der versicherungspflichtigen Personen wird durch Beschluß des Dundesrats festgestellt.

Dem Antrag ist Folge zu geben, wenn diese Mindestzahlen erreicht werden. Unter der letzteren Voraussetzung können für denselben Industriezweig oder dieselbe Betriebsart mehrere örtlich abgegrenzte Berufsgenossenschaften errichtet werden.

Diejenigen Betriebsunternehmer, welche den Antrag nicht mitgestellt oder sich demselben nicht vor der Konstituierung der Genossenschaft angeschlossen haben, werden Mitglieder der Bezirksgenossenschaft.

4. Die Abgrenzung der Bezirksgenossenschaften erfolgt, nachdem die Konstituierung der Berufsgenossenschaften vor sich gegangen ist.

Die Verhandlungen über die Errichtung der Berufsgenossenschaften sind derart zu beschleunigen, daß jene Abgrenzung spätestens nach Ablauf eines Jahres nach Verkündigung dieses Gesetzes in Angriff genommen werden kann.

5. Nach Ablauf der unter Ziffer 3 Abs. 1 bezeichneten Frist können Anträge auf Errichtung neuer Berufsgenossenschaften nicht mehr gestellt werden.3

Eine bestehende Berufsgenossenschaft kann sich in zwei oder mehrere örtlich abgegrenzte Berufsgenossenschaften teilen. Das hierüber aufzustellende Statut bedarf der Genehmigung des Unfallversicherungsamtes.

6. Für die Unfälle, welche in den zu einer Berufsgenossenschaft gehörenden Betrieben vorkommen, sind nach einem vom Bundesrat festzustellenden Tarife Deckungskapitale zu berechnen, von denen nach Maßgabe der Ziffer 1 40 % auf die Mitglieder der Genossenschaft umzulegen und an das Unfallversicherungsamt einzusenden sind.4

7. Das Unfallversicherungsamt übernimmt die Verwaltung der bei ihm eingehenden Kapitale, deren Substanz und Zinsen zusammen mit dem Reichszuschuß und den Beiträgen der Gesamtheit der versicherungspflichtigen Betriebe (oben Ziffer 1) zur Deckung der zu leistenden Entschädigungen verwandt werden. Etwaige Ausfälle trägt das Reich; etwaige Überschüsse fallen dem Reiche zu. Der Bundesrat veranlaßt von fünf zu fünf Jahren eine Revision des Tarifs.

8. Der Übertritt aus einer Berufsgenossenschaft in eine Bezirksgenossenschaft steht mit dem Ablauf des auf die Austrittserklärung folgenden Rechnungsjahres jedem Betriebsunternehmer mit der Maßgabe frei, daß er für die bis zu seinem Übertritt auf ihn entfallenden Beiträge (Ziffer 6) sowie für seinen Anteil an etwaigen sonstigen Lasten der Genossenschaft haftbar bleibt.

9. Der Übertritt aus einer Bezirksgenossenschaft in eine Berufsgenossenschaft steht einem Betriebsunternehmer, dessen Betrieb demselben Industriezweig oder derselben Betriebsart wie die Berufsgenossenschaft angehört, mit dem Ablauf des auf die Austrittserklärung folgenden Rechnungsjahres mit der Maßgabe frei, daß er

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die Bezirksgenossenschaft wegen seines Austritts zu entschädigen hat. Diese Entschädigung ist mittels eines Kapitals zu leisten, welches aufgrund einer auf seine Kosten vorzunehmenden Sachverständigenberechnung, nach Anhörung des Vorstandes der Bezirksgenossenschaft, vom Reichsversicherungsamt, festgestellt wird. Die Grundsätze, nach denen die Berechnung auszuführen ist, bestimmt der Bundesrat.5

Der Betriebsunternehmer kann seine Austrittserklärung bis zum erfolgten Übertritt in die Berufsgenossenschaft zurückziehen.

Gleichzeitig mit der Austrittserklärung hat er einen Aufnahmeantrag an den Vorstand der beteiligten Berufsgenossenschaft zu richten. Verweigert die letztere die Aufnahme, oder widerspricht die Bezirksgenossenschaft dem Austritt, so hat das Unfallversicherungsamt über den Antrag zu entscheiden.

10. Die Unternehmer von Betrieben, welche nach der Konstituierung der Berufsgenossenschaften neu errichtet werden, haben die Wahl, ob sie in die Bezirksgenossenschaft oder in die für Betriebe der betreffenden Art etwa errichtete Berufsgenossenschaft, unter Berücksichtigung der örtlichen Grenzen bei dem Vorhandensein mehrerer konkurrierender Berufsgenossenschaften (Ziffer 3 Abs. 4) eintreten wollen.

Ob ein Betrieb neu errichtet oder die Fortsetzung eines früheren Betriebes ist, entscheidet im Streitfalle die Zentralbehörde.

11. Die Auflösung der Berufsgenossenschaften erfolgt mut[atis] mut[andis] nach den Bestimmungen des § 42 des Entwurfs.

Im übrigen gehen die Bezirks- und Berufsgenossenschaften pari passu namentlich auch was den Erlaß von Vorschriften zur Unfallverhütung pp. betrifft (§ 73 a.a.O.).

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Pfistermeister, Franz Seraph Ritter von (1820─1912) bayer. Staatsrat
  • Podewils-Dürnitz, Klemens Frhr. von (1850─1922) Legationssekretär der bayer. Gesandtschaft in Berlin
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 17, fol. 105─109 Rs. mit Randbemerkungen Bödikers (Bleistift). Die mit dem Geschäftszeichen 11 939 und dem Verweis Arb. Kass. 2 versehene Ausarbeitung wurde, wie aus dem entsprechenden Aktenrubrum (BArchP 15.01 Nr. 385, fol. 1) hervorgeht, durch Bosse am 25.9.1884 entheftet und gelangte so zu Theodor Lohmann, der sie an sich nahm. Die Ausarbeitung entstand wohl anläßlich eines Konferenzvortrags, zu dem v. Boetticher durch Bosse am 23.9. für den 24.9.1884 Lohmann und Bödiker laden ließ (ebd., fol. 17); vgl. Nr. 109. »
  • 2Regierungsentwurf v. 8.5.1882, Nr. 57. »
  • 3Bö.: Der Wirrwar ist sonst ein endloser. Im Laufe der Reichstagsverhandlungen und in den 6 Monaten (Ziffer 3) können die Beteiligten sich genügend die Sache überlegen »
  • 4Bö.: Die alljährlich auf die Berufsgenossenschaft fallenden 40 % der Ziffer 1 lit. a. brauchen nicht in Kapitalform geleistet zu werden, da es sich um fortlaufende Leistungen handelt und es für die Gesamtheit gleichgültig ist, in welchem Verbande irgendein Betrieb sich gerade befindet. »
  • 5Bö.: Also kommen auch die Bezirksgenossenschaften in die Kapitalwirtschaft hinein. Man könnte diese Kapitale vielleicht als Bestandteile eines Reservefonds hinstellen. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 107, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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