Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 106

1883 September 21

Ausarbeitung1 des Geheimen Regierungsrates Tonio Bödiker für den Direktor im Reichsamt des Innern Robert Bosse

Eigenhändige Ausfertigung

[Die Aussagen in der Denkschrift vom 1.9.1883 über die Organisation der Unfallversicherung (Betriebsverbände) werden ─ in Abgrenzung zu Lohmanns Marginalbemerkungen ─ aufrechterhalten und begründet]

Bemerkungen zu den Marginalien [Lohmanns] auf der Denkschrift [Bödikers betreffend die Organisation der Unfallversicherung] vom 1.9.1883

[Bericht]

Herrn Direktor [Bosse] Hochwohlgeboren erhaltenem Auftrage gemäß gehorsamst vorgelegt.

1. In den Provinzen Hannover, Schleswig-Holstein, Pommern, Posen, West- und Ostpreußen wird meo voto keine einzige Betriebsgenossenschaft im Sinne des Gesetzentwurfs gebildet werden können, die sich auf die Grenzen der betreffenden Provinzen beschränkt. Genossenschaften aber, die sich nicht einmal in den Grenzen einer Provinz halten, werden schwerlich als korporative, berufsgenossenschaftliche Bildungen wie die Allerhöchste Botschaft vom 17.11.1881 sie im Auge hatte, angesehen werden können.

Ähnlich liegen die Verhältnisse in anderen Teilen des Reichs.

2. Der Gesetzentwurf wird meo voto nicht davon ausgehen können, daß seine Genossenschaften, diese untersten Instanzen und gedachten Zentren korporativen Lebens, prophylaktischen Strebens regelmäßig über die Provinzgrenzen hinausgehen.

3. Daß die “Bezirksgenossenschaften” der Denkschrift unter allen Umständen des korporativen Charakters entbehren, daß die Organisation der Denkschrift von den ursprünglichen Grundgedanken nur das Umlageverfahren beibehalte ─ wie es in margine der Denkschrift heißt ─ möchte ich nicht konzedieren. Ich habe zahlreichen Sitzungen des Vorstandes eines Dampfkesselrevisionsvereins beigewohnt, welcher die heterogensten Betriebe umfaßte ─ im Vorstand saß ein Maschinenfabrikant, ein Seidenfärber, ein Tapetenfabrikant, ein Spinner, ein Kerzenfabrikant usw. ─ und habe gefunden, daß ein reges Leben in dem Verein herrschte. Dieser Verein umfaßte Etablissements mit 1000 Arbeitern und Betriebe kleinster Art in 5 landrätlichen Kreisen. Als Unfallbezirksgenossenschaft konstituiert, würde meines untertänigsten Erachtens dieser Verein ein ungleich intensiveres korporatives Leben entfalten, die Unfälle ungleich energischer und

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vielfältiger bekämpfen als irgendeine durch eine ganze Provinz sich erstreckende Betriebsgenossenschaft.

4. Dem Herrn Reichskanzler kommt es auf korporative Verbände an. Betritt er den Boden der Denkschrift, so kann er sie haben, daß ihm, nachdem die erstgeplante Form vor der Statistik nicht standgehalten hat, nicht die andere Form konvenieren sollte, darf einstweilen bezweifelt werden.

5. Daß verschiedenartige Industriezweige und Großindustrielle neben kleineren Gewerbetreibenden in derselben Bezirksgenossenschaft vertreten sind, beeinträchtigt deren korporativen Charakter nicht wesentlich. Das letztere kommt auch bei den Betriebsgenossenschaften vor ─ und zwar mit der Wirkung, daß schon durch die ungleich größeren Entfernungen die Kleinen ipso facto von dem Leben der Genossenschaft regelmäßig abgeschieden sein werden, was bei der Bezirksgenossenschaft viel weniger zutrifft ─; und jenes Zusammengehören verschiedenartiger Elemente zu einer Korporation findet sich auch sonst im Leben: und zwar mit dem Erfolg der Anregung des korporativen Lebens.

6. Daß die engbegrenzten Bezirksgenossenschaften auf eine Verwaltungseinteilung hinauslaufen und ein durchaus bürokratisches Gepräge tragen werden, ist wenigstens nicht notwendig. Bei den weitgestreckten Betriebsgenossenschaften dagegen ist diese Folge beinahe unausbleiblich. Ein für freie Genossenschaften schwärmender Reichstagsabgeordneter war bei einem Privatgespräch gegenüber meinen aus den Entfernungen her genommenen Bedenken schnell mit der Erwiderung bei der Hand: “Ein tüchtiger Sekretär macht das alles mit dem Vorsitzenden ab.”

Inzwischen darf auch hier auf das unter 3. Referierte Bezug genommen werden.

7. In margine der Denkschrift wird ausgeführt, daß angesichts der Resultate der Statistik, beim Festhalten an dem Umlageprinzip, also bei Verwerfung des Deckungskapitalprinzips, das System der Denkschrift vielleicht nicht zu umgehen sei.

Gegen das letztere Prinzip spricht nun aber, abgesehen von anderen Momenten pro und kontra, der heftige Widerspruch eines großen Teils wenn nicht der Majorität derer, die die Last tragen sollen: und zwar eine zum Teil ganz neue Last. Nun aber hat es etwas Mißliches, auf Kosten anderer eine bestimmte Theorie zwangsweise durchzusetzen, wenn die von anderen gewollte Theorie an sich nicht verwerflich ist. Ob die letztere Theorie auf Kosten der Zukunft wirtschaftet, geht ─ da ein öffentliches Interesse nicht in Frage steht ─ die Nichtbeteiligten nichts an. Die Zukunft hat in diesem Sinne kein Recht an die Gegenwart2, mag die Zukunft gebildet werden durch die Erben der jetzt Lebenden ─ denn sie ererben ein größeres Vermögen und größere Lasten ─, oder durch Käufer [ Druckseite 365 ] pp. ─, denn der Preis regelt sich mit Rücksicht auf die Unfallast: also nicht einmal eine Art von moralischem Recht.

In so wichtiger Sache aber sollte meo voto der Gesetzgeber nicht ohne Not in die Selbstbestimmung der Beteiligten eingreifen. Nach 75 Jahren betragen die Umlagen nur 69 % mehr als die von Anfang an erhobenen Deckungskapitale betragen würden ─ also keine unerschwingliche Vermehrung der Last, zumal bis dahin längst alle Verhältnisse auf diese Last sich zugeschoben haben werden.

8. Zum Schluß darf bemerkt werden, daß einige der hauptsächlichen Einwendungen gegen das dualistische System in margine der Denkschrift nicht beanstandet worden sind, und daß, was den dort sich findenden Hinweis auf die große Zahl der unter das Gesetz fallenden kleineren resp. mittleren Gewerbetreibenden anlangt, diese Zahl doch nicht so sehr ins Gewicht fallen möchte, wobei ich allerdings davon ausgehe, daß, wer sechs unfallversicherungsberechtigte Arbeiter beschäftigt, schon zu den gehobeneren gewerblichen Klassen gehört. Werden in der “Unfallstatistik” (Ergänzungsheft)3 die 34 190 mit zur Erhebung gelangten Müller mit 1 bis 5 Hilfen in Abzug gebracht, so bleiben übrig:

6 798

versicherungspflichtige Betriebe mit 1 Gehilfen pp.

18 101

versicherungspflichtige Betriebe mit 2 bis 5 Gehilfen

10 048

versicherungspflichtige Betriebe mit 6 bis 10 Gehilfen

16 569

versicherungspflichtige Betriebe mit 11 bis 50 Gehilfen

6 175

versicherungspflichtige Betriebe mit 51 bis 200 Gehilfen

1 560

versicherungspflichtige Betriebe mit 201 bis 1000 Gehilfen

113

versicherungspflichtige Betriebe mit über 1000 Gehilfen

(a.a.O., Seite 38 und 46).

Wenn somit auch zahlreiche kleine Betriebe bei der Erhebung der Unfallstatistik übergangen sein mögen, so dürfte die Tatsache doch bestehen bleiben, daß der Schwerpunkt der ganzen Unfallversicherung in den Betrieben mit mehr als 6 und selbst noch in denen mit mehr als 10 Arbeitern liegen wird. Die Besitzer solcher Betriebe sind aber ein durchaus geeignetes Material für die Bezirksgenossenschaften ─ die Betriebsgenossenschaften hätten es ja auch nicht besser.

[beigefügt] In margine wollte ich noch mit Blei bemerken, daß wenn auch die konservative und Zentrumspresse die Bezirksgenossenschaften zunächst bekämpft haben, zahlreiche konservative und Zentrumsabgeordnete unlängst gesprächsweise mit der Idee sich befreundet haben, als ihnen die statistische Lage klargemacht wurde. Von letzterer hatte die Presse keine Ahnung, ihr Urteil beruhte also auf mangelhafter Information.

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Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Umpfenbach, Prof. Dr. Karl (1832─1907) Nationalökonom
  • Warschauer, Otto (1853─1916) Bankier und Nationalökonom
  • 1BArchP NL Lohmann 90 Lo 2 Nr. 17, fol. 99─104. Hier hat Bödiker wohl versucht, während der Abwesenheit von v. Boetticher und Lohmann Ministerialdirektor Bosse von der Richtigkeit seiner Ansichten zu überzeugen. »
  • 2Diese Wendung entspricht sinngemäß den Ausführungen in einem (vermutlich von Tonio Bödiker verfaßten) Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung Nr. 175 v. 13.4.1884; die dort am Schluß abgedruckte Sentenz ist einem Aufsatz von Dr. Otto Warschauer entnommen (“Über Staatsanleihen”, Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte, 20. Jg. 1883, Bd. 80, S. 72─84[81]), der sich hier auf den Königsberger Ökonomen Karl Umpfcnbach bezieht, diesen aber nicht zitiert. »
  • 3Vgl. Nr. 57 Anm. 10. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 106, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0106

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