Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 83

1883 Mai 8

Bericht1 über die achte Sitzung der VIII. Reichstagskommission

Druck

[Beratung über § 10 der zweiten Unfallversichcrungsvorlage, Freiherr v. Hertling bringt seinen Präjudizialantrag ein, der andiskutiert wird]

In der Sitzung vom 8. d. M. wurde die Beratung über § 10, Gefahrenklassen, fortgesetzt.2 Abg. Dr. Buhl begründete folgenden Antrag zu den §§ 7 bis 14: “Die Versicherung erfolgt durch die Unternehmer der unter § 1 fallenden Betriebe. Diejenigen im Bezirk einer höheren Verwaltungsbehörde belegenen Betriebe, deren Unternehmer nicht nachweisen, daß sie einer Versicherungsgenossenschaft angehören oder bei einer zum Zwecke dieser Versicherung im deutschen Reiche zugelassenen Versicherungsanstalt versichert sind, bilden zusammen einen Betriebsverband. Die Zentralbehörden der Bundesstaaten können bestimmen, daß Betriebsverbände für andere Bezirke als diejenigen der höheren Verwaltungsbehörden zu bilden sind. Ebenso kann der Bundesrat nach Benehmen mit den beteiligten Landesregierungen die Bezirke von Betriebsverbänden unabhängig von den Landesgrenzen feststellen.” Der Antrag bezwecke, so führte Abg. Dr. Buhl aus, aufgrund des Versicherungszwanges die Unfallversicherung auch bei freien Genossenschaften und Gesellschaften zuzulassen, für diejenigen Betriebe, welche letzteren Weg nicht beschreiten wollen oder können, dagegen Zwangsverbände einzurichten.

[ Druckseite 289 ]

Inzwischen war auch der bereits erwähnte Präjudizialantrag des Abg. Frh. v. Hertling privatim verteilt worden3; derselbe lautet wörtlich:

“Die Kommission wolle beschließen, auf eine vollständige Durchberatung des Gesetzentwurfs zu verzichten, dagegen nachstehender Resolution behufs Vorlage an den Reichstag die Zustimmung zu erteilen. Der Reichstag wolle beschließen: A. Dem Gesetzentwurf, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter in der vorliegenden Gestalt die verfassungsmäßige Zustimmung zu versagen; B. den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstage in seiner nächsten Session einen umgearbeiteten Entwurf vorzulegen, in welchem 1. der im § 7 vorgesehene Zuschuß des Reiches beseitigt ist; 2. der Zeitpunkt, von welchem ab die Unfallentschädigung eintritt, von dem Beginn der 14. auf den Beginn der 5. Woche verlegt wird, dabei jedoch den Krankenversicherungskassen die Pflicht auferlegt bleibt, das dem Verletzten zustehende Krankengeld bis zum Beginn der 14. Woche fortzuzahlen, daneben aber von jeder weiteren Heranziehung der Arbeiter zu den Kosten der Unfallversicherung Abstand genommen ist; 3. die Unfallversicherung unter Ausschluß der privaten Versicherungsgesellschaften durch Berufsgenossenschaften und Verbände von Arbeitgebern in der Weise bewirkt ist, daß ein Teil der Lasten jedesmal von der engeren, räumlich abzugrenzenden Berufsgenossenschaft, der andere Teil von dem weiteren, aus sämtlichen Unternehmern gleichartiger Betriebe zu bildenden Verbande getragen wird; 4. die Bildung von Gefahrenklassen beibehalten ist, jedoch nur zu dem Zwecke, darin einen Regulator für die Verteilung der Lasten auf die einzelnen Betriebe zu gewinnen; 5. die Mitwirkung der Postverwaltungen (§§ 97 und 98 des Entwurfs) beseitigt und die Auszahlung der Entschädigungen durch die Zentralstellen der Genossenschaften und Verbände unter Vermittlung derjenigen Krankenversicherungskasse bewirkt wird, welcher der Verletzte als Mitglied angehört, oder welche sich an dem Beschäftigungsort des Verletzten befindet.”

Abg. Lohren wandte sich mit gewohnter Heftigkeit gegen diesen Antrag, während Abg. Hertling mit gewohnter Ruhe erklärte, einen Anlaß zu diesen Angriffen nicht finden zu können. Reichsamtsdirektor Bosse sprach sich dahin aus: In einem Punkte seien die Regierungsvertreter schon jetzt zu einer Erklärung ermächtigt, nämlich zu der, daß Privatversicherungsgesellschaften nicht zugelassen würden; auf diesen Boden [ Druckseite 290 ] könnten die verbündeten Regierungen nicht treten. Von Mißgunst gegen die Versicherungsgesellschaften sei bei den Regierungen keine Rede, aber sie könnten nicht wünschen, daß Private an den Unglücksfällen der Arbeiter “verdienen”. (??)4 Auf Anfrage des Abg. Buhl, betreffend die Gegenseitigkeitsgesellschaften, erklärte der Regierungskommissar: Insoweit Gegenseitigkeitsgesellschaften nicht unter den Gesichtspunkt der öffentlich-rechtlichen Stellung, die der Gesetzentwurf in Aussicht nehme, fielen, würden auch sie reprobiert.5 Abg. Frhr. v. Maltzahn, weder durch die Vorlage, noch durch die gestellten Anträge befriedigt, behielt sich eine Formulierung seiner Ansichten vor. Geh. Oberregierungsrat Lohmann erhob eine Reihe von Einwendungen gegen den Antrag Buhl; die Existenz der Betriebsgenossenschaften sei mit der Gestattung von freien Gesellschaften nicht vereinbar, auch lasse sich auf letztere das Umlageverfahren nicht anwenden, da sie nicht die Garantie “ewiger Dauer” bieten.6 Abg. Löwe erklärte sich vom entgegengesetzten Standpunkt gegen den Antrag Buhl, ebenso gegen die vom Abg. v. Maltzahn entwickelten, sehr künstlichen Vorschriften und schließlich gegen den Antrag v. Hertling, von dem er nur den Eingang, die Verwerfung der Vorlage akzeptierte; die privaten Versicherungsgenossenschaften und Gesellschaften würden vollständig genügen.

Abg. v. Schirrmacher [recte: Schirmeister] sprach nochmals gegen die Gefahrenklassen; man möge das allgemeine Versicherungsnormativgesetz abwarten. Redner beantragte, dem Plenum über die bisherigen Beratungen in Betreff der grundlegenden Paragraphen einen Vorbericht zu erstatten. Abg. Dr. Moufang stellte einen Unterantrag zu Nr. 3 des Antrages v. Hertling, betreffend die Betriebsgenossenschaften und deren Verbände. Abg. Frhr. v. Wendt7 wandte sich gegen Buhl und Lohren; die Privatgesellschaften würden die erforderlichen Kautelen nicht ertragen können. (??) Abg. Dr. Boettcher8 hielt das Nebeneinanderbestehen von freien und [ Druckseite 291 ] Zwangsgenossenschaften für möglich und nützlich; das Schwierigste sei dabei die Regelung des Umlageverfahrens. Jedenfalls müsse die Kommission weiter beraten. Abg. Buhl wies auf die Gegenseitigkeitsgesellschaften, wie die Chemnitzer9, hin, welche doch mindestens ebenso zweckmäßig seien, wie die Betriebsgenossenschaften der Vorlage; beide beständen aus den versicherungspflichtigen Arbeitgebern; er hielt seinen Auftrag als Vermittlungsvorschlag aufrecht, obgleich man auch ganz ohne Zwangsorganisation, vermöge der Maximalprämien, die Schwierigkeit lösen könne. Direktor Bosse meinte, es sei zu erwägen, ob solche Gegenseitigkeitsgesellschaften im Rahmen des Gesetzes Platz finden könnten; der Regierung seien alle positiven Vorschläge willkommen.10 Nachdem sich Abg. Lohren nochmals entschieden gegen den Antrag v. Hertling erklärt, (den der Antragsteller noch gar nicht motiviert hatte) wurde die Sitzung vertagt. Auf Vorschlag des Präsidenten [Maltzahn-Gültz] soll die erste Sitzung erst nach den [Pfingst-]Ferien stattfinden und in derselben mit der Beratung des § 10 fortgefahren werden. Die Verhandlungen machten durchaus den Eindruck der Verwirrung und Ratlosigkeit auf allen Seiten, wie dies ja auch der Vorlage gegenüber gar nicht anders zu erwarten ist.

Registerinformationen

Personen

  • Boettcher, Dr. Friedrich (1842─1922) Schriftsteller, MdR (nationalliberal)
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Moufang, Dr. Christoph (1817─1890) Domkapitular in Mainz, MdR (Zentrum)
  • Schirmeister, Heinrich von (1817─1892) Landrat a.D., MdR (Liberale Vereinigung)
  • Wendt-Papenhausen, Karl Freiherr von (1832─1903) Rittergutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • 1ZfV, 7. Jg. 1883, S. 242, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 210─212. »
  • 2Das Protokoll dieser Sitzung ist überliefert: BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 170─172 (metallographierte Abschrift). »
  • 3Dieser ist in der “Urfassung” als blauer Wachsmatrizenabzug auf Reichstagsbriefbogen: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 213─214, und als Ausschußdrucksache Nr. 11: BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 174 u. 15.01 Nr. 384, fol. 111, überliefert. Die Kennzeichnung “privatim” dürfte bedeuten, daß der Antrag ohne Abstimmung mit seinen Fraktionsgenossen erfolgte; gleichwohl war der Antrag letztlich weitgehend erfolgreich; vgl. Nr. 94. Hingewiesen sei hier darauf, daß ─ soweit das feststellbar ist ─ dieser “Privatantrag” v. Hertlings recht gut den Auffassungen und Interessen Theodor Lohmanns entsprach. In seinen Lebenserinnerungen hat von Hertling dankbar der Hilfe gedacht, die seinen Freunden und ihm von Lohmann geleistet wurde: Von ihm erhielten wir wiederholt sachkundige Anregungen in wichtigen Einzelfragen und auch formulierte Anträge, die wir dann in der Kommission einbrachten und verteidigten (Georg von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 1, Kempten 1919, S. 328). Hier an einen derart vorformulierten Antrag zu denken, liegt nahe: Jedenfalls steht dieser “Privatantrag” v. Hertlings, der auch zum Eklat mit v. Franckenstein führte (vgl. Nr. 84), in auffallendem Gegensatz zu dem v. Hertling privatim vorgetragenen “Privatwunsch” Bismarcks (vgl. Nr. 77 Anm. 2). »
  • 4Im Protokoll heißt es dazu: daß die verbündeten Regierungen zwar für jeden gesetzgeberischen Vorschlag zur Lösung der hier vorliegenden Fragen zugänglich und dankbar seien, dagegen seien die verbündeten Regierungen, soweit er übersehe, völlig außer Stande, einer Basierung der Unfallversicherung auf der Zulassung der Privatversicherungsgesellschaften als Träger der Unfallversicherung zuzustimmen. (Unterstreichungen von Bismarck) Diese Diskussion ist im Zusammenhang mit Bismarcks Plänen für eine Verstaatlichung des gesamten Versicherungswesens zu sehen, Vgl. dazu Nr. 85 Anm. 6. »
  • 5Im Protokoll der Sitzung heißt es: Auf Befragen des Abg. Dr. Buhl, ob sich diese Erklärung auch auf die Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit beziehe, erklärte Herr Direktor Bosse: “daß deren Zulassung nur unter der Voraussetzung als möglich erscheine, daß dieselben in den Rahmen der im Gesetz vorzusehenden öffentlich rechtlichen Organisationen sich einfügen ließen.” (Unterstreichung von Bismarck, fol. 170 Rs.) »
  • 6Im Protokoll heißt es dazu: Was den Antrag des Abg. Dr. Buhl angehe, so sei es für die Vertreter der verbündeten Regierungen außerordentlich schwierig, demselben gegenüber auch nur eine Meinung auszusprechen, denn es lasse sich nicht verkennen, daß, die Annahme dieses Antrages wirklich vorausgesetzt, die Ausführung im einzelnen auf die allergrößten Schwierigkeiten stoßen würde. Das Umlageverfahren sei mit der freiwil- ligen Vereinigung zum Zwecke der Unfallversicherung völlig unvereinbar. (Unterstreichung von Bismarck, fol. 171) »
  • 7Karl Freiherr von Wendt-Papenhausen (1832─1903), Rittergutsbesitzer, seit 1874 MdR (Zentrum). »
  • 8Dr. Friedrich Boettcher (1842─1922), Schriftsteller, seit 1878 MdR (nationalliberal). »
  • 9Die Chemnitzer Unfallversicherungsgenossenschaft wurde am 3.8.1871 aufgrund des Sächsischen Gesetzes über die juristischen Personen konstituiert und 1875 auch in Preußen konzessioniert. »
  • 10Im Protokoll heißt es dazu: Bosse erklärte, daß es nicht die Absicht (der Regierung) sei, von der materiellen Beratung des Antrags Buhl und Genossen abzuraten, daß dieselbe auf positive Vorschläge aus der Mitte der Kommission gegenüber der Vorlage den größten Wert legte (BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 172, Unterstreichung von Bismarck). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 83, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0083

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