Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 76

1883 Februar 4

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Schuldirektor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Bismarcks “unsinnige” Vorstellungen und sein Eigensinn verhindern wirksame sozialpolitische Reformen]

Wir sind mit unseren Beratungen [des Krankenversicherungsgesetzes in der VIII. Reichstagskommission] immer noch nicht fertig. [...] Eine so gründliche Kommissionsberatung habe ich in meiner preußischen Praxis noch nicht erlebt; und wunderbarerweise ist die Stimmung in der Kommission eigentlich immer besser geworden; ein Bestreben, das Gesetz nicht zustande kommen zu lassen, macht sich von keiner Seite mehr geltend, und mit wenigen Ausnahmen gibt sich bei allen das Bewußtsein kund, daß man endlich mal mit irgendetwas zustande kommen müsse und daß dies noch der beste Anfang sei. Dagegen denkt kein Mensch [in der Reichstagskommission] mehr daran, daß der Unfallversicherungsgesetzentwurf zustande kommen könne, und Bismarck muß es nun erleben, daß der Entwurf, den er nur widerwillig mit in Kauf genommen, “das untergeschobene Kind”, freundlichst aufgenommen wird, während man über sein Lieblingskind nur ein bald bedenkliches, bald mitleidiges Kopfschütteln hat. Mich soils wundern, wie er sich schließlich zu der Sache stellt; möglich bleibt es immer, daß er schließlich sagt: “ohne den Unfall will ich auch die Krankheit nicht versichern”, und dann sind wir wieder da, wo wir vor drei Jahren auch schon waren; nur daß die Unfruchtbarkeit seiner Politik auf dem sozialen Gebiete dann doch aller Welt vor Augen liegt, das heißt, soweit sie überhaupt Augen hat; ganz viele gehören zu diesem Teile nicht, das wird einem mit jedem Jahr deutlicher.

Was Du in Deinem letzten Briefe über die Möglichkeit einer Regelung der Unfallversicherung auf der Grundlage subsidiären Zwanges ausführst, habe ich im Herbst 1881 auch schon dem Fürsten auseinandergesetzt; das heißt, ich sprach mich prinzipaliter für einen nur indirekten Zwang aus, in der Weise, daß jeder Unternehmer verpflichtet werden sollte, dem in seinem Betriebe verunglückten Arbeiter [ Druckseite 277 ] den ganzen Schaden zu ersetzen, wenn er nicht seine Arbeiter gegen alle Unfälle auf eine im Gesetz anerkannte Weise und unter Zugrundelegung gesetzlich begrenzter Entschädigungssätze versichert hat, wobei er berechtigt [ist], eine gewisse Quote der Versicherungsprämie dem Arbeiter am Lohne zu kürzen. Bevorzugte Form der Versicherung: Genossenschaften; daneben strenge Regelung und Kontrolle der verschiedenen Arten der Privatversicherung; für alle die Verpflichtung, eine Rente zu versichern und die im einzelnen Falle festgesetzte Rente von einer (oder mehreren) reichsseitig anerkannten Rentenversicherungsanstalt (in eine solche wollte ich die ‘Wilhelmsspende’ umwandeln) zu kaufen. Mein subsidiärer Vorschlag ging auf Beibehaltung der Reichsversicherungsanstalt als subsidiäre Zwangsanstalt für alle, welche nicht freiwillig genossenschaftlich versichern; zu ermöglichen durch Ausscheidung aller Entschädigungen für die ersten 13 Wochen. Das wäre auch noch gegangen; jetzt gehts nicht mehr, weil Bismarck in seinem “Zwangskorporations” -Rappel à la Schäffle die Reichsanstalt so schlecht gemacht hat, daß er schimpfshalber nicht wieder damit kommen kann.

Sehr viel könnten wir bei gegenwärtiger Stimmung auf sozialpolitischem Gebiete tun, wenn er nicht so un- und eigensinnig wäre. Genug davon! [...]

Ja so, das muß ich Dir doch noch erzählen: Ich glaubte ja, wie ich auch wohl schon geschrieben, Bismarck sei so ziemlich “mit mir fertig”, da er auch meinen letzten Entwurf nicht mal gelesen hatte, und ich doch in der Dir bekannten Unterredung mit meinem Widerspruch ziemlich weit gegangen war. Nun sagte mir Bosse, als er nach Boettichers ernsthafter Erkrankung3 dem Fürsten über die Behandlung der Geschäfte Vortrag gehalten hatte, jene Vorstellung sei ganz irrig; Bismarck habe noch ein riesiges Zutrauen zu mir, und zum Beweise, daß ich wenigstens noch nicht in Ungnade gefallen, bekam ich denn auch zum Ordensfest den Roten Adler-Orden II. Klasse, während zwei vor mir stehende Räte im Reichsamt des Innern, welche Bismarck nicht gern hat, übergangen wurden.4 Ob ich darüber mich freuen oder traurig sein soll, weiß ich nicht; wenigstens wünsche ich nicht, daß er sich wieder persönlich mit mir abgibt. Aus der Entfernung macht sich der Verkehr angenehmer. Ja, wenn irgendeine Aussicht vorhanden wäre, daß er von irgendjemandem Rat annähme, dann verlohnte es schon der Mühe, ihn auch mal durch Widerspruch zu reizen; aber so für nichts und wieder nichts, das ist nicht mein Fall.

[ Druckseite 278 ]

Registerinformationen

Personen

  • Adelmann von Adelmannsfelden, Heinrich Graf (1848─1920) Gutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • Ballestrem, Franz Graf von (1834─1910) Rittmeister a.D., MdR (Zentrum)
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boettcher, Dr. Friedrich (1842─1922) Schriftsteller, MdR (nationalliberal)
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Dönhoff-Friedrichstein, August Graf von (1845─1920) Fideikomißbesitzer, MdR (konservativ)
  • Ebert, Karl (1838─1889) Bergwerkbesitzer, MdR (konservativ)
  • Eberty, Eduard Gustav (1840─1894) Stadtsyndikus in Berlin, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Greve, Dr. Heinrich Eduard (1846─1892) prakt. Arzt, MdR (Fortschritt)
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Haase, Louis (1825─1901) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Kulmiz, Dr. Paul von (1836─1895) Rittergutsbesitzer und Industrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Langerhans, Dr. Paul (1820─1909) Arzt, MdR (Fortschritt)
  • Lasker, Dr. Eduard (1829─1884) Jurist und Politiker, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Lenzmann, Julius (1843─1906) Rechtsanwalt, MdR (Fortschritt)
  • Lieber, Dr. Ernst Philipp (1838─1902) Jurist, MdR (Zentrum)
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Meyer, Dr. Alexander (1832─1908) Redakteur, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Moufang, Dr. Christoph (1817─1890) Domkapitular in Mainz, MdR (Zentrum)
  • Müller, Dr. Hermann (1826─1903) Rittergutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Münch, Gustav (1843─1910) Ingenieur, MdR (Fortschritt)
  • Paasche, Prof. Dr. Hermann (1851─1925) Staatswissenschaftler, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Papellier, Dr. August (1834─1894) Regierungsrat in Bayreuth, MdR (Fortschritt)
  • Petersen, Dr. Julius (1835─1909) Senatspräsident, MdR (nationalliberal)
  • Pfähler, Gustav (1821─1894) Geh. Bergrat, Bergwerksdirektor, MdR (nationalliberal)
  • Reichert, Ludwig (1840─1909) Landwirt, Bürgermeister von Herbstadt, MdR (Zentrum)
  • Reindl, Magnus (1832─1896) Stadtpfarrer, MdR (Zentrum)
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • Schönborn-Wiesentheid, Friedrich Graf von (1847─1913) Gutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • Soden, Max Frhr. von (1844─1922) Gutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • Stötzel, Gerhard (1835─1905) Metallarbeiter, Redakteur, MdR (Zentrum)
  • Wichmann, Rudolf (1826─1900) Rittergutsbesitzer, MdR (konservativ)
  • Woedtke, Erich von (1847─1902) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 164─166 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Familien- und Kirchenangelegenheiten. »
  • 3v. Boetticher war vom 7.1.1883 bis 25.5.1883 an einer Infektion ernsthaft erkrankt. »
  • 4Th. Lohmann hatte am 14.1.1883 den Roten Adler Orden II. Klasse auf Vorschlag des Reichskanzlers erhalten, und zwar wegen ausgezeichneter Leistungen im Amte, namentlich auf dem Gebiete der sozialpolitischen Gesetzgebung (GStA Dahlem (M) 2.2.1. Nr. 2610, fol. 38). Insgesamt wurde der Rote Adler Orden II. Klasse auf dem Krönungsund Ordensfest 24mal verliehen (vgl. auch Bericht und Auflistung aller Ausgezeichneten im “Deutschen Reichsanzeiger und Kgl. Preuß. Staatsanzeiger” Nr. 12 v. 14.1.1883). “Vorgezogen” wurde Th. Lohmann vermutlich u. a. dem Geh. Oberregierungsrat und Vortragenden Rat im Reichsamt des Innern Louis Haase, der zehn Dienstjahre mehr aufwies, aber erst 1884 ausgezeichnet wurde (GStA Dahlem (M) Rep. 2.2.1 Nr. 2610, fol. 59 Rs.) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 76, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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