Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 90

1883 [Juni 5]

Bericht1 des Geheimen Regierungsrates Dr. Franz von Rottenburg für den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Ausfertigung mit Randbemerkungen Bismarcks

[Darstellung der Entstehung des Krankenversicherungsgesetzes und seiner Regelungen: Anstoß aus der Unfallversicherungsproblematik und Verselbständigung des Gesetzgebungsprozesses]

Entwicklung der Gesetzgebung betreffend Krankenversicherung

Die Krankenversicherung sollte ursprünglich die Ergänzung der Unfallversicherung bilden. Sie war bestimmt, bei Unfällen den erwerbsunfähig gewordenen Arbeitern während der Karenzzeit eine Unterstützung zu verschaffen. Ein entsprechender Gesetzentwurf ist niemals aufgestellt worden.

Als der erste Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes in die Form umgearbeitet wurde, in der er heute dem Reichstag vorliegt, beantragte das Reichsamt des Innern, die Krankenversicherung zu regeln, aber nicht als bloße Ergänzung der Unfallversicherung, sondern ganz allgemein.2 Referent Lohmann begründete diesen weitgehenden Antrag damit, daß Krankheit eine häufigere und folgenschwere Gefahr für den Arbeiter3 sei als Unfall, daß aber die bestehende Gesetzgebung eine ganz ungenügende Abhilfe gewähre, indem sie eine Verpflichtung zur Krankenversicherung nur für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter kenne, die Auferlegung [ Druckseite 306 ] dieser Verpflichtung von dem Gutdünken der Kommunalverbände abhängig mache und die Leistungen der Krankenkassen zu niedrig normiere. Lohmanns Antrag geht dahin, alle Arbeiter zur Krankenversicherung heranzuziehen, auf welche sich ein Zwang ausüben läßt, d. h. welche in einem stehenden Gewerbebetrieb beschäftigt sind, so daß also unter das zu entwerfende Gesetz fallen würden

a) die Arbeiter, für die das Unfallversicherungsgesetz gilt,

b) die von Handwerkern gegen Lohn beschäftigten Gesellen und Lehrlinge, auch wenn sie nicht unter das Unfallversicherungsgesetz fallen,

c) die von sonstigen stehenden Gewerbebetrieben gegen Lohn beschäftigten Gehilfen und Arbeiter.

Für gewisse diesen Kategorien angehörigen Arbeiter (Gehilfen und Lehrlinge in Handelsgeschäften, Apotheker, die im Transportgewerbe Beschäftigten und daher einem häufigen Ortswechsel unterworfenen Personen, die Angehörigen der Hausindustrie, die außerhalb der Betriebsstätten arbeitenden Personen) sollte der Versicherungszwang nur eingeführt werden können durch Ortsstatut oder Anordnung der höheren Verwaltungsbehörde.

Die Krankenversicherung sollte möglichst durch Gegenseitigkeitskassen der Berufsgenossen übernommen werden, also durch Fabrikkassen für die Arbeiter eines Betriebs, Innungskassen, Ortskassen für Arbeiter eines oder mehrerer verwandter Gewerbe, freie Hilfskassen nach dem Gesetz von 1876.4

Wo wegen geringer Zahl der Arbeiter derartige organisierte Kassen nicht gebildet werden können, ist die Gemeinde zur Krankenunterstützung verpflichtet, wofür sie Beiträge von den Arbeitnehmern erheben darf.5

Der erkrankte Arbeiter erhält 1/2 des ortsüblichen Tagelohns, freie ärztliche Behandlung und 2/3 der Medizinkosten oder 2/3 des ortsüblichen Tagelohns oder freie Kur und Verpflegung in einem Krankenhaus und 1/6 des ortsüblichen Lohns für seine Angehörigen. Orts- und Fabrikkassen zahlen im Todesfall Sterbegeld.

Mit Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde kann eine Kasse auch weitere Leistungen übernehmen, aber nicht Invaliden- Waisen- oder Witwenunterstützung.

Die Arbeitgeber müssen die statutenmäßigen Beiträge einzahlen, können dieselben aber, soweit sie sie nicht selbst tragen, vom Lohn abziehen. Die Arbeitgeber, deren Arbeiter unter das Unfallversicherungsgesetzt fallen, tragen 1/3 der Beiträge.

Es wurden entsprechende Grundzüge für ein Gesetz, betreffend die Krankenversicherung ausgearbeitet6 und dem Volkswirtschaftsrat vorgelegt, welcher folgende Abänderungen beschloß:

I. der Krankenversicherungspflicht unterliegen auch:

die in der Landwirtschaft ständig beschäftigten Arbeiter, die Beamten in Betrieben, welche dem Unfallversicherungsgesetz unterliegen, sofern sie nicht ein Gehalt in einer bestimmten Höhe beziehen (6 2/3 Mark pro Tag)

[ Druckseite 307 ]

II. der erkrankte Arbeiter erhält statt 2/3 der Arzneikosten freie Arznei. Krankengeld wird erst gezahlt nach dem 3. Tag seit Beginn der Krankheit.

Unter Berücksichtigung dieser Beschlüsse wurde ein Gesetzentwurf ausgearbeitet und dem Reichstage vorgelegt; derselbe enthält noch “Baukrankenkassen”, welche die Bauherren zu errichten haben für die bei Eisenbahn-, Kanal-, Wege-, Strom-, Deich- und Festungsbauten beschäftigten Arbeiter, statuiert aber für Forst und landwirtschaftliche Arbeiter mit einem gesetzlichen Versicherungzwang. Der Reichstag hat den Entwurf in folgenden wichtigen Punkten abgeändert:7

Nur Beschluß der Kommunalbehörden ─ nicht Anordnung der Regierung, wie der Entwurf bestimmt ─ soll den Handlungslehrlingen, Apothekern, Arbeitern in der Hausindustrie usw. den Versicherungszwang auflegen können.

Frei vom Versicherungszwange sollen Arbeiter sein, die kontraktlich auf Verpflegung in der Familie des Arbeitgebers Anspruch haben.

Ist die Gemeinde zur Krankenunterstützung verpflichtet, so muß sie ─ nicht “kann” sie, wie der Entwurf lautet ─ Beiträge erheben.

Die Krankenversicherungsbeiträge können höchstens 2 % des ortsüblichen Tagelohns betragen. Zu einer Erhöhung über 1 1/2 % bedarf es der Genehmigung der Regierung.

Die Zusammenlegung mehrerer Gemeinden zu einer gemeinsamen Gemeindekrankenversicherung soll nur aufgrund Beschlusses der Kommunalbehörden erfolgen ─ nicht, wie die Vorlage bestimmt, aufgrund der Anordnung der Regierung.

Die Befugnis der Regierung, die Errichtung von Ortskrankenkassen anzuordnen, wird beschränkt.

Die Regierung kann Unternehmer von Betrieben mit mindestens 50 Arbeitern nicht spontan, wie der Entwurf vorschlägt, sondern nur dann zur Errichtung von Fabrikkassen anhalten, wenn die betreffende Gemeinde oder die Ortskrankenkasse, der die Arbeiter des betreffenden Betriebes angehören, darauf antragen.

Die Entscheidung der Regierung über Errichtung und Schließung von Kassen, Genehmigung von Statuten etc. soll nicht im Beschwerdewege, wie der Entwurf vorschlägt, sondern im Verwaltungsstreitverfahren angefochten werden können.

Die Verpflichtung der Arbeitgeber, 1/3 der Beiträge ihrer Arbeiter zur Krankenkasse zu tragen, wird allgemein statuiert. Ortsstatut kann dieselbe für kleine Handwerker ausschließen.

Mitglieder einer Zwangskasse scheiden aus derselben aus durch Eintritt in eine freie Hilfskasse. Die Vorlage bestimmt nur, daß Mitglieder freier Hilfskassen nicht gezwungen seien, in eine Zwangs- (Fabrik-, Orts- etc.) Kasse einzutreten.

[ Druckseite 308 ]

Registerinformationen

Personen

  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • 1BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 196─199, die Datierung erfolgte durch die Bearbeiter. »
  • 2Vgl. dazu die Einleitung. »
  • 3B.: gewiß, aber zur gesetzlichen Regulierung lag nicht der Zwang vor, den bei Unfall die Fehler der Haftpflicht üben »
  • 4B.: alles gut u(nd) nützlich, aber nicht so dringlich wie Unfall u. Haftpflicht »
  • 5B.: das war sie auch bisher, ohne die Arbeiter mit besonderen Beiträgen belasten zu können u(nd) ohne Norm (vgl. § 29 des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz v. 6.7.1870, BGBl. S. 360). »
  • 6Vgl. Nr. 44 Anm. 4. »
  • 7Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 6, Anl. Nr. 286, Nr. 330, S. 1047─1072 u. 1332─1343. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 90, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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