Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 62

1882 Juni 5

Zeitschrift für Versicherungswesen Nr. 21

Teildruck

[Analyse und Kritik von Organisation und Verfahren der zweiten Unfallversicherungsvorlage]

Wenn man die äußerst komplizierten Veranstaltungen, durch welche die Arbeiterunfallversicherung ins Werk gesetzt werden soll, näher ins Auge faßt, so erkennt man bald, daß die sogenannten Betriebsgenossenschaften und Betriebsverbände, obwohl sie eine gewisse Organisation (Statut, Vorstand, Generalversammlung, Arbeiterausschuß) besitzen sollen, doch Institute ganz untergeordneter Bedeutung sind, welchen man die wichtigsten Funktionen einer Versicherungsanstalt vorenthält und nur insoweit Aktionsfreiheit beläßt, als dadurch der Zentralstelle in Berlin und den Polizeibehörden die wünschenswerte Beihilfe in dem Betriebe der Unfallversicherung geleistet wird. Das neue Gesetz soll uns, den Tatsachen nach, eine Reichsunfallversicherungsanstalt bringen, nur etwas weniger zentralisiert als die des Jahres 1881 und unter dem bescheidenen Namen einer “Reichszentralstelle”. Es wird dies anschaulich, wenn man in Betracht zieht, welche Behörden an der Verwaltung der Unfallversicherung beteiligt sein sollen, und in welchen Hinsichten dies der Fall sein wird.

Zunächst stellt der Bundesrat aufgrund der Statistik die Gefahrklassen fest; er bringt dieselben, beziehentlich die Industriezweige, welche zu einer bestimmten Gefahrklasse gehören, zur öffentlichen Kenntnis, so daß jeder Industrielle weiß, welcher Gefahrklasse sein Unternehmen angehört. Die Angehörigen einer bestimmten Gefahrklasse in einem größeren Verwaltungsbezirke treten sodann zusammen und vereinbaren ein Statut, welches sie der höheren Administrativbehörde zur Genehmigung vorlegen. Ist diese Genehmigung erteilt, so schreitet man zu einer Generalversammlung, in welcher zuächst die Abgeordneten gewählt werden, welche als die eigentlichen Wahlberechtigten nunmehr eine neue Generalversammlung konstituieren und den Vorstand wählen. Sodann veranlaßt die Aufsichtsbehörde die sämtlichen Vorstände der Krankenkasse des betreffenden Bezirks zur Vornahme eines Wahlaktes. Die Betreffenden müssen aus ihrer Mitte die 12 bis 24 Mitglieder wählen, welche den “Arbeiterausschuß” bei der Betriebsgenossenschaft oder dem Betriebsverbande bilden. Dieser Arbeiterausschuß hat die Befugnis, sich gutachtlich über die Vorschriften zu äußern, welche die Betriebsgenossenschaft zur Verhütung von Unfällen erlassen kann.

Beginnt nun der Geschäftsbetrieb, so wird der Vorstand ein Register über sämtliche Mitglieder anzulegen und von den letzteren die Lohnlisten der Arbeiter einzufordern haben. Das weitere, was zu tun ist, wird abgewartet. Alle Unfallschäden, welche eintreten, werden von der Polizei festgestellt (§ 79 d.Ges.); diese macht der Betriebsgenossenschaft Anzeige, und letztere kann an den Untersuchungsverhandlungen teilnehmen. Übersteigt die Arbeitsunfähigkeit des Verletzten dreizehn Wochen, [ Druckseite 240 ] oder starb der Verunglückte, so leistet die Betriebsgenossenschaft die gesetzliche Entschädigung aufgrund der von der Polizei bewirkten Ermittlungen, indem sie den Entschädigungsberechtigten mit den nötigen Geldanweisungen auf die Kasse der nächsten Postanstalt versieht.

Die Art und Höhe der Entschädigung ist im Gesetz ganz präzise vorgeschrieben, nur bei teilweiser Erwerbsunfähigkeit und in den Fällen, in welchen dem Rentenempfänger wegen wiedererlangter voller Arbeitskraft die Rente zu entziehen ist, kann der Vorstand sein persönliches Urteil zur Geltung bringen. Im übrigen funktioniert er nur maschinenmäßig. Spätestens acht Wochen nach Ablauf jedes Rechnungsjahres hat der Vorstand der Betriebsgenossenschaft auf den von der Reichszentralstelle vorgeschriebenen Formularen der genannten Behörde eine Nachweisung einzureichen über die im Laufe des Halbjahres von den Mitgliedern der Betriebsgenossenschaft beschäftigten versicherten Personen und der von denselben verdienten und anrechnungsfähigen Gehälter und Löhne. Gleichzeitig wird auch von der Postanstalt der Reichszentralstelle der Nachweis über die auf Anweisung der Betriebsgenossenschaft gezahlten Entschädigungsgelder geliefert. Die Reichszentralstelle, welche unmittelbar vom Reichskanzler ressortiert, besteht aus einem vom Kaiser auf Vorschlag des Bundesrates zu ernennenden Direktor und aus der zur Erledigung der Geschäfte erforderlichen Anzahl Beamten. Nach den erhaltenen Nachweisen repartiert diese Behörde die während des Rechnungshalbjahres in ganz Deutschland von der Postanstalt bezahlten Entschädigungen gleichmäßig innerhalb der einzelnen Gefahrklassen und verfugt an jede Betriebsgenossenschaft, wieviel dieselbe der Postanstalt zu erstatten habe. Bei der Repartition der gesamten Entschädigungen übernimmt das Reich 25 %, 15 % der von der einzelnen Betriebsgenossenschaft bei der Post erhobenen Entschädigungsbeträge trägt die Betriebsgenossenschaft allein. Die verbleibenden 60 % sind variabel; die Höhe, in welcher sie von der Betriebsgenossenschaft zu erstatten sind, richtet sich nach der Summe, welche für die betreffende Gefahrklasse im Verhältnis zum Gesamterfordernis in Deutschland erhoben wurde. Außer jenen 60 % repartiert die Reichszentralstelle auch die eigenen Verwaltungskosten auf die Betriebsgenossenschaften gleichmäßig nach den gezahlten Löhnen. Sobald der Vorstand der Betriebsgenossenschaft durch Verfügung der Reichszentralstelle erfahren hat, welchen Betrag er an die Postanstalt abzuführen habe, repartiert er denselben, und mit ihm die Verwaltungskosten der Genossenschaft auf die einzelnen Mitglieder nach den gezahlten Löhnen, erhebt denselben und liefert ihn an die Postanstalt ab. Damit ist der Kreis der Funktionen geschlossen, allenfalls, daß noch Unterabteilungen der Betriebsgenossenschaft zu errichten sind, oder daß, wenn sich Betriebsunternehmer eines benachbarten Bundesstaates anzuschließen gedenken, vom Vorstande hierzu die Konzession der betreffenden Landesregierung einzuholen ist. (§ 44 d.Ges.)

Nicht weniger als vier verschiedene Behörden, die gewöhnliche Polizei, die obere Verwaltungsbehörde, die Post und an der Spitze die Reichszentralstelle, verwalten die Geschäfte der Genossenschaften, deren Vorständen nicht viel zu tun übrig bleibt. Selbst für das Schiedsgericht bestellt die obere Behörde einen öffentlichen Beamten als ständigen Vorsitzenden!

Wer vermöchte da wohl noch die autonomen, korporativen Verbände zu erblicken, welche man nach den Äußerungen des Reichskanzlers im Januar dieses [ Druckseite 241 ] Jahres1 erwartete! Da ist nichts anderes zu sehen als eine Reichsunfallversicherungsanstalt, welche die gröbste Arbeit auf andere Schultern gewälzt hat, in der Hauptsache aber die Fäden in der Hand behält und die wichtigsten Verfügungen für das Ganze trifft. Es wäre tief zu beklagen, wenn unsere Industriellen sich solcher Einrichtung fugen müßten, wobei sie mit ihren schweren Geldopfern einer privatrechtlichen Pflicht genügen und hierin, wie der Abgeordnete Lasker sehr richtig bemerkte, direkt zu Schreibern und Dienern der Bürokratie degradiert werden!2

Es bedurfte der absolutistischen Maßregeln, des Versicherungsmonopols und des Versicherungszwanges keineswegs, wenn es nur darauf ankam, dem Arbeiter zu seinem Rechte zu verhelfen; die erweiterte Haftpflicht, bei vorläufig mäßigen Entschädigungssätzen, hätte, wie beispielsweise in der Schweiz3, den Arbeitern genügt und wäre von verständigen, unbefangenen Industriellen gern akzeptiert worden. Privatversicherungsgesellschaften, von deren nach menschlichem Ermessen unbedingter Sicherheit die Regierung leicht die Überzeugung gewinnen konnte, würden ihre Dienste sofort den Betriebsunternehmern zur Verfügung gestellt haben, und damit gewann der Arbeiter für die Erfüllung seines Entschädigungsanspruchs doppelte Bürgen, den Arbeitgeber und die Versicherungsanstalt. Wozu der Zwang, wenn das Gesetz Verpflichtungen auferlegt, welche kein Verständiger auf den eigenen Schultern behalten, vielmehr auf die Versicherungsgesellschaft übertragen wird! Und sollten wirklich insolvente Betriebsunternehmer vorkommen, welche nicht versichern, so liegt es doch auf der Hand, daß deren Arbeiter hierin sehr bald Abhilfe schaffen würden. So ganz und gar stupide, so sehr der Bevormundung bedürftig ist der deutsche Arbeiter denn doch nicht, daß er sich in die Gefahr begeben sollte, seines Rechtes auf Unfallentschädigung verlustig zu gehen. Die einfache Frage, ob der Arbeitgeber die Unfallschäden versichert habe, genügt, um ihn im verneinenden Falle von dem Arbeitsvertrage zurücktreten zu lassen. Dies aber, das eigene Denken, das selbständige Handeln, paßt der Regierung nicht; ─ die Polizei soll befehlen; aus der Hand des allgewaltigen Staates soll der Arbeiter Wohltaten empfangen, damit er erkenne, daß der Staat auch auf das Wohl der Arbeiter bedacht sei. Davon, daß Arbeiter und Arbeitgeber die Kosten dieser Wohltaten selbst tragen, daß der winzige Staatszuschuß hierbei gar nicht in Betracht komme, nimmt man nicht weiter Notiz; es genügt ja, daß der Staat dem Arbeiter die Entschädigung schafft, und warum sollte er nicht auf einem Felde ernten, wo andere säten?

Die Täuschung dürfte aber eine gründliche sein. Niemals wird der Arbeiter der Regierung für das danken, was ihm nach seiner Überzeugung von Rechts wegen zukommt, und wenn die Regierung die gesamten Kosten der Kranken- und Unfallversicherung aus dem allgemeinen Steuersäckel begleichen wollte, so würde sie damit die Ansichten des Arbeiters nicht ändern; eher würde sie ihn zu der Erkenntnis führen, daß er zum Almosenempfänger degradiert worden.

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Registerinformationen

Personen

  • Lasker, Dr. Eduard (1829─1884) Jurist und Politiker, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • 1Vgl. Nr. 36. »
  • 2Vgl. Nr. 61 Anm. 3. »
  • 3Vgl. hierzu Herbert Bracher, Die Entwicklung der Fabrikhaftpflicht in der Schweiz und ihre Ablösung durch Kranken- und Unfallversicherung 1911, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 8. Jg. 1986, S. 157 ff. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 62, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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