Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 98

1883 Juni 27

Denkschrift1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann

Eigenhändiger Entwurf, Teildruck

[Ablehnung der Gefahrenklassenzugehörigkeit als ein Kriterium für die organisatorische Gliederung der Versicherungsträger, Vorschlag einer dezentralen Durchführung der Unfallversicherung mittels Betriebsgenossenschaften und (subsidiär) Betriebsverbänden, bei letzteren Gefahrenklassen als Maßstab der Mittelaufbringung bzw. Lastenverteilung, Rentenzahlung für die berechtigten Arbeiter durch das Reich mit entsprechendem Good-will-Effekt für das Reich, Kapitaldeckungsprinzip, Ablehnung des Umlageverfahrens, Aufstockung des Krankengeldes für die 5.─13. Woche der Arbeitsunfähigkeit auf die Höhe der Unfallrente]

Der demnächstigen Wiedervorlegung des Entwurfs in unveränderter oder auch nur wesentlich unveränderter Gestalt stehen folgende durchschlagende Bedenken entgegen:

1. Die grundlegende Bestimmung, nach welcher die Gesamtheit der einer Gefahrenklasse angehörenden Unternehmer den größeren Teil des Risikos tragen soll, ist nach den ─ zur Zeit der Aufstellung des Entwurfs noch nicht vorliegenden Ergebnissen der Unfallstatistik nicht aufrechtzuerhalten. Das aufgrund dieser Ergebnisse aufgestellte Tableau2, welches sämtliche Industriezweige in nur zehn Gefahrenklassen einteilt, ergibt, daß unter diesen zehn Gefahrenklassen fünf sind, von denen jede nicht einmal 100 000 Arbeiter umfassen. Die erste, also das größte Risiko tragende Gefahrenklasse zählt nur 36 600, die dritte 75 000, die zweite 84 000, die fünfte 60 000 und die zehnte 93 000 Arbeiter. Daß Gefahrenklassen von so geringer Arbeiterzahl das ihnen zugedachte Risiko unter allen Umständen zu tragen vermögen, ist nicht anzunehmen, mindestens aber so unsicher, daß es in hohem Grade bedenklich erscheint, diese Einteilung zur Grundlage der ganzen Organisation zu machen. Kräftigere Gefahrenklassen würde man nur dadurch erreichen können, daß man die Zahl derselben noch verminderte. Schon die jetzige Einteilung aber ist nur dadurch möglich geworden, daß man vielfach Industriezweige mit sehr verschiedener Unfallgefahr zu einer Gefahrenklasse vereinigt, also einen Teil derselben zugunsten des anderen Teils überlastet hat, und zwar in dem Maße, daß [ Druckseite 327 ] nicht selten die Gefahrendifferenz zwischen zwei derselben Gefahrenklasse zugeteilten Industriezweigen größer ist als die Differenz der Durchschnittsgefahr zweier Klassen. Eine Verminderung der Zahl der Gefahrenklassen würde zu einer bedeutenden Verschärfung dieser Ungerechtigkeit führen und dürfte daher ausgeschlossen erscheinen.

2. Die in dem Entwurf vorgesehene Organisation geht von der Auffassung aus, daß die rationellste Regelung der Unfallversicherung durch den Zusammenschluß aller Unternehmer desselben Industriezweiges zu Genossenschaften erreicht werde. Die Bildung solcher Genossenschaften mit Zwangsbeitritt soll demnach die Regel bilden und nur diejenigen Unternehmer, welche mit Rücksicht auf die örtliche Verteilung der Betriebe ihres Industriezweiges solchen Genossenschaften nicht eingegliedert werden können, sollen zu Verbänden vereinigt werden, welche Betriebe aller Gefahrenklassen und Industriezweige lediglich auf geographischer Grundlage zusammenfassen.

Um aber für die Durchführung des Zwanges zur Genossenschaftsbildung die unentbehrliche Abgrenzung zu gewinnen, müßten auch für die Genossenschaften von vornherein bestimmte Bezirke vorgesehen werden. Als solche nimmt der Entwurf die Bezirke der höheren Verwaltungsbehörde an mit dem Vorbehalt, daß auf Anordnung der Zentralbehörden oder nach Vereinbarung der Landesregierungen auch mehrere Bezirke zu einem zusammengelegt werden können.

Die Durchführbarkeit der zwangsweisen Genossenschaftsbildung ist demnach dadurch bedingt, daß die einzelnen Industriezweige in den einzelnen Bezirken oder im Notfall in mehreren benachbarten Bezirken zusammen so stark vertreten sind, daß die Zahl der Betriebe mit den darin beschäftigten Arbeitern zu einer leistungsfähigen Genossenschaft ausreicht.

Nun ergibt aber das erwähnte Tableau der Gefahrenklassen und Industriezweige, daß diese Voraussetzung nur in verhältnismäßig so wenigen Fällen zutrifft, daß bei der Ausführung des Gesetzes die als Regel gedachte Genossenschaftsbildung zur Ausnahme und die nur als Notbehelf gedachte Verbandsbildung, die die große Mehrzahl aller Betriebe umfassende Regel werden würde. [...]

Wenn hiernach der Grundgedanke, die Unfallversicherung in möglichst großem Umfange durch Genossenschaften von Unternehmen gleicher oder verwandter Industriezweige auf dem in der Vorlage vorgesehenen Wege des direkten Zwanges, nicht durchführbar erscheint, so entsteht die Frage, ob dasselbe Ziel nicht auf indirektem Wege zu erreichen ist, und zwar dadurch, daß man den direkten Zwang auf die unvollkommenere Form der Betriebsverbände beschränkt, diesem Zwange aber nur diejenigen Unternehmer unterwirft, welche sich nicht freiwillig zu der vollkommeneren Form der Betriebsgenossenschaften vereinigen.

Die Grundzüge einer auf diesem Wege herzustellenden Organisation würden folgende sein:

Die Versicherung erfolgt durch die Betriebsverbände und die Betriebsgenossenschaften.

[ Druckseite 328 ]

A Betriebsverbände

1. Der Regel nach wird für den Bezirk einer höheren Verwaltungsbehörde ein Betriebsverband gebildet. Die Errichtung eines Betriebverbandes für die Bezirke mehrerer höherer Verwaltungsbehörden bleibt vorbehalten.

2. Dem Betriebsverbande gehören sämtliche im Bezirke belegenen Betriebe an, welche nicht einer Betriebsgenossenschaft angehören.

3. Das Risiko wird in der Weise geteilt, daß a) jeder Betriebsverband für sich die Kosten des Heilverfahrens, die Beerdigungskosten und die Entschädigungsrenten für das erste (halbe oder ganze) Jahr trägt (vorübergehende Leistungen), b) die Gesamtheit der Betriebsverbände die Entschädigungsrenten nach Ablauf des ersten (halben oder ganzen) Jahres trägt (dauernde Belastung).

4. Die Mittel zur Erfüllung der Verpflichtungen der einzelnen Betriebsverbände und ihrer Gesamtheit werden auf die Betriebe nach Maßgabe ihrer Gefahrenklasse und der Summe der verdienten Löhne und Gehälter umgelegt.

B Betriebsgenossenschaften

1. Unternehmer versicherungspflichtiger Betriebe können nach Maßgabe gesetzlicher Normativbestimmungen zu Betriebsgenossenschaften zusammentreten.

2. Die Betriebsgenossenschaften haben für ihre Mitglieder das gesamte Versicherungsrisiko zu übernehmen.

3. Die Mittel zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen werden durch Umlagen auf die Genossenschaftsmitglieder nach dem statuarisch festgestellten Beitragsverhältnissen umgelegt.

C Durchführung des Versicherungszwanges

1. Betriebsunternehmer, welche einem Betriebsverbande angehören, können aus demselben nur zum Zwecke des Eintritts in eine Betriebsgenossenschaft und nur mit Ablauf eines Betriebsjahres austreten. Sie müssen den Austritt ein viertel Jahr (6 Wochen) vorher anmelden und gleichzeitig nachweisen, daß sie mit Beginn des neuen Betriebsjahres einer Betriebsgenossenschaft angehören werden.

2. Der Austritt aus einer Betriebsgenossenschaft ist nur mit Schluß eines Rechnungsjahres nach ein vierteljähriger (sechswöchentlicher?) Kündigung zulässig. Der Genossenschaftsvorstand hat vor jeder erfolgten Kündigung dem Vorstande des Betriebsverbandes Anzeige zu machen.

Mit Beginn des neuen Rechnungsjahres wird der aus einer Betriebsgenossenschaft austretende Unternehmer ipso jure Mitglied des Betriebsverbandes seines Bezirkes, sofern er nicht rechtzeitig den Eintritt in eine andere Betriebsgenossenschaft nachweist.

Die Verfassung und Verwaltung der Betriebsverbände und Betriebsgenossenschaften wird aufgrund gesetzlicher Normative durch Statut geregelt. Wird hiernach die Bildung der Betriebsgenossenschaften der eigenen Initiative der Unternehmer überlassen, so brauchen die Bezirke für die ersteren nicht gesetzlich abgegrenzt zu werden. Das eigene Interesse der Unternehmer wird dahin führen, daß diese Abgrenzung unter Berücksichtigung der konkreten, für die verschiedenen [ Druckseite 329 ] Industriezweige sehr verschiedenen Verhältnisse in zweckmäßigerer Weise erfolgt, als es durch eine gesetzliche Einteilung im voraus geschehen kann.

Ebenso ist in diesem Falle die Vorschrift, daß zu einer Genossenschaft nur Unternehmer derselben Gefahrenklasse vereinigt werden dürfen, welche bei zwangsweiser Bildung der Genossenschaften unentbehrlich ist, nicht mehr erforderlich, da die Unternehmer von Betrieben verschiedener Industriezweige sich zu Betriebsgenossenschaften nur dann vereinigen werden, wenn sie es ihrem Interesse an einer möglichst rationellen Versicherung entsprechend finden, und dieses Interesse mit dem öffentlichen Interesse zusammenfallt.

Die Zulässigkeit gemeinsamer Genossenschaften für Betriebe verschiedener Gefahrenklassen entspricht andererseits einem dringenden Bedürfnisse, da der Fall nicht selten ist, daß Industrien, welche verschiedenen Gefahrenklassen angehören ─ wie beispielsweise Hochöfen, Eisengießereien, Maschinenfabriken ─ von denselben Unternehmern in denselben Betriebsstätten betrieben werden.

Ein weiterer Vorzug der vorgeschlagenen Organisation dürfte darin liegen, daß den Betriebsgenossenschaften, welche aus freiwilliger Entschließung der Unternehmer hervorgehen, überlassen werden kann, ihre Verfassung und Verwaltung aufgrund gesetzlicher Normative selbst zu ordnen und namentlich auch den Beitragsfuß für die Umlagen selbst festzusetzen. Sie dürften darin den stärksten Antrieb und das beste Mittel finden, auf die möglichste Verminderung der Unfallgefahr in den Betrieben ihrer Mitglieder einzuwirken.

Endlich wird die vorgeschlagene Organisation die sehr erwünschte Möglichkeit bieten, daß die zahlreichen freien Vereinigungen, welche für gewisse Industriezweige ─ z. B. Müller, Zuckerfabrikanten, chemische Industrie, die verschiedenen Zweige der Textilindustrie und der Eisenindustrie etc. ─ schon jetzt teils für den Zweck der Unfallversicherung teils für allgemeine Zwecke bestehen, sich als Betriebsgenossenschaften im Sinne des Gesetzes konstituieren könnten. Dadurch würde nicht nur das ganze Organisationswerk ungemein erleichtert, sondern auch dem in den Kommissionsverhandlungen sehr stark betonten Einwande, daß das ganze System der Betriebsverbände und Genossenschaften ein für den Zweck der Unfallversicherung viel zu schwerfälliger Apparat sei, begegnet werden.

Den Betriebsgenossenschaften wird ohne Bedenken das volle Risiko der Unfallversicherung überlassen werden können, da die Beteiligten es selbst in der Hand haben, den Genossenschaften einen Umfang zu geben, welcher sie zur Übernahme des vollen Risikos in den Stand setzt. Erwünscht wird dies aber deswillen sein, weil die rationelle Verwaltung stets am besten gesichert ist, wenn diejenigen, welche die Verwaltung führen, auch das volle Interesse an den Ergebnissen derselben haben.

Dagegen wird für die Betriebsverbände, welche auf bestimmte geographische Bezirke beschränkt werden müssen und bei fortschreitender Genossenschaftsbildung auf einen schwachen Bestand reduziert werden können, die Teilung des Risikos beizubehalten sein, und zwar am einfachsten wohl in der Weise, daß die nur vorübergehende Belastung von jedem einzelnen Betriebsverbande für sich, dagegen die dauernde Belastung (c[on]f[er] s[i] pl[acet] oben B. 3) von der Gesamtheit der Betriebsverbände getragen wird. Daß es bedenklich ist, als Träger dieses größeren Teiles des Risikos die Gesamtheit der einer Gefahrenklasse angehörenden Betriebe [ Druckseite 330 ] hinzustellen, ist im Eingange bereits nachgewiesen. Die Gefahrenklassen würden daher nur als Grundlage für das Verhältnis zu benutzen sein, nach welchem der von der Gesamtheit aller Betriebsverbände zu tragende Teil der Last auf die Unternehmer der verschiedenen Industriezweige zu repartieren ist, und ebenso würden die Gefahrenklassen die Grundlage für den Verteilungsfuß der von jedem Betriebsverband für sich aufzubringenden Mittel bilden.

Daß für diesen Zweck die Einteilung von Gefahrenklassen nicht zu entbehren ist, liegt darin begründet, daß alle Unternehmer welche sich aus irgendeinem Grunde einer Betriebsgenossenschaft nicht anschließen können, einem bestimmten Betriebsverbande angehören müssen, und einem Verbande mit Zwangsmitgliedern nicht das Recht eingeräumt werden kann, durch Majoritätsbeschluß den Verteilungsfuß für seine Lasten festzustellen.

Die Wirkungen, welche aus der Teilung des Risikos und der gesetzlichen Feststellung des Beitragsfußes für die Betriebsverbände hervorgehen, werden voraussichtlich für die einzelnen Unternehmer den kräftigsten Antrieb zum Anschluß an eine Genossenschaft enthalten. Die Teilung des Risikos wird die Folge haben, daß die Verwaltung der Betriebsverbände nicht so rationell sein wird, wie diejenige der Genossenschaften, welche an den Ergebnissen derselben das ungeteilte Interesse haben, und die Verteilung der Last Gefahrenklassen wird, weil letztere niemals genau nach dem wirklichen Maße der Gefahr abgestuft werden kann, stets eine weniger gerechte sein, als diejenige, welche von den Genossenschaften unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse durch Vereinbarung festgestellt werden kann. Es erscheint hiernach die Annahme nicht unbegründet, daß wenigstens nach und nach die vollkommenere Form der Unfallversicherung, d. h. diejenige der Betriebsgenossenschaften, die vorherrschende werden würde.

Wird die Organisation der Unfallversicherung gemäß den oben aufgestellten Grundzügen abgeändert, so folgt daraus die Notwendigkeit einer weiteren Abweichung von dem bisherigen Entwurf, nämlich hinsichtlich der Bestimmungen über die Auszahlung der Entschädigungen und die Haushaltsgrundlagen der Verbände und Genossenschaften.

Bei der bisher vorgesehenen Organisation, welche nur Zwangskorporationen kannte, ließ sich das Umlageverfahren in dem Sinne, daß am Schlüsse jeder Rechnungsperiode dasjenige aufgebracht wird, was im Laufe derselben an Entschädigungen und Verwaltungskosten gezahlt ist, allenfalls durchführen, wenn auch die Notwendigkeit, Veränderungen sowohl in der Bildung der Gefahrenklassen als auch in dem Bestande der Verbände und Genossenschaften möglich zu machen, eine Reihe verwickelter Bestimmungen über die Befriedigung der beim Eintritt solcher Veränderungen bereits entstandenen Rentenansprüche erforderlich machte (cf. s. pl., namentlich § 10 Abs. 7 und § 53 des Entwurfs). Die Hoffnung der Durchführbarkeit ließ sich darauf gründen, daß nach den Organisationsbestimmungen des Entwurfs immer nur ganze Industriezweige aus einer Gefahrenklasse in die andere oder von einem Verbande zu einer Genossenschaft sollten übergehen können, und unter dieser Voraussetzung die Möglichkeit vorlag, die bereits entstandenen Verpflichtungen, soweit sie aus Unfällen in Betrieben dieses Industriezweiges entstanden waren, mit auf die andere Gefahrenklasse und auf die Genossenschaft übergehen zu lassen. Dieses Verfahren ist nicht anwendbar, wenn man den einzelnen Betriebsunternehmern [ Druckseite 331 ] den Übergang von einem Betriebsverbande zu einer Genossenschaft und umgekehrt gestattet. Damit wird aber die bisher in Aussicht genommene Art des Umlageverfahrens überhaupt unanwendbar, weil kein Verband mit fortlaufenden Verpflichtungen belastet werden kann, dessen Leistungsfähigkeit durch das Ausscheiden seiner Mitglieder in Frage gestellt werden kann.

Der Vorzug des im bisherigen Entwurf vorgesehenen Umlageverfahrens wurde vornehmlich darin erkannt, daß vermöge desselben die volle Last der Unfallversicherung den Unternehmern nicht sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes, sondern nur allmählich im Laufe einer Reihe von Jahren fühlbar werden würde.

Das Gewicht dieses Vorzuges wird indessen erheblich vermindert, wenn die wahrscheinliche Höhe der aus der Unfallversicherung sich ergebenden Belastung, wie dieselbe aufgrund der Unfallstatistik inzwischen ermittelt ist, berücksichtigt wird. Für die rund 2 Millionen Arbeiter, auf welche sich die Unfallstatistik erstreckt hat, berechnet sich, wenn man einen Durchschnittsverdienst von 750 M jährlich zugrunde legt, die Jahresbelastung, welche entsteht, wenn sämtliche Renten sofort in ihrem vollen Werte angerechnet werden, auf 16 500 000 Mark. Repartiert auf eine Jahreslohnsumme von 2 Millionen mal 750 Mark, also auf 1 500 Millionen Mark würde sich ein Durchschnittsbetrag von 1 1/10 Prozent des Lohnes ergeben. Eine so geringe Belastung dürfte auch dann kaum etwas Bedenkliches haben, wenn sie von Anfang an in vollem Umfange einträte, zumal eine erhebliche Zahl von Unternehmen schon gegenwärtig Ausgaben für die Unfallversicherung leistet, welche häufig gegen den obigen Betrag nicht zurückstehen werden. Eine ähnliche Erleichterung der Übergangszeit, wie sie durch das Umlageverfahren des bisherigen Entwurfs erreicht werden sollte, dürfte sich übrigens auch ─ wie unten unter V. gezeigt werden wird ─ durch die Gestaltung des Reichszuschusses erzielen lassen. Auch dürfte nicht außer acht zu lassen sein, daß die Erleichterung, welche das Umlageverfahren des Entwurfs den Unternehmern in den ersten Jahren gewährt, nur dadurch ermöglicht wird, daß die Unternehmer nach der Übergangszeit jährlich mehr als den vollen Wert der während des Jahres entstandenen Verpflichtungen zahlen müssen, und daß überhaupt dieses Verfahren nicht nur zu schweren Ungerechtigkeiten, sondern unter Umständen auch zur ernstlichen Gefährdung einzelner Industriezweige führen kann. Bei dem fraglichen Verfahren haben immer die Nachfolger die Schäden ihrer Vorgänger zu bezahlen. Das läßt sich ertragen in den Zeiten aufsteigender Bewegung der Industrie, in welchen aus der vorhergegangenen Zeit weniger umfangreichen Betriebes im Verhältnis zu der Zahl der jetzt beschäftigten Arbeiter wenige Invaliden, Witwen und Waisen vorhanden sind. Dagegen könnte in Zeiten absteigender Bewegung der Industrie die Wirkungen doch bedenklich werden. In diesen Zeiten, wo die Industrie ohnehin mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, werden nämlich auch die höchsten und unter Umständen sehr drückenden Beiträge für die Unfallversicherung zu tragen sein, weil in der voraufgegangenen Zeit flotten Betriebes infolge nicht nur der größeren Anzahl, sondern auch der durchschnittlich geringeren Geübtheit der beschäftigten Arbeiter eine größere Zahl von Entschädigungsansprüchen entstanden sind, welche nun durch die Beiträge der in ihrer Ausdehnung reduzierten Industrie befriedigt werden müssen. Auf diese Weise werden dann die Sünden schwindelhafter, in der Zeit des Aufschwungs entstandener, bei sinkender Konjunktur wieder verschwindender [ Druckseite 332 ] Unternehmungen von den unter schweren Kämpfen sich aufrecht erhaltender solider Unternehmungen gebüßt werden müssen.

Es würde sich übrigens nicht darum handeln, das Umlageverfahren des Entwurfs durch das System der Prämienzahlungen zu ersetzen, vielmehr läßt sich die Auszahlung der Entschädigungen so regeln, daß am Schlusse jeder Rechnungsperiode derjenige Betrag auf die Mitglieder des Verbandes oder der Genossenschaft umgelegt wird, welcher zur Erfüllung der im Laufe der Periode entstandenen Verpflichtungen wirklich erforderlich ist, und zwar in folgender Weise:

1. Die vorübergehenden Leistungen (Heilungskosten, Begräbniskosten, Entschädigungsrenten für das erste Jahr) werden am Schlusse jeder Rechnungsperiode in ihrem wirklichen gezahlten Betrage auf die Mitglieder der Betriebsverbände und der Betriebsgenossenschaften umgelegt.

2. Für die im Laufe der Rechnungsperiode entstandenen Ansprüche auf dauernde Renten wird der zu ihrer Deckung erforderliche Betrag nach gesetzlich zu normierenden Rechnungsgrundlagen festgestellt und für die Betriebsverbände auf die Gesamtheit der Mitglieder aller Betriebsverbände, für jede Betriebsgenossenschaft auf ihre Mitglieder umgelegt.

3. Über die Art und Weise wie die Beträge ad 2 bis zu ihrer nach und nach erfolgenden Auszahlung von den Betriebsverbänden und Genossenschaften zu belegen und zu verwalten sind und über die öffentliche Kontrolle dieser Verwaltung werden allgemein verbindlichen Vorschriften in das Gesetz aufgenommen.

4. Zur Bestreitung der im Laufe der Rechnungsperiode vor der Umlage zu leistenden Zahlungen konnten den Betriebsverbänden und Genossenschaften die erforderlichen Beträge aus Reichsmitteln vorgeschossen werden.

Notwendig würde diese Vorschußleistung nicht sein, da sich die verhältnismäßig geringen Beträge auf die einfachste Weise dadurch beschaffen ließen, daß jedem Mitgliede die Verpflichtung auferlegt würde, bei der Anmeldung seines Betriebes einen kleinen nach der Zahl der beschäftigten Arbeiter zu bemessenden Vorschuß an die Kasse des Verbandes oder der Genossenschaft einzuzahlen, welcher ihm demnächst bei der Umlage auf seinen Beitrag angerechnet würde.

Eine außerordentliche Vereinfachung der gesamten Verwaltung der Verbände und Genossenschaften und eine erhebliche Verstärkung der sozialpolitischen Wirkung des Gesetzes ließe sich erreichen, wenn an die Stelle der Regelung unter Nr. 2 und 3 oben die folgende gesetzt würde:

2a Die dauernden Renten (Invaliden-, Witwen- und Waisenrenten nach Ablauf des ersten Jahres) werden von den Betriebsverbänden und Betriebsgenossenschaften auf eine unter Garantie und Verwaltung des Reiches stehende Rentenanstalt angewiesen.

3b Der Wert der innerhalb jeder Rechnungsperiode angewiesenen Renten wird am Schlusse der letzteren nach gesetzlich normierten Rechnungsgrundlagen festgestellt. Der Betrag wird, soweit die Renten von Betriebsverbänden angewiesen sind, von der Gesamtheit der Betriebsverbände, soweit sie von Genossenschaften angewiesen sind, von den einzelnen Genossenschaften eingezogen.

Die durch eine solche Regelung erzielte Vereinfachung der Verwaltung würde darin liegen, daß die Verbände und Genossenschaften sich durch den an die Stelle fortlaufender Zahlungen tretenden einmaligen Rentenkauf ihre Verpflichtungen gegen [ Druckseite 333 ] die Entschädigungsberechtigten ein für allemal entledigen würden. Dadurch würde ihnen nicht nur jedes Risiko abgenommen werden, welches darin begründet sein würde, daß der Wert der Renten, welche sie schuldig werden, nur nach der wahrscheinlichen Lebensdauer der Bezugsberechtigten, also auch nur in ihrem wahrscheinlichen Betrage festgestellt werden könnte, sondern sie würden auch jeder Kapitalverwaltung überhoben sein. Ebenso würden in diesem Falle alle zur Regelung der letzteren erforderlichen Vorschriften und die ganze fortlaufende Kontrolle seiner Befolgung in Wegfall kommen. Die zum Bezuge von Renten berechtigten Arbeiter aber würden dadurch, daß ihnen als Verpflichtete eine Reichsanstalt gegenüberstände, die unbedingteste Sicherheit erlangen und bei jeder, zwölfmal im Jahr sich wiederholenden Hebung ihrer Rente durch Aufstellung der auf die Reichsrentenanstalt lautenden Quittung, daran erinnert werden, daß sie die aus dem Gesetze für sie erwachsenden Wohltaten dem Reiche verdanken. Eine gleiche Steigerung der sozialpolitischen Wirkung des Gesetzes dürfte kaum durch irgendeine andere Maßregel zu erzielen sein, zumal ohne eine Form der Rentenauszahlung, welche das Reich selbst als Zahler erscheinen läßt, auch ein Reichszuschuß dem einzelnen Arbeiter kaum als Wohltat zum Bewußtsein zu bringen sein dürfte.

Abgesehen von der Organisationsfrage würden vor der Aufstellung eines Entwurfs noch folgende Punkte der Feststellung bedürfen:

I. Die Unfallanzeige, welche im wesentlichen ebenso wie im bisherigen Entwurf geregelt werden könnte.

II. Die Feststellung der Entschädigungen, welche nach einem für Betriebsverbände und Genossenschaften einheitlich zu regelnden schiedsgerichtlichen Verfahren zu erfolgen haben dürfte.

Wie das schiedsrichterliche Verfahren im einzelnen zu regeln sein würde, wird sich erst übersehen lassen, wenn die Organisation auch in den Detailbestimmungen vorliegt. Jedenfalls würde aber, um eine sichere und gleichmäßige Geltendmachung der Ansprüche der Versicherten zu gewährleisten, auf eine öffentliche Mitwirkung bei demselben Bedacht zu nehmen sein.

III. Die Ausdehnung des Versicherungszwanges [...]

IV. Das Verhältnis der Krankenkassen zur Unfallversicherung

Dasselbe dürfte in folgender Weise zu regeln sein:

1. Für die ersten 4 Wochen haben die durch Unfall Verletzten nur Anspruch auf freie Kur und Krankengeld aus der Krankenkasse.

2. Von der 5. bis 13. Wochen erhalten sie zu dem Krankengelde von dem verpflichteten Betriebsverbande oder der verpflichteten Genossenschaft denjenigen Zuschuß, welcher erforderlich ist, um das Krankengeld auf die Höhe der Unfallentschädigungsrente zu ergänzen.

3. Die Betriebsverbände und Genossenschaften können das Heilverfahren für die bei ihnen versicherten Verletzten auch vor Ablauf der ersten 13 Wochen auf ihre Kosten übernehmen.

4. Zu erwägen bleibt, ob den Krankenkassen die Verpflichtung aufzuerlegen, als Zahlungsstellen für die Betriebsverbände und Genossenschaften zu fungieren. Der entscheidende Grund für die Inanspruchnahme der Krankenkasse für einen

Teil der Unfallversicherungslast liegt nicht in der Überwälzung der letzteren von den Arbeitgebern auf die Arbeiter, da der finanzielle Effekt ein minimaler ist, sondem [ Druckseite 334 ] darin, daß für eine rasche und loyale Abwicklung der Unterstützungsansprüche für die ersten Wochen, wenn sie ebensowohl im Interesse der Arbeiter wie der Arbeitgeber liegt, die Organisation der großen Verbände und Genossenschaften höchst ungeeignet sind, während die lokalen Verbände der Krankenversicherung dieselbe in der zweckmäßigsten Weise und ohne fühlbare geschäftliche Belastung durchführen können, aber schwerlich in richtiger Weise durchführen werden, wenn sie nicht selbst ein finanzielles Interesse an der Verwaltung haben.

Müßte auf die Mitwirkung der Krankenkassen verzichtet werden, so würde es sich schwer vermeiden lassen, für die Verbände und Genossenschaften noch lokale Unterabteilungen durch das Gesetz vorzuschreiben und zu regeln, während dies andernfalls der parlamentarischen Regelung überlassen bleiben könnte!

V. Reichszuschuß zu den Kosten der Unfallversicherung.

Bei der Stellung, welche in den Kommissionsverhandlungen sämtliche Parteien zu dem Reichszuschuß eingenommen haben, ist kaum zu hoffen, daß derselbe im Reichstage Annahme finden wird; zumal nach den Ergebnissen der Unfallstatistik das Bedenken einer möglichen Überlastung der Industrie für denselben kaum noch geltend gemacht werden kann. Die sozialpolitische Wirkung des Reichszuschusses dürfte, wie oben bereits hervorgehoben, kaum so groß sein, wie diejenige, welche erzielt werden würde, wenn alle fortlaufenden Raten aus einer Reichsrentenanstalt gezahlt werden.

Aus der Annahme der für die Organisation aufgestellten Grundsätze werden übrigens der Beibehaltung des Reichszuschusses keine Schwierigkeiten erwachsen, vielmehr würde keines der bisher in Frage gekommenen Systeme eine so einfache Regelung des Reichszuschusses ermöglichen, wie die jetzt vorgeschlagene, namentlich wenn die Mitwirkung einer Reichsrentenanstalt beliebt werden sollte. Es bedürfte nämlich nur der einfachen Bestimmung, daß ein gewisser Prozentsatz derjenigen Beträge, welche für die dauernden Renten festgestellt werden, vom Reiche zugeschossen würden. Daneben würde, falls die Rentenanstalt beliebt werden sollte, schon durch Übernahme der Garantie und Verwaltungskosten derselben auf das Reich ein nicht unerheblicher Zuschuß zu den Kosten der Unfallversicherung geleistet werden.

Am ehesten würde vielleicht die Annahme des Reichszuschusses zu erreichen sein, wenn derselbe als Übergangsmaßregel vorgeschlagen würde. Als solche würde er den Unternehmern in der ersten Zeit nach Inkrafttreten des Geseetzes dieselbe Erleichterung, welche ihnen aus dem Umlageverfahren des bisherigen Entwurfs erwachsen sollte, verschaffen, ohne die durch des letzteren bedingte Erhöhung der Beiträge nach Erreichung des Beharrungszustandes zur Folge zu haben. Zu dem Ende könnte bestimmt werden:

Das Reich übernimmt von den für die dauernden Renten festzustellenden Beträgen:

1. Für das erste und zweite Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes

20 %

2. " " dritte und vierte " " " " "

15 %

3. " " fünfte und sechste " " " " "

10 %

4. " " siebente und achte " " " " "

5 %

Für die Folge bestreitet das Reich die Verwaltungskosten der Rentenanstalt.

[ Druckseite 335 ]

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843─1917) Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Bismarcks
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 17, fol. 15─27 Rs. Die nur im Entwurf überlieferte Denkschrift ─ v. Boetticher dürfte sie nach den ihm von Bismarck erteilten Direktiven (Ablehnung von Alternativen zu öffentlich-rechtlichen Zwangskorporationen, die jeweils von Unternehmern gleicher Betriebe gebildet werden sollten) nicht gebilligt haben ─ ist mit Kanzleianweisungen für die ─ vermutlich nicht vorgenommene ─ Reinschrift versehen, die Ausführungen aus den Grundzügen vom 23.6.1883 (ebenfalls nur im Entwurf überliefert, ebd., 90 Lo 2 Nr. 17 fol. 7─9 Rs.) einbezieht. Auf der ersten Seite der Bleistiftvermerk von der Hand Theodor Lohmanns: Die Ausführung unter 1. würde zu streichen sein. Sie ist, abgesehen von der Gefahrenklasse l vielleicht nicht aufrechtzuerhalten und auch von geringerer Bedeutung wie die Ausführung unter 2. »
  • 2Dies wohl von dem bis dahin für die Berufs- und Unfallstatistik zuständigen Referenten Tonio Bödiker entwickelte Tableau ist nicht überliefert. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 98, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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