Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 65

1882 Juni 22

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Schuldirektor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Kritische Reflexionen über Bismarcks sozialpolitische Absichten]

Seit am Freitag durch die Vertagung der Reichstag nach allen vier Winden auseinandergegangen, bin ich aus der monatelangen Hast und Unruhe plötzlich in

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tiefste (geschäftliche) Ruhe versetzt, und ehe bei mir das Stadium der absoluten Faulheit, welches ich als unvermeidlich ansehe, eintritt, will ich die Zeit noch benutzen, um Dir noch einen wirklichen Brief zu schreiben. Die außerordentliche Maßregel einer Vertagung auf fünf Monate hat uns in die eigentümliche Lage versetzt, daß wir auf gesetzgeberischem Gebiete zur Untätigkeit verurteilt sind. Da als Grund der Vertagung die Ermöglichung der Weiterberatung unserer Vorlagen nach dem Wiederzusammentritt gilt, so sind wir mit diesen Vorlagen sozusagen festgenagelt; wir können sie weder zurückziehen, noch modifizieren; wenigstens würden wir durch einen solchen Schritt die ganze Bedeutung der Vertagung negieren. Trotzdem kann man immer nicht wissen, was geschehen wird; nach den bisherigen Erfahrungen ist es wenigstens keineswegs sicher, daß Bismarck nach 5 Monaten die jetzigen Vorlagen nicht auch ins alte Eisen wirft und wieder auf ein neues Projekt verfällt: zumal er schon jetzt nur teilweise mit denselben einverstanden ist, soweit er sie überhaupt kennt. Bei dem Diner, welches er unmittelbar vor der Vertagungsvorlage mit den Senioren der Fraktionen abgehalten hat, ist es nämlich, wie mir der Vizepräsident des Reichstags von Franckenstein erzählte, zutage gekommen, daß er die Unfallversicherungsvorlage nur sehr oberflächlich und die Krankenversicherungsvorlage so gut wie gar nicht gekannt hat.3 Letztere habe er eigentlich, sagt von Franckenstein, mehr wie ein untergeschobenes Kind angesehen und von ihrer Bedeutung in sozialpolitischer Beziehung höchst mangelhafte Begriffe gehabt. Nicht wenig wird es ihn daher befremdet haben, bei dem Diner zu vernehmen, daß alle Parteien der Krankenversicherungsvorlage eine viel größere Bedeutung beilegen als seinem Liebling, der Unfallversicherungsvorlage und zu erleben, daß die Herren Senioren ihn einstimmig gebeten haben, letztere zurückzuziehen, und sich einstweilen auf die Krankenversicherungsvorlage zu beschränken, deren Zustandekommen dann als ziemlich sicher angenommen werden könne, während man in der Unfallversicherungsvorlage eigentlich doch nur ein noch ziemlich unklares Projekt sehe. Da er nun höchstwahrscheinlich mich als denjenigen ansieht, welcher ihm zu dem “untergeschobenen Kinde” verholfen hat, so vermute ich, daß seine schon vorher schon ziemlich erkaltete Stimmung gegen mich mindestens auf Null angekommen, wenn nicht schon darüber hinaus gegangen sein wird. Gesehen habe ich ihn seit dem sozialpolitischen Diner mit Schäffle und Wagner im Januar4 überhaupt nicht mehr (außer im Reichstage, aber ohne Berührung). Mir recht angenehm, denn etwas Gescheites ist mit ihm doch nicht anzufangen. Ich lasse die Dinge nun einstweilen laufen und an mich kommen; man kann ja nicht wissen, ob die Periode der geistreichen Einfälle und großartigen Projekte nicht auch mal wieder durch eine Periode nüchterner bescheidener Arbeit abgelöst wird. Wenn ich dann nicht schon durch die unfreiwillige Rolle, welche ich in der Bismarckschen Sozialpolitik gespielt habe, bei allen nüchternen Leuten gänzlich in Mißkredit gekommen bin, so kann ich ja dann vielleicht noch mich nützlich machen. [...]

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Schäffle hat, was Dir auch wohl nicht entgangen sein wird, sich die Mühe nicht verdrießen lassen, über meine beiden Entwürfe eine Reihe langer anerkennender Artikel in der “Augsburger Allgemeinen” geschrieben und mir die betreffenden Nummern mit einem sehr freundlichen Schreiben zugesandt (er bittet mich in demselben, auch Dir einen freundlichen Gruß zu sagen).5 Vorher hatte ich ihm in einem Dankbriefe für seine Broschüre6 meine eigene geringe Meinung von dem praktischen Werte des Unfallversicherungsentwurfs mitgeteilt. Derselbe war wohl erst in seine Hände gekommen, als er seinen Artikel schon nahezu fertig gehabt. Er sucht mich nun über die von mir als vergeblich bezeichnete Arbeit zu trösten und meint, daß diese “übermenschliche” Anstrengung7 doch wohl noch zu einem praktischen Ergebnisse führen könne: was ich Nota Bene nicht glaube.

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849─1904) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • Stein, Prof. Dr. Lorenz von (1815─1890) Staatswissenschaftler
  • Wagner, Prof. Dr. Adolph (1835─1917) Nationalökonom, Mitbegründer der christlich-sozialen Partei
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 144─147 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Familienangelegenheiten. »
  • 3Vgl. den Bericht über dieses erste parlamentarische Diner am 13.6.1882: Heinrich von Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Bd. 1, 2.Aufl., Breslau 1894, S.250f. »
  • 4Vgl. Nr. 42 und Nr. 54 Anm. 3. »
  • 5Die Artikelserie “Die corporative Zwangsversicherung vor dem deutschen Reichstag” erschien in Nr. 130, 132, 135, 139 u. 140 (am 10., 12., 15., 19. u. 20.5.1882) der Augsburger “Allgemeinen Zeitung”, überliefert im Nachlaß Lohmann 90 Lo Nr. 16. Die Korrespondenz ist nicht überliefert, Schäffle kannte Wyncken als Redakteur der “Deutschen Blätter”, in denen er (anonym) 1874 seine “Quintessenz des Sozialismus” zuerst veröffentlicht hatte. »
  • 6Der korporative Hilfskassenzwang, Tübingen 1882. »
  • 7Von fast übermenschlicher Kraftanstrengung der Autoren (also Eduard Magdeburg und Theodor Lohmann) der Entwürfe, bei denen allerdings oberste politische Gesichtspunkte abhanden gekommen seien, sprach Albert Schäffle auch in einem Brief vom 22.5.1882 an Herbert Graf von Bismarck (BArchP 07.01 Nr. 527, fol. 367─368 Rs.). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 65, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0065

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