Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 68

1882 September 2

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an Professor Dr. Lorenz von Stein

Ausfertigung, Teildruck2

[Angesichts der drohenden sozialen Revolution hat die Gesetzgebung eine pädagogische Aufgabe, die vorliegenden Gesetzentwürfe gehen aber von einer dilettantischen Auffassung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse aus]

[...] Aus Ihren Bemerkungen zu unseren sozialpolitischen Gesetzentwürfen ersehe ich, daß in der Grundauffassung zwischen uns keine Differenz besteht. Nur darüber bin ich noch zweifelhaft, ob wir aus dem Grundsatze, daß der Staat nur soviel (also auch soweit) eingreifen soll, als der einzelne sich nicht selber helfen kann, nicht etwas verschiedene praktische Konsequenzen ziehen.

Sie sehen darin, daß nach den Entwürfen der Staat die Funktionen des Individuums übernimmt, eine Gefährdung der sich selbst verantwortlichen Kraft des letzteren, da dieselbe in dem Grade überflüssig wird, in welchem staatliche Maßregeln die Selbsttätigkeit des Individuums zu dem Ende unnötig machen, damit der einzelne nicht darunter leide, daß er die Selbsttätigkeit nicht als seine Pflicht erkannt hat. Prüfe ich unter diesem Gesichtspunkte die Zulässigkeit der Einführung eines Versicherungszwanges, z. B. des Krankenversicherungszwanges, so entsteht mir die Frage, ob derselbe nicht zu dem Ende notwendig sei, damit der einzelne nicht darunter leide, daß der andere seine Pflicht zur Selbsttätigkeit nicht erkennt; mit anderen Worten, ob die Erfüllung dieser Verpflichtung für den einzelnen nicht von Voraussetzungen abhängig ist, welche er selbst nicht schaffen kann, also namentlich von der Voraussetzung, daß auch alle andren einzelnen seiner Klasse die Verpflichtung gleichfalls erfüllen; und ob diese Voraussetzung unter den gegebenen Verhältnissen auf einem anderen Wege als dem des gesetzlichen Versicherungszwanges geschaffen werden kann? Wenn nun die Möglichkeit der Versicherung dadurch bedingt ist, daß der Arbeitslohn neben den Mitteln zur Bestreitung der notwendigen Lebensbedürfnisse auch diejenigen zur Erlegung der Versicherungsprämie enthält, und wenn für weite Schichten unserer Arbeiterbevölkerung der Lohn gegenwärtig in der Tat nicht diese Höhe erreicht, so entsteht die Frage, ob er auf irgendeinem [anderen] Wege auf diese Höhe gebracht werden kann als dadurch, daß die Zahlung der Versicherungsprämie durch ihre gesetzliche Erzwingung in die Reihe der notwendigen Lebensbedürfnisse versetzt werde. Daß ein gleiches Ergebnis auf dem Wege der Entwicklung der wirtschaftlichen Bildung unserer Arbeiterbevölkerung und durch das Mittel der Koalition erreicht werde ─ wie Brentano annimmt ─ halte ich für ausgeschlossen; wenigstens gehört dazu mehr Zeit als wir angesichts der drohenden sozialen Revolution noch haben dürften. Sollte hier nicht auch die Gesetzgebung eine pädagogische Aufgabe haben? namentlich in Deutschland, [ Druckseite 253 ] wo, soweit meine Kenntnis reicht, die Entwicklung des Versicherungswesens überhaupt schwerlich jemals ihren gegenwärtigen Standpunkt erreicht haben würde, wenn nicht zuerst der Staat durch seine zwingenden Gesetze dem Verständnis für die wirtschaftliche Bedeutung der Versicherung die Bahn gebrochen hätte.

Völlig einverstanden weiß ich mich mit Ihnen darin, daß es höchst unpolitisch und für unsere weitere sozialpolitische Gesetzgebung vielleicht verhängnisvoll war, die neuen Entwürfe auf ein so hohes Piedestal zu stellen. Es ist das nur ein Ausfluß der dilettantischen Auffassung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, welche leider bei uns zur Zeit den maßgebenden Einfluß ausübt. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Beutner, George F. (1829─1893) Geschäftsführer des Zentralverbands deutscher Industrieller
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1Schlesw.-Holst. Landesbibliothek Kiel, Nachl. L. v. Stein Cb 102.4.02:05. »
  • 2Bei den ausgelassenen Abschnitten handelt es sich um Höflichkeitsfloskeln. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 68, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0068

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