Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 64

1882 Juni 15

Bericht1 des bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Entwurf, Teildruck

[Der Reichstag soll vertagt, nicht aber geschlossen werden, um eine Unterbrechung der Kommissionsarbeit an den Arbeiterversicherungsentwürfen zu vermeiden]

In der heutigen Bundesratssitzung wurde vom Vorsitzenden folgende Mitteilung gemacht:

Der Präsident des Reichstags nach Benehmen mit den Fraktionsvorständen habe dem Reichskanzler mitgeteilt, daß es bei der vorgerückten Jahreszeit und der Stimmung des Hauses es schwer sein würde, den Entwurf betr. die Krankenversicherung jetzt zur Vollendung zu bringen. Noch schwieriger würde diesbezügl. die Gewerbeordnungsnovelle sein. Zugleich habe Herr v. Levetzow eine Vertagung statt der Schließung des Reichstags empfohlen, damit die bisherigen Arbeiten der Kommission nicht verloren seien. Der Reichskanzler habe sich hiermit einverstanden erklärt und dem Kaiser vorgeschlagen, den Reichstag bis zum 30. November zu vertagen.2 Dieser entfernte Termin sei gewählt, um der Verfassungsfrage auszuweichen, ob der Präsident des Reichstags nach Vertagung durch den Kaiser berechtigt sei, nach Ablauf des Termins den Reichstag einzuberufen und in der Erwägung, daß die frühere Einberufung dem Kaiser immer freistehe.

Als Terminus ad quo werde Montag, der 19. d. M. gewählt werden, damit dem Reichstag noch ein gewisser Spielraum belassen werde. Voraussichtlich werde Samstag schon die letzte Sitzung sein.3 [...]

Ich habe dieser Mitteilung folgendes beizufügen:

Die Kommission für die Gewerbeordnungsnovelle hat bisher ihre Arbeiten nicht gefördert, da die Linke in derselben sichtlich bestrebt war, die Verhandlungen aufzuhalten. [ Druckseite 245 ] Die Konservativen mit dem Zentrum hatten allerdings in ihr die Majorität, aber nur um eine Stimme, und es war allerdings vorauszusehen, daß unter diesen Umständen widersprechende Beschlüsse gefaßt und kein oder doch kein brauchbares Resultat gewonnen werden [konnte]. In der Kommission für die Krankenversicherung lag die Sache jedoch anders. Hier war allerseits das Bestreben vorhanden, zur Verbesserung des Gesetzes zu wirken. Aus den Berichten Herrmanns an das k. St[aats]Ministerium des Innern werden Euer Exzellenz ersehen haben, daß die Kommission auch den speziellen Wünschen Bayerns bereitwilligst entgegengekommen ist. So bei § 12 und in der Frage der Berufung.

Nach Ansicht Herrn v. Boettichers und auch der Franckensteins wäre es also wohl möglich gewesen, die Kommission zur ununterbrochenen Fortsetzung ihrer Tätigkeit zu vermögen, und es wäre auch wohl gelungen, für dieses Gesetz einen beschlußfähigen Reichstag im Juli zusammenzubringen. In diesem Sinne haben sich auch die beiden genannten Herrn dem Reichskanzler gegenüber ausgesprochen, wobei für sie besonders die Erwägung maßgebend war, daß das Krankenversicherungsgesetz größere Chancen hat, wenn es gesondert von dem Unfallversicherungsgesetz beraten wird.

Der Reichskanzler war jedoch nicht für diese Ansicht zu gewinnen, und zwar, wie er mir selbst gestern sagte, weil er befürchtet, daß nach dem Zustandekommen des Krankenversicherungsgesetzes der Reichstag der Meinung sein wird, genug getan zu haben und dann das wichtige Gesetz nicht annehmen wird.

Dieser Meinung steht die andere, meines unmaßgeblichen Ermessens zutreffende gegenüber, daß bei gleichzeitiger Behandlung beider Entwürfe vielleicht keines derselben angenommen werden würde.

Der Reichskanzler wird in wenigen Tagen Berlin verlassen und sich nach Varzin für den ganzen Sommer begeben.4 Kissingen oder einen anderen Badeort wird er dieses Jahr nicht besuchen.

Registerinformationen

Personen

  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Herrmann, Joseph (1836─1914) Ministerialrat im bayer. Innenministerium, stellvertretender Bundesratsbevollmächtigter
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1BayHStA Bayerische Gesandtschaft Berlin 1052, n.fol. »
  • 2Vgl. den Antrag zur Vertagung vom 19.6. bis zum 30.11.1882 und die Allerhöchste Verordnung dazu: Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 5, Aktenstücke Nr. 84 und 87. Ein erneuter Antrag auf Vertagung wurde dann vom 17.2. bis zum 3.4.1883 gestellt und ebenfalls angenommen und genehmigt (ebd., Bd. 6, Nr. 208 u. 210). Schluß dieser Session, die am 27.4.1882 begonnen hatte, war dadurch erst am 12.6.1883 (ebd., Nr. 373), an dem die zweite Unfallversicherungsvorlage zurückgewiesen wurde; vgl. dazu Nr. 94. »
  • 3Am 16.6.1882 hatte Bismarck Karl Heinrich von Boetticher im Reichstag erklären lassen, die Regierung habe sich davon überzeugen müssen, daß von einer ununterbrochenen Fortsetzung der Beratung zur Zeit ein Erfolg nicht zu erwarten ist und eine Vertagung der Session bis zum 30.11.1882 beantragt, um die wertvollen Vorarbeiten, die bisher in den Kommissionen gemacht worden sind, erhalten zu können (Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 5, S. 513). Diesem Antrag stimmte der Reichstag zu. In Sachen Unfallversicherung führte dieses Vorgehen aber zu keinem Erfolg, im übrigen konnte durch die Vertagung das Tabakmonopol mit 276 gegen 45 Stimmen endgültig abgelehnt werden. »
  • 4Das geschah am 20.6.1882; vom 9.─13.7. war Lerchenfeld-Koefering dann dort zu Besuch. Bismarck blieb bis zum 3.12.1882 in Varzin. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 64, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0064

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