Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 72

1882 November 25

Eingabe1 des “Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Saarindustrie”2 an den Deutschen Reichstag

Ausfertigung, Teildruck

[Die Unfallversicherung ist weniger dringend als die Invalidenversicherung. Die Organisation der Unfallversicherungsträger, das Umlageverfahren und der Reichszuschuß werden abgelehnt, hingegen wird ein Arbeiterbeitrag befürwortet]

Resolution

Die Gesetzentwürfe der Reichsregierung vom 29. April3 und 8. Mai d. J.4 betreffend die Kranken- und Unfallversicherung der Arbeiter beruhen auf dem richtigen Prinzip des Beitrittszwanges und der Organisation auf genossenschaftlicher Basis. Der Verein spricht seine volle Zustimmung zu diesen Gesetzentwürfen im allgemeinen aus, hegt aber ernste Bedenken gegen eine Reihe der darin enthaltenen Bestimmungen, deren erheblichste folgende sind:

I. Invalidenversicherung

1. Die allgemeine Regelung der Invaliden- und Altersversorgung ist das dringendste Bedürfnis der den beiden Gesetzentwürfen unterworfenen Arbeiterkreise, sie muß sich deshalb unmittelbar an die Kranken- und Unfallversicherung anschließen, wenn der Zweck der letzteren, eine erhebliche Besserung der Lage der arbeitenden Klassen herbeizuführen, erreicht werden soll.

[ Druckseite 266 ]

II. Unfallversicherung

2. Die Gefahrenklassen sind zwar als geeignete Unterlagen für die relative Beitragspflicht der einzelnen Industriezweige zu den Lasten der Unfallversicherung, nicht aber für die Bildung der Genossenschaften anzuerkennen. Die letzteren werden sich nur dann lebendig und ersprießlich entwickeln können, wenn sie tunlichst auf der Grundlage der Freiwilligkeit aufgebaut werden. Es erscheint deshalb als das Richtigste, in der Regel die Gesamtheit der unter das Gesetz fallenden Betriebe im Bezirk einer höheren Verwaltungsbehörde zu einer Betriebsgenossenschaft zu vereinigen, es aber gleichzeitig zu gestatten, daß sich einzelne Gruppen dieser Betriebe unter bestimmten Kautelen und ohne Rücksicht auf die Gefahrenklassen freiwillig zu besonderen Genossenschaften zusammenschließen.

3. Im Interesse der tunlichsten Verhütung von Unfällen und einer sparsamen Verwaltung muß die Unfallentschädigung in erster Linie der Genossenschaft zur Last fallen, und erst dann, wenn die Überbürdung für die Mitglieder der Genossenschaft einen zu bestimmenden Prozentsatz des Lohnes übersteigt, sollte die Gesamtindustrie des Reichs, und zwar ohne Unterschied der Gefahrenklassen, herangezogen werden.

4. Den bestehenden Knappschaftsvereinen muß gestattet werden, sich einzeln oder in Gruppen als besondere Unfallversicherungsgenossenschaften unter der Bedingung zu konstituieren, daß sie für die Zwecke der Unfallversicherung besondere Rechnung und Verwaltung führen, welche den Bestimmungen des Gesetzes ganz ebenso unterworfen sind, wie die jeder anderen Betriebsgenossenschaft.

5. Die Gerechtigkeit und Solidität erheischen, daß die Beiträge zur Unfallversicherung nicht auf das Umlageverfahren beschränkt, sondern als volles Deckungskapital erhoben werden.

6. Der Zuschuß des Reichs zu den Lasten der Unfallversicherung erscheint unnötig und bedenklich. Dagegen ist ein Teil, entsprechend den Beschlüssen des Reichstages von 1881 etwa ein Drittel dieser Lasten, von den Arbeitern zu tragen. Unter dieser Voraussetzung sind die Arbeiter analog der Organisation der Knappschaftsvereine, also weit über den Rahmen des Gesetzentwurfes hinaus, an den Genossenschaften und deren Verwaltung direkt zu beteiligen. Den Knappschaftskassen ist das Recht einzuräumen, die Beiträge der Arbeiter an deren Stelle zu übernehmen.

7. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Einsetzung von Schiedsgerichten, welche auf dem Vorsitz eines öffentlichen Beamten und einer gesonderten Arbeitervertretung basiert, würde die Klassengegengesetze erheblich verschärfen und ist schon deshalb bedenklich; sie ist aber unbedingt zu verwerfen, wenn die Arbeiter von jedem Beitrage zur Unfallversicherung befreit werden. Es liegt kein Bedürfnis vor, die Entscheidung des ordentlichen Richters zu beseitigen.

8. Entsprechend den Reichstagsbeschlüssen von 1881 ist die Aufnahme der Bestimmung dringend erforderlich, daß ein Arbeiter, welcher durch eigenes grobes Verschulden verunglückt, statt der vollen nur die halbe Entschädigung erhält. Ebenso muß in § 8 des Gesetzentwurfs die statutarische und nicht bloß die gesetzliche Verpflichtung der bestehenden Unterstützungskassen aufgehoben werden, neben den durch die Unfallversicherung zu gewährenden Unterstützungen ihre eigene Pension fortzahlen zu müssen. [...]

[ Druckseite 267 ]

Begründung

Wir vermögen es nicht für unsere Aufgabe zu erachten, die beiden in Frage stehenden Gesetzentwürfe vom allgemein sozialpolitischen Standpunkte aus zu erörtern, wir wollen vielmehr unsere Kritik an den vorgeschlagenen Organisationen darauf beschränken, vom rein praktischen Gesichtspunkte aus zu prüfen, ob sie auch durchführbar sind und sich den tatsächlichen Verhältnissen anpassen. Ohne deshalb auf die von anderen Seiten erhobenen Einwände gegen die Gesetze näher einzugehen, begnügen wir uns mit der Erklärung, daß sowohl die ganze Tendenz der Gesetzvorlagen als auch auf die aufgrund des Beitrittszwanges und der Genossenschaftsbildung erstrebte vorliegende Lösung der Frage den in der Industrie empfundenen tatsächlichen Bedürfnissen im allgemeinen entspricht und deshalb unsere volle Zustimmung findet.

Wir wiederholen nachstehend die einzelnen Punkte unserer vorstehend aufgeführten Resolution und fugen einem jeden derselben die Begründung bei.

I. Invalidenversicherung

[...] Punkt 1 der Resolution wird im einzelnen unter Bezugnahme auf die Kaiserliche Sozialbotschaft vom 17.11.1881 als dringendstes sozialpolitisches Bedürfnis dargestellt:

“Nach unseren Erfahrungen kommen etwa auf 6 durch Unfälle dauernd Geschädigte 94 andere Invaliden”.

II. Unfallversicherung

[...] Punkt 2 der Resolution.

Wir müssen uns dagegen erklären, daß man die Versicherungsgenossenschaften auf dem Prinzipe der Gleichheit der Gefahrenklassen aufbauen will; denn es erscheint uns unmöglich, daß damit zwischen den einzelnen Elementen ein Zusammenhang erreicht werde, organisch und innig genug, um dauernd lebensfähige Genossenschaften zu schaffen. In den Motiven zu dem Gesetzentwurf selbst wird hervorgehoben, daß eine kräftige Entwicklung des genossenschaftlichen Lebens und eine erfolgreiche Verwaltung durch genossenschaftliche Organe nur zu erwarten ist, wenn die zu einer Genossenschaft Verbundenen sich sowohl örtlich als auch nach ihrem Berufe nicht allzu fernestehen. Beide Bedingungen werden mit vollem Rechte gestellt; sie bleiben aber unseres Ermessens unerfüllt bei Festhaltung der in Aussicht genommenen Organisation; denn was die örtliche Berührung der Mitglieder einer solchen durch einen ganzen Regierungsbezirk sich erstreckenden Genossenschaft betrifft, so existiert dieselbe für einen derartigen umfangreichen Bezirk, in dem ein Mitglied von dem anderen unter Umständen 20─30 Meilen weit entfernt wohnen kann, wohl kaum noch, und hinsichtlich des Berufs wird doch nur immer für verschwindend kleine Gruppen derselben Genossenschaft eine gewisse Gleichartigkeit bestehen, während der Rest die verschiedenartigsten Betriebe umfassen wird. Die Gleichheit der Gefahrenklasse ist eben eine rein äußerliche und zufällige, weil die Größe der Gefahr zumeist nicht von einer einzigen bestimmten Betriebseinrichtung, sondern von einer ganzen Reihe solcher abhängt. Die aufgrund der bisherigen Unfallstatistik aufgestellte Tabelle zeigt deshalb auch in den einzelnen Gefahrenklassen teilweise die verschiedenartigsten Betriebe, welche miteinander [ Druckseite 268 ] so gut wie nichts zu tun haben. Die Gefahrenkasse V z. B. umfaßt neben den Hochöfen und Stahlhütten, Eisen-, Stahl-, Frisch- und Streckwerken unter anderem auch Papierfabriken, Nudelfabriken, Branntweinbrennereien, Tischlereien, also Unternehmungen, welche sowohl was Umfang und Betriebsweise als was Charakter der Arbeiter und soziale Lage der Betriebsunternehmer betrifft, untereinander außerordentlich abweichen. Während also diese Betriebe miteinander so gut wie nichts gemein haben und kaum irgendwo anders Berührungspunkte finden als in der Versicherung, sollen sie künstlich zusammengeschweißt werden, nur weil sie zufällig das gleiche Risiko in der Unfallgefahr besitzen. Diese Übereinstimmung ist eine allzu äußerliche und formelle, als daß man erwarten könnte, daß heterogene Elemente sich zu einer, alle Teile in gleichem Maße interessierenden genossenschaftlichen Tätigkeit verbinden sollten. Es tritt jedoch noch hinzu, daß infolge dieser rein mathematischen Klassifizierung eine ganze Reihe von Betrieben, welche aus mehreren Einzelbetrieben sich zu einem organischen Ganzen aufbauen, zu Zwecken der Genossenschaftsbildung in zwei oder mehr Teile zerrissen werden müssen, wofern diese Einzelbetriebe verschiedenen Gefahrenklassen angehören. Schon für eine jede Maschinenfabrik würde dies gelten; dieselbe müßte ihre Arbeiter drei verschiedenen Genossenschaften zuteilen, je nachdem sie in der Gießerei, in der Maschinenwerkstätte oder in der Modelltischlerei beschäftigt werden, denn die Gießerei gehört der VIII., der Maschinenbau der VII., die Modelltischlerei der V. Gefahrenklasse an. Ist in der Modelltischlerei jedoch ein Säge- oder Schneidewerk aufgestellt, so müßte der Betrieb noch einer vierten Genossenschaft beitreten, und doch wird es sich hierbei nur um einige wenige Arbeiter handeln können. Ebenso liegt die Sache bei den großen Hüttenwerken; diese gehören mit Erzgruben, Hochöfen und Walzwerken, Verkokungsanstalten, Gießereien im ganzen vier verschiedenen Gefahrenklassen an und müßten deshalb dementsprechend auch vier Genossenschaften beitreten; bei einer dauernd beschäftigten Zahl von Bauarbeitern würden sie sogar noch einer fünften Gefahrenklasse resp. Genossenschaft angehören müssen. Wenn man nun bedenkt, daß der Unternehmer derartiger Betriebe somit in 3, 4 und 5 verschiedenen Genossenschaften Mitglied sein muß, an deren beratender und exekutivischer Tätigkeit, welche beide von ziemlichen Umfang zu werden versprechen, teilzunehmen und auch für jede Genossenschaft Buch und Rechnung zu fuhren hat, so ergibt sich ihm daraus eine Häufung und Komplizierung der Genossenschaftspflichten, wie dies unzuträglicher kaum gedacht werden kann. Hier liegen dieselben Unzuträglichkeiten, welche in den Motiven bei anderer Gelegenheit, wo sie doch bei weitem nicht so schlimm auftreten würden, sehr eingehend erwogen und berücksichtigt worden sind; indem nämlich die Regierung die Mißlichkeiten sehr wohl erkennt, welche sich daraus ergeben, daß für den Fall des Bestehenbleibens der Knappschaftskassen die Betriebsunternehmungen, welche Knappschaftsvereine besitzen, mit denjenigen ihrer Arbeiter, welche diesen Vereinen nicht zugeteilt sind, den entsprechenden Genossenschaften beitreten müßten. Die Regierung hält diese sich so ergebenden Unzuträglichkeiten sogar für so groß, daß sie daraus einen Grund mehr nimmt, der gegen die Privilegierung der Knappschaftskassen spricht. Während es sich dort aber nur darum handelt, wie verhältnismäßig unbedeutende Arbeitergruppen der allgemeinen Organisation eingefugt werden sollen (eine Frage, welche immerhin noch lösbar erscheint), liegt [ Druckseite 269 ] hier tatsächlich die Unmöglichkeit vor, eine ganze Reihe zahlreich vertretener Betriebe der einmal gewählten, aber den Verhältnissen der Wirklichkeit nicht entsprechenden Organisation anzupassen, wenn man nicht den Betriebsunternehmer mit einer Last von neuen Geschäften überhäufen oder aber ihn geradezu dahin drängen will, seine Arbeiter nicht ganz entsprechend der Wirklichkeit zu klassifizieren, wodurch bei einzutretenden Unfällen die bedenklichsten Verwirrungen hervorgerufen werden könnten. Endlich ist aber wohl zu beachten, daß die Zusammensetzung der Genossenschaften eine dauernd wechselnde sein würde, wenn dieselben sich lediglich nach der gleichen Gefahrenklasse bilden würden; denn die Gesetzvorlage schreibt es vor, und in der Natur der Sache ist es begründet, daß in gewissen Zeiträumen eine Revision der Klassifizierung der Betriebe aufgrund der Unfall-Statistik stattzufinden hat. Damit liegt die Möglichkeit vor, daß ganze Gruppen von Betrieben plötzlich aus der einen Genossenschaft ausgeschieden und einer neuen zugeteilt werden. Den daraus entstehenden finanziellen Schwankungen ist zwar durch besondere Bestimmungen vorzubeugen, dagegen lassen sich die Schädigungen, welche dem genossenschaftlichen Leben damit zugefügt werden, nicht beseitigen. Ein solches setzt, wenn es wirklich ersprießlich sein soll, immer einen gewissen Beharrungszustand voraus, und ebenso wird eine rasche, sachgemäße und billige Verwaltung der Genossenschaftsgeschäfte nur zu ermöglichen sein, wenn im ganzen immer dieselben Mitglieder vorhanden bleiben, da sich aus deren Mitte sehr bald die für die Besorgung der Geschäfte geeigneten Persönlichkeiten ergeben, welche bei einer Versetzung in eine andere Genossenschaft nur wieder schwer und unter Opfern zu ersetzen sein würden. Die Bildung der Genossenschaften auf dem reinen Prinzip der gleichen Gefahrenklassen anzustreben, heißt uns deshalb von einer allzu formellen Basis ausgehen, auf welcher eine gesunde Entwicklung und Ausgestaltung, namentlich unter dem Einfluß wechselnder Verhältnisse, geradezu ausgeschlossen ist.

Unseres Ermessens kann sich vielmehr die Bildung wirklich lebenskräftiger Genossenschaften nur auf dem Boden tunlichster Freiwilligkeit vollziehen. Ein gesundes Genossenschaftsleben bedingt auch von vornherein eine gewisse Gleichartigkeit in den Anschauungen und Interessen der Mitglieder und wird deshalb nur dann möglich sein, wenn sich Unternehmer vereinigen, welche auch sonst schon in mehr oder weniger nahen Beziehungen zueinander stehen, sei es, daß sie entweder wirklich durchaus gleichartige Unternehmungen betreiben oder daß sie wenigstens dasselbe Material verarbeiten, sei es, daß ihre Betriebe denselben Charakter zeigen und im allgemeinen dieselben Betriebsmethoden verfolgen oder sei es endlich, daß sie in geographischer Beziehung eng zueinander gehören. Aufgrund einer derartigen Gleichartigkeit der Interessen haben sich ja auch tatsächlich schon Vereinigungen gebildet, welche durchaus befähigt erscheinen, den Stamm für die zu bildenden Versicherungsgenossenschaften abzugeben. Eine rege genossenschaftliche Tätigkeit wird hier bereits gepflegt, die Mitglieder stehen einander in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung bereits nahe genug, um die Übernahme einer solidarischen Haftbarkeit für die Unfälle nur als einen natürlichen Ausfluß ihrer bisherigen genossenschaftlichen Tätigkeit aufzufassen. Es käme nur noch darauf an, diese Vereine zu Genossenschaften zu machen und so zu konsolidieren, daß sie auch die volle Garantie dafür bieten, die ihnen aufzubürdenden Lasten auf jeden Fall und mit absoluter Sicherheit tragen zu können. Die Motive erblicken allerdings gerade in [ Druckseite 270 ] der eigentümlichen Zusammensetzung der Genossenschaften aus Betrieben gleicher Gefahrenklasse, wodurch eine große Zahl der verschiedenartigsten Betriebe vereinigt würden, eine Garantie dafür, daß die Genossenschaften unter allen Umständen zahlungsfähig bleiben und weder durch den Niedergang noch selbst durch ein Erlöschen einzelner Industriezweige in dieser Hinsicht gefährdet werden. Aber dieselbe Garantie läßt sich auch bei Genossenschaften erreichen, welche ohne Rücksicht auf die gleiche Gefahrenklasse sich freiwillig bilden, wenn die Bildung nur unter Beobachtung der nötigen Vorsichtsmaßregeln vor sich geht und wenn man den Bezirk dieser Genossenschaften umfangreich genug begrenzt. Unter solchen Bedingungen werden selbst Massenunglücke den finanziellen Bestand derartiger Genossenschaften nicht gefährden können, wobei wir übrigens gleich hier hervorheben wollen, daß wir den Genossenschaften sogar noch ein weit größeres Risiko aufzubürden geneigt sind, als dies durch die Vorlage geschieht, und wir die nach obigen Andeutungen zu bildenden Genossenschaften selbst dazu durchaus befähigt halten.

Aus allen diesen Gründen mußte es uns als das Richtigste erscheinen, wenn bestimmt würde, daß der Regel nach sämtliche versicherungspflichtige Betriebe im Bezirk einer höheren Verwaltungsbehörde sich als eine einzige Genossenschaft konstituieren und es außerdem gestattet würde, daß sich einzelne Gruppen dieser Betriebe freiwillig zu besonderen Genossenschaften vereinigen, welche gleiche Rechte und Pflichten wie die erstere haben. Um jedoch dem alsdann möglicherweise eintretenden Mißstande, daß in der Bezirksgenossenschaft unter Umständen nur eine verschwindend kleine oder sonstwie nicht geeignete Zahl von Betrieben übrigbleibt, welche ihre Risiken mit Sicherheit nicht würden übernehmen können, müßte der Verwaltung das Recht vorbehalten bleiben, diese Betriebe nach Bedürfnis in eine der freiwillig gebildeten Genossenschaften einreihen oder auch nach Umständen die beantragte Konstituierung dieser letzteren überhaupt verhindern zu können. Auch wird man für den Fall, daß die Beiträge entsprechend der Regierungsvorlage in der Form der Umlage erhoben werden sollten, den Wiederaustritt von Mitgliedern freiwilliger Genossenschaften nur unter gewissen Bedingungen gestatten können, um Vorsorge dagegen zu treffen, daß sich nicht etwa einzelne Betriebsunternehmer auf diese Weise umfangreicheren Verpflichtungen entziehen, indem sie einer Genossenschaft mit geringeren Verpflichtungen beitreten. Diese Vorsorge zu treffen, wird jedoch unnötig, sobald man entsprechend dem von uns gemachten Vorschlage die Beiträge in Form des vollen Deckungskapitals aufzubringen beschließt.

Wenn somit im Interesse der absolut sicheren Durchführung des Gesetzes auch einige Beschränkungen der prinzipiell anzuerkennden Freiwilligkeit in der Bildung der Genossenschaften nötig werden, so lassen dieselben doch der individuellen Tätigkeit noch einen Spielraum, der weit genug ist, um ein wirklich lebenskräftiges Genossenschaftsleben möglich zu machen. Nur in dieser Art halten wir die Genossenschaften auch geeignet, im Sinne der Reichsregierung die Anfange für eine auch sonst auf genossenschaftlicher Basis zu vollziehende wirtschaftliche und soziale Reform abzugeben; vor allem aber scheint uns auch nur aufgrund einer derartigen Organisation die Invalidenversicherung durchführbar. [...] Punkt 6 der Resolution.

Hinsichtlich des vom Gesetzentwurf stipulierten Zuschusses des Reichs zu den Entschädigungen enthalten wir uns derjenigen Bedenken, welche man vom allgemeinen politischen Gesichtspunkte aus dagegen anfuhren könnte, so schwerwiegend [ Druckseite 271 ] uns dieselben auch erscheinen mögen; wir halten es jedoch für unsere Pflicht zu erklären, daß unseres Erachtens der Reichszuschuß von der Industrie entbehrt werden kann. Der Zentralverband Deutscher Industrieller hat sich allerdings in der Reihe seiner Resolutionen betr. die Unfall- und Krankenversicherung dahin ausgesprochen, daß die Industrie des Reichszuschusses bedarf, um die Lasten der Reformen tragen zu können; wir dagegen sind der Ansicht, daß die Industrie, und zwar die gesamte Industrie, denselben entbehren kann, selbst wenn man berücksichtigt, daß ihr späterhin auch noch aus der Invalidenversicherung Lasten erwachsen werden, die noch erheblicher sind. Wir erblicken in der Belastung weder durch das eine noch durch das andere eine Gefahr für die gedeihliche Entwicklung der Industrie, wofern nur dafür gesorgt wird, daß die ganze Organisation der Natur der Betriebe angepaßt wird, und wofern die den Arbeitern zugedachten Benefizien, sowohl hinsichtlich der Unfall- und Krankenversicherung, als auch späterhin hinsichtlich der Invalidenversicherung, in angemessenen Grenzen gehalten werden. Die Geldopfer allein werden der Industrie zu keinem Hemmschuh werden, wenn es nur die ganze Art und Weise, wie die Reformen ins Leben gerufen werden, nicht wird.5 [...]

Von verschiedenen Seiten ist in letzter Zeit, ebenso wie dies bereits früher bei der Beratung des ersten Gesetzentwurfs über die Unfallversicherung auch im Reichstag geschehen ist, hervorgehoben worden, und der Reichstag hat es durch seinen Beschluß, die Beitragspflicht für die Arbeiter aller Lohnstufen einzuführen, auch anerkannt, daß namentlich ethische Motive dafür sprechen, den Arbeiter beitragspflichtig zu machen, um die ihm zu gewährende Unterstützung des Charakters eines Almosens zu entkleiden. Die Regierung ist nicht auf dem früheren Standpunkte beharrt, teils wegen der bereits erwähnten Schwierigkeiten, teils auch, weil sie sich sagt, daß der Arbeiter nunmehr mit seinen Beiträgen zur Krankenunterstützung insofern zu den Unfallentschädigungen beisteuert, als dieselben teilweise in Form von Krankenunterstützung für die Dauer einer Art Karenzzeit gewährt werden sollen. Aber der Zusammenhang bleibt hier für den Arbeiter nicht sichtbar genug, um in moralischer Beziehung einen solchen Einfluß auf ihn auszuüben, wie er von so vielen Seiten mit Recht als wünschenswert hingestellt wird und wie er bei der Verpflichtung des Arbeiters zur direkten Beitragszahlung unzweifelhaft erreicht werden würde. Für uns ist jedoch für die Beibehaltung dieser Beitragspflicht außerdem, und zwar in besonderem Grade der Umstand maßgebend, daß auch nur dann eine Beteiligung der Arbeiter an der Verwaltung der Genossenschaften und der Bemessung der Entschädigungen durchfuhrbar wird. Den Arbeitern eine solche Beteiligung zugestehen zu wollen, ohne ihnen zugleich einen entsprechenden Teil der Lasten aufzulegen, wäre ein Unding, weil sie dann berufen würden, lediglich über fremdes Eigentum zu verfügen, ohne ein materielles Interesse an einer sparsamen Verwaltung und der Verhütung oder Verminderung von Ausgaben zu haben; [ Druckseite 272 ] und doch ist eine solche Beteiligung ganz unumgänglich notwendig, wenn wirklich eine lebenskräftige genossenschaftliche Institution geschaffen werden soll.

Diese Frage der Beteiligung oder Nichtbeteiligung der Arbeiter an der Beitragszahlung sowie an der gesamten Organisation scheint uns den Angelpunkt dafür abzugeben, ob das Gesetz in sozialer Beziehung auch wirklich diejenigen Folgen haben wird, welche man sich von ihm verspricht. Hier entscheidet es sich unseres Ermessens, ob das Gesetz sozial gut oder sozial schlecht wird. Von dieser Überzeugung durchdrungen, müssen wir, selbst wenn wir damit Gefahr laufen, daß uns vorgeworfen wird, wir stellten eine solche Forderung aus Egoismus und um unsere eigenen Beiträge zu reduzieren, darauf bestehen, die Arbeiter zu den Beiträgen heranzuziehen. Materiell wird es für den Betriebsunternehmer ziemlich gleichgültig sein, ob er die Kosten der Unfallversicherung formell allein, oder teilweise in Gestalt von Beiträgen seiner Arbeiter zahlt, denn in letzterem Falle wird er diesen sicherlich früher oder später den Lohn erhöhen müssen. Die Erfahrungen der Knappschaftskassen beweisen übrigens auch, daß der Arbeiter sich gern und ohne Widerstreben der Zahlung von Beiträgen zu Einrichtungen, welche zu seinem Wohle getroffen werden, unterzieht. Der Einwand, daß das bisherige Haftpflichtgesetz von Beiträgen der Arbeiter absieht, wäre gänzlich hinfällig, denn die Unfallversicherung umfaßt im Gegensatz zu dem Haftpflichtgesetz ein so großes Gebiet, daß die wirklich einklagbaren Haftpflichtsunfälle in eine verschwindende Minderheit gegenüber der Gesamtzahl der überhaupt zur Entschädigung kommenden Unfälle rücken.

Registerinformationen

Personen

  • Bueck, Henry Axel (1830─1918) Verbandsgeschäftsführer
  • Fritzen, Alois (1840─1916) Landesrat, MdR (Zentrum)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Servaes, August (1832─1923) Industrieller, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Stumm, Karl Frhr. von (1836─1901) Industrieller, MdR (freikonservativ/ Deutsche Reichspartei
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1BArchP 15.01 Nr. 412, fol. 74─85. Die von Stumm unterzeichnete Eingabe (vgl. dazu Fritz Hellwig, Carl Freiherr von Stumm-Halberg, Heidelberg-Saarbrücken 1936, S. 341 ff.) wurde mit folgendem Anschreiben übersandt: Dem Deutschen Reichstage beehren wir uns anliegend die in der am 5. Oktober a(nno) c(urrente) zu Saarbrücken abgehaltenen Generalversammlung des “Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Saarindustrie” einstimmig angenommene Resolution die Gesetzvorlagen der Reichsregierung die Unfall- und Krankenversicherung betreffend nebst Begründung zur geneigten Berücksichtigung bei der Beratung der Gesetzentwürfe ergebenst zu überreichen. »
  • 2Der am 10.6.1882 gegründete Verein wurde erst 1888 Mitglied im Zentralverband deutscher Industrieller. »
  • 3Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 5, Aktenstück Nr. 14. »
  • 4Vgl. Nr. 57. »
  • 5Am 30.12.1882 schrieb dazu August Servaes an Henry A. Bueck: Was die Eingabe (Stumms) in der Unfallfrage betrifft, so werden wir wohl am besten dieselbe ruhig laufen lassen, es sei denn, daß der Centralverband die in derselben aufgestellten abweichenden Grundsätze als Anschauung einer kleinen, durch ganz abnorme Verhältnisse sehr günstig situierten Clique durch besondere Eingaben bezeichnen will; jedenfalls widersprechen diese Grundsätze den allgemeinen Interessen. (Fritz Hellwig, Carl Freiherr von Stumm, 1936, S. 343) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 72, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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