Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 92

1883 Juni 8

Bericht1 über die 16. Sitzung der VIII. Reichstagskommission

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[Beratung über das weitere geschäftliche Vorgehen angesichts des bevorstehenden Endes der Legislaturperiode, Einsetzung einer Subkommission]

In der Sitzung vom 8. d. M. sollte die zweite Lesung der Vorlage beginnen. Der Vorsitzende, Frhr. v. Franckenstein, empfahl jedoch mit Rücksicht auf die Geschäftslage des Reichstags, in den schwierigen Umbau des Gesetzes, über dessen Grundlagen die Kommission vielfach weder mit den Regierungen, noch unter sich selbst einig sei, nicht einzutreten, sondern die Ergebnisse der bisherigen Beratungen durch eine Resolution an das Haus zu bringen.2 Die Debatte über diesen Vorschlag füllte die ganze Sitzung und gestaltete sich zu einer Art Generaldiskussion über die Unfallversicherung. Während die meisten Redner, besonders von den Kon-

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servativen und vom Zentrum, sich auf den Standpunkt des Vorsitzenden stellten, da bei einer weiteren Durchberatung der Vorlage doch nichts herauskommen würde, hielt der Abg. Frhr. v. Wendt es für möglich, für den Fall der Vertagung des Reichstags im nächsten Herbst das Gesetz in der Kommission fertigzustellen, und richtete an die Regierungsvertreter eine diesbezügliche Frage. Ministerialdirektor Bosse: Sicherlich wäre es für die verbündeten Regierungen am erwünschtesten gewesen, wenn die Vorlage in der Kommission durchberaten worden wäre; die bisherigen Verhandlungen hätten keine positiven Resultate ergeben, welche eine Direktive für die Regierungen enthielten, dieselben müßten daher eine solche wenigstens durch eine Resolution wünschen; es würde zu traurig sein, wenn man mit einem nur negativen Ergebnis auseinanderginge. Ob in der nächsten Woche Schluß oder Vertagung der Session eintreten würde, darüber seien die Kommissarien nicht informiert. Abg. Lohren fuhrt eine große Zahl wichtigster Fragen auf, über welche keine Einigung erzielt sei, er hält also den Umbau des Gesetzes ohne neue Vorlage für unmöglich. Abg. Löwe: Aus den bisherigen mühevollen Verhandlungen habe sich ergeben, daß die ganze Frage der Unfallversicherung noch nicht spruchreif sei, was hauptsächlich daran liege, daß die Reichsregierung bei undurchführbaren Ideen und sprungweisem Vorgehen beharre. Die Liberalen hätten dagegen in ihrem Gesetzvorschlag (Antrag Buhl und Genossen3) den richtigen Weg zum Ausbau der Haftpflicht gezeigt; diesen möge die Regierung beschreiten oder auf die Vorschläge einer der anderen großen Parteien eingehen, auf jeden Fall aber die unannehmbare Abwälzung eines großen Teils der Unfallversicherung auf die Krankenkassen fallen lassen. Direktor Bosse: Den verbündeten Regierungen liege gewiß daran, in der Materie vorwärts zu kommen, aber dazu sei das Zurückgehen auf ein erweitertes Haftpflichtgesetz gänzlich aussichtslos, nur die öffentlich rechtliche Zwangsunfallversicherung könne zum Ziele führen.4 Abg. Dr. Meyer-Halle: Die Liberalen hätten in ihrem Entwurf, von der Haftpflicht der Unternehmer ausgehend, als geeignetes Mittel zur Durchführung derselben den Unfallversicherungszwang angenommen; in dieser Beziehung bestehe also kein Gegensatz. Das Gesetz scheitere ausschließlich daran, daß die Regierungen an dem Reichszuschuß und an den Gefahrenklassen festhalten, während diese Punkte von der großen Majorität verworfen würden. Daß dies festgestellt sei, bilde schon ein bedeutendes Resultat. Abg. Dr. Hirsch: Es sei tief zu beklagen, daß wieder ein Jahr verflossen, ohne die so höchst dringende Aufgabe der Sicherstellung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle zu erledigen, statt dessen habe man vorgezogen, das sehr viel weniger dringliche Krankenversicherungsgesetz zustande zu bringen. Jetzt sei es unmöglich, die Unfallvorlage durchzuberaten, auch von einer Resolution verspreche er sich wenig. Abg. Dr. Moufang: Das Haftpflichtgesetz habe nur Prozesse hervorgerufen. Er warne vor der Bankrotterklärung der Kommission und des Reichstags, welche in einem Auseinandergehen ohne Resolution liegen würde. Abg. Frhr. v. Maltzahn: Die Kommission habe sich jedenfalls gegen den Grundgedanken des liberalen Entwurfs [ Druckseite 312 ] und für den Grundgedanken des Regierungsentwurfs entschieden. Aber in vielen Hauptfragen herrsche noch Unklarheit; eine Resolution sei daher notwendig. Abg. Eberty: Die beschränkte Haftpflicht, aus welcher die vielen Prozesse hervorgegangen, hätten auch die Liberalen längst fallengelassen. Es sei aber nicht zu rechtfertigen, wenn man von anderer Seite versuche, die bürgerliche Gesellschaft und die gewerbliche Produktion nach meist winzigen Zufallsmajoritäten neu zu regulieren. Abg. Löwe bemerkt, daß auch der Regierungsentwurf noch immer zahlreiche Prozesse über die Höhe der Entschädigung veranlassen werde. Die Kommission gewähre besonders in dieser Frage kein getreues Bild des Reichstags, da die kleineren Gruppen nicht vertreten seien. Abg. Dr. Boettcher erklärt sich für eine Resolution und schlägt zu deren Abfassung die Einsetzung einer Subkommission vor. Bei der Abstimmung erklärt die Kommission einstimmig, daß die Vereinbarung des Unfallversicherungsgesetzes aufgrund der Vorlage unmöglich sei.5 Die Vorbereitung einer Resolution über die Grundlagen eines neuen Entwurfs wird einer Subkommission, bestehend aus den Abgg. Frhr. v. Franckenstein, Frhr. v. Wendt, Frhr. v. Maltzahn, Dr. v. Kulmiz6, Dr. Boettcher, Eberty und Dr. Hirsch übertragen, welche gestern vormittag zusammentreten sollte.

Registerinformationen

Personen

  • Boettcher, Dr. Friedrich (1842─1922) Schriftsteller, MdR (nationalliberal)
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Eberty, Eduard Gustav (1840─1894) Stadtsyndikus in Berlin, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Kulmiz, Dr. Paul von (1836─1895) Rittergutsbesitzer und Industrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Meyer, Dr. Alexander (1832─1908) Redakteur, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Moufang, Dr. Christoph (1817─1890) Domkapitular in Mainz, MdR (Zentrum)
  • Stötzel, Gerhard (1835─1905) Metallarbeiter, Redakteur, MdR (Zentrum)
  • Wendt-Papenhausen, Karl Freiherr von (1832─1903) Rittergutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • 1ZfV, 7. Jg. 1883, S. 298, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 258─259 Rs. »
  • 2Laut SP führte Frhr. v. Franckenstein aus, daß angesichts der bisherigen ziemlich negativen Resultate der Verhandlungen es wohl besser sei, vor Eintritt in die zweite Lesung die Fragen zu beantworten: Ist das Unfallgesetz in der Kommission umzubauen? Falls man diese Frage, wie er glaube, verneine, dann schlage er der Kommission vor, sich darüber schlüssig zu werden, ob man eine Resolution an das Haus bringen wolle. »
  • 3Vgl. Nr. 37. »
  • 4Laut Sitzungsprotokoll führte Bosse aus: Das aber glaube er mit voller Bestimmtheit versichern zu können, die verbündeten Regierungen würden niemals die Aktiengesellschaften zulassen, auch sei der Weg der erweiterten Haftpflicht, weil ein verfehlter, aufgegeben. »
  • 5Der Protokollant Gerhard Stoetzel vermerkte hier: Bei der Abstimmung wurde die Frage: Ob das Unfallgesetz in der Kommission umzubauen sei? verneint (SP, fol. 255 Rs.). »
  • 6Dr. Paul v. Kulmiz (1836─1895), Ritterguts- und Fabrikbesitzer, seit 1881 MdR (Deutsche Reichspartei). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 92, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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