Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 94

1883 Juni 11 und 12

Bericht1 über die 17. und 18. Sitzung der VIII. Reichstagskommission

Druck

[Der Reichstag lehnt die zweite Regierungsvorlage ab und wünscht eine dritte, für diese macht er bestimmte Vorgaben]

Die Reichstagskommission hielt ihre letzten Sitzungen am 11. und 12. d. M. ab, um sich über die Vorschläge der Subkommission schlüssig zu werden. Zu dem Ende wurden die Vorschläge Punkt für Punkt zur Abstimmung gebracht und die einzelnen Punkte das eine Mal von dieser, das andere Mal von jener Majorität angenommen. Eine Gesamtabstimmung unterblieb. Zur Abfassung des Berichtes verblieb bei dem am 12. erfolgten Schluß der Reichstagssession natürlich keine Zeit mehr; es wurde daher mündliche Berichterstattung beschlossen, natürlich nur der Form wegen, da an eine Verhandlung der Angelegenheit im Reichstage nicht mehr zu denken war. Die Linke [Dr. Alexander Meyer] erhob zwar wiederholt gegen das Verfahren Protest, der konservativ-ultramontanen Majorität lag jedoch daran, die Resolution in das Land zu werfen, obwohl sie ohne Erläuterungen teilweise unverständlich ist und schließlich nur einen sehr bedingten Wert hat, da der Reichstag sie nicht zu der seinigen machen konnte.2 Der Antrag der Kommission geht also dahin: Der Reichstag wolle beschließen3:

I. den vorgelegten Gesetzentwurf in seiner jetzigen Gestalt in allen seinen Teilen abzulehnen; [ Druckseite 314 ] II. den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, bei einer Umarbeitung des Unfallversicherungsgesetzes in einer erneuten Vorlage die nachstehenden Gesichtspunkte berücksichtigen zu wollen:

1. Der gesetzliche Versicherungszwang ist auszusprechen: a) für die im § 1 bezeichneten Personen; b) außerdem für die Arbeiter der Land- und Forstwirtschaft [16 : 8] und Flößerei [19 : 5]; [Ziff. 1 insges.: 22 : 2].

2. Der Schadensersatz (§§ 5,6) ist zu leisten:

A. Für die dem Versicherungszwange nach dem Krankenkassengesetz unterliegenden Personen: a) von der 14. Woche ab durch die nach dem Unfallversicherungsgesetz Verpflichteten4 [13 : 11]; b) für die ersten vier Wochen der unter a) bezeichneten Karenzzeit durch die Krankenkassen5 bzw. die Gemeindekrankenversicherung [14 : 11]; c) für den Rest dieser Karenzzeit ist das Krankengeld in Anrechnung zu bringen, welches dem Verletzten aufgrund des Gesetzes betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter zusteht, falls derselbe zu den nach jenem Gesetze versicherungspflichtigen Personen gehört [13 : 11].

B. Für dem Krankenversicherungszwange nicht unterliegende Personen ist der Schadensersatz vom Eintritt des Unfalles an zu gewähren.

3. Der im § 7 des Entwurfs vorgesehene Reichszuschuß fallt fort. [einstimmig]

[ Druckseite 315 ]

4. Ein Beitrag der Arbeiter zu den Lasten der Versicherung findet, abgesehen von dem Eintreten der Krankenkassen (Nr. 2), nicht statt. [gegen 2 Stimmen]

5. Die Unfallversicherung bei Aktiengesellschaften gilt nicht als Erfüllung der aus diesem Gesetz folgenden Pflichten. Übergangsbestimmungen bleiben vorbehalten. [Punkt 5 Satz 2: 15 : 18]; [Punkt 5 insgesamt: 14 : 10]

6. Gefahrenklassen sind beizubehalten als mitbestimmend für den Verteilungsfuß der Lasten; nicht beizubehalten als Grundlage der Verbandsorganisation. [mit 17 Stimmen]

7. Zur Aufbringung der aus dem Gesetz entspringenden Lasten sind Verbindungen der versicherungspflichtigen Betriebe zu bilden. [ohne Debatte]

8. Der Regel nach ist das Risiko zwischen engeren und weiteren Verbänden zu teilen. [ohne Debatte]

9. In räumlich begrenzten Gebieten werden sämtliche versicherungspflichtigen Betriebe zu einem Betriebsverband vereinigt. [gegen 9 Stimmen]

10. Die dem weiteren Verbande (Nr. 8) obliegende Quote des Risikos fällt auf: a) die Gesamtheit aller Betriebsverbände oder b) Berufsgenossenschaften gleichartiger Betriebe, die räumlich über den Bezirk des Betriebsverbandes der Regel nach hinausgehen. [mit 16 : 8 Stimmen]

11. Unter den durch das Gesetz festzustellenden Normativbestimmungen ist zulässig6: a) freiwillige Bildung von Genossenschaften zur selbständigen Übernahme des gesamten Risiko; b) desgleichen zur Übernahme der einen Quote Nr. 8 des Risikos; c) freiwilliges Ausscheiden einzelner Betriebe. [mit 13 : 11 Stimmen]

12. Die Aufbringung der Lasten hat zu erfolgen: a) wenn die gesamte Verbandsbildung in Form von Zwangsgenossenschaften erfolgt, durch Umlage des Jahresbedarfs; b) wenn freiwillige Bildungen erfolgen, durch Aufbringung der Entschädigungskapitalien.7 [mit 18 : 6 Stimmen]

[ Druckseite 316 ]

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Hasenclever, Wilhelm (1837─1889) Lohgerber und Journalist, MdR (Sozialdemokrat)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Wendt-Papenhausen, Karl Freiherr von (1832─1903) Rittergutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • 1ZfV, 7. Jg. 1883, S. 308, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 260─269. »
  • 2Diese Darstellung des Ablaufs wurde in der Reichstagssitzung vom 12.6.1883 durch Frhr. v. Franckenstein im Anschluß an die Kritik, die Heinrich Rickert am Kommissionsverfahren übte, bestätigt. Diejenigen Herren, welche die Resolution beschlossen haben, (haben) es für sehr wünschenswert und nützlich erachtet (...), daß die Ansicht der Mehrheit der Kommission klar und deutlich, soweit es die Verhältnisse gestattet haben, zum Ausdruck komme, und zwar als Direktive für die verbündeten Regierungen, von welchen wir ja hoffen, daß sie in allerkürzester Zeit uns ein umgearbeitetes Unfallversicherungsgesetz vorlegen werden. (Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 4, S. 3007). »
  • 3Das jeweilige Abstimmungsverhältnis zu den einzelnen Punkten ist seitens der Bearbeiter nach den entsprechenden Aufzeichnungen in BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 270 u. 270 Rs. in [ ] nachgetragen. Druck dieser Resolution auch: Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 6, Nr. 372, S. 1423, auch: BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 201─201 Rs. mit Randbemerkungen Bismarcks, der sämtliche Absätze mit blauem Farbstift angestrichen hat. Diese Resolution wurde von Freiherr v. Wendt als “mündlicher Bericht” abgefaßt, aber nicht mehr vorgetragen ─ mit ihr endet die dilatorische Behandlung der zweiten Unfallversicherungsvorlage im Reichstag ─, sie kam nicht mehr in das Plenum zurück.Die 18. Kommissionssitzung begann am 12.6.1883 um 11.30 Uhr, bereits um 12.20 Uhr begann dann die letzte Plenarsitzung der Session. Obwohl die zweite Unfallversicherungsvorlage nicht mehr auf die Tagesordnung gesetzt worden war, wurde doch über die Arbeit der VIII. Reichstagskommission am 12.6.1883 bei Gelegenheit der dritten Beratung des Reichshaushaltsgesetzes für 1884/85 debattiert. Diesen Verzicht hatte zunächst der sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Hasenclever mitgeteilt und beklagt: Meine Herren, das Unfallversicherungsgesetz ist also vorläufig wieder begraben, und das erinnert mich an das Gedicht Heines von dem kleinen Knaben Wisetzky, der im Bache ertrunken, während die Katze, die mit ihm hineingefallen, gerettet wurde. Es heißt da: das Menschenleben, das ist zerstört, “aber die Katz, die Katz ist gerettet”. (Es handelt sich um Heines Gedicht “Erinnerung” aus dem 2. Buch Lamentationen des Romanzero.) Die Geldkatze der Regierung wird heute gerettet durch die Annahme des Budgets, aber auf die Menschenleben, die durch das Unfallversicherungsgesetz gesichert werden sollen, wird vorläufig keine Rücksicht genommen. Es ist also eine traurige Situation, in welcher der Reichstag sich befindet. (Sten.Ber.RT, V. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 4, S. 3000) Karl H. v. Boetticher erklärte daraufhin u.a., die Regierung bedauere es auf das lebhafteste, daß es nicht möglich gewesen ist, in dieser Session zu einer Einigung der Komission dieses hohen Hauses zu gelangen, sie wird aber das Ziel im Auge behalten, und es wird ihre erste Aufgabe sein, bei dem nächsten Zusammentritt einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Winke, die in der Kommission hier gegeben sind, auf das gewissenhafteste und sorgfältigste zur Erwägung ziehen wird (ebd., S. 3000). »
  • 4B: 13 W(ochen) »
  • 5B: 4 W(ochen) durch Krankenkasse »
  • 6B.: 8te, 12te Sitzung Bosse ─ Vgl. auch Nr. 89 (S. 304 f.). »
  • 7Obwohl die Reichstagskommission als solche formal nicht legitimiert war, Gesichtspunkte für eine Umarbeitung des Entwurfs zu “verabschieden”, wurden diese dann doch ─ mit Ausnahme der Punkte lb, 11 und 12b ─ bei der dritten Unfallversicherungsvorlage weitgehend berücksichtigt, ein erster Entwurf betreffend die Unfallversicherung der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen wurde dem Reichstag am 3. Januar 1885 vorgelegt, wurde von diesem aber nicht verabschiedet (vgl. dazu die im 2. Teil dieses Bandes abgedruckten Quellen; in Vorbereitung). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 94, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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