Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 2. Band, 1. Teil

Nr. 59

1882 Mai 15

Bericht1 des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Eigenhändige Ausfertigung mit Randbemerkung Bismarcks

[Der Ausgang der Verhandlungen über den Gesetzentwurf ist ungewiß. Die Haltung der verschiedenen politischen Parteien in der laufenden Debatte offenbart geringe Zustimmung, aber mehr Ablehnung und Verzögerung. Boetticher drängt auf zügige Bearbeitung des Entwurfs]

Euer Durchlaucht beehre ich mich gehorsamst zu berichten, daß die heutige Debatte über die Unfall- und Hilfskassengesetzentwürfe noch keinen sicheren Anhalt für die Beurteilung des schließlichen Ausganges der Beratungen ergeben hat.2 Der Abgeordnete Hirsch3 war selbstredend heftiger Gegner der Vorlage, der Abgeord-

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nete Sonnemann4 sprach in Übereinstimmung mit den in der Frankfurter Zeitung erschienenen Artikeln dafür, und ein Sozialdemokrat5 schien den Vorlagen ebenfalls günstig zu sein.

Nach einer Äußerung Sonnemanns glaubte ich die Erklärung abgeben zu sollen, daß sich die Regierung weder mit einer sogenannten Zwischenkommission noch mit einem Begräbnis der Vorlagen in einer ordentlichen Kommission werde einverstanden erklären können, daß sie vielmehr wünschen müsse, eine gründliche Beratung derselben möglichst bald zu Ende geführt und die Vorlage fertiggestellt zu sehen. 6 Ich hätte mich meinem Geschmack nach gern noch schärfer ausgedrückt und den Gedanken der Vertagung der Entscheidung auf eine Herbstsession absolut perhorresziert, wenn nicht die Konservativen und der Präsident von Levetzow7 mich dringend gebeten hätten, die Idee der permanenten Kommission nicht völlig von der Hand zu weisen.8 Man fürchtet sich augenscheinlich vor der Abstimmung über das Tabakmonopol in der Besorgnis, bei den nächsten preußischen Wahlen mehrere und vielleicht viele Sitze zu verlieren, und man wünscht deshalb die Abstimmung möglichst bis nach diesen Wahlen zu vertagen. Die Linke hat diese Absicht, wie [ Druckseite 236 ] sich mit der späteren Diskussion ergab, durchschaut und drängt auf eine Erledigung wenigstens der Monopolvorlage.9 Ich halte dafür, daß die Regierung ein Interesse daran hat, keine Verschleppung zuzulassen10, und ich darf Eure Durchlaucht gehorsamst bitten, mich wissen zu lassen, ob ich mich bei dieser Auffassung Hoch Ihres Einverständnisses erfreue, es läßt sich erwarten, daß der Gegenstand noch weiter, vielleicht schon morgen besprochen werden wird, und dabei wäre es mir erwünscht, noch positiver wie dies heute geschehen ist, erklären zu können.

Für die mir [zuteil] gewordene Mitteilung hinsichtlich meiner Gotthardtreise11, sage ich meinen ehrerbietigsten Dank. Ich habe danach Seine Majestät um den erforderlichen Urlaub gebeten.

Eurer Durchlaucht aber wünsche ich von ganzem Herzen baldige Genesung. 12

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Kräcker, Julius (1839─1888) Sattler, MdR (Sozialdemokrat)
  • Levetzow, Dr. Albert von (1827─1903) Landesdirektor, Reichstagspräsident, MdR (konservativ)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Sonnemann, Dr. Leopold (1831─1909) Verleger, MdR (Deutsche Volkspartei)
  • 1BArchP 07.01 Nr. 509 fol. 146─147. »
  • 2Vgl. Nr. 37. »
  • 3Dr. Max Hirsch (1832─1905), liberaler Gewerkschaftsführer, seit 1869 MdR (Fortschritt); Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 1, S. 204 ff. ─ In einigen Orten veranlaßten die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine Protestversammlungen gegen diese Regelung, in Breslau führte ein Redner aus: Die Verquickung von Unfall und Krankheit, wie sie in dem Gesetze zutage trete, müsse ganz gewiß entfernt werden. Während früher der Arbeiter Herr der Arbeit war, sei er jetzt Knecht der Maschine, er habe dieselbe nicht so in der Hand, um absolut jeden Unfall zu vermeiden, er sei diesem gegenüber machtlos. Unfälle würden meistenteils durch die Industrie hervorgerufen und müßten also auch von der Industrie getragen werden, die Krankenkassen dürften also auf keinen Fall zu Entschädigungen bei Unfällen herangezogen werden, wie dies geplant sei. (Der Gewerkverein Nr. 23 v. 9.6.1882) »
  • 4Leopold Sonnemann (1831─1909), Gründer und Mitinhaber der “Frankfurter Zeitung”, seit 1872 MdR (Deutsche Volkspartei); Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 1, S. 210 ff. u. 216 ff. »
  • 5Julius Kräcker (1839─1888), Sattler, seit 1881 MdR (SPD); ebd., S. 214 ff. Diese befaßte sich vor allem mit der Krankenversicherungsvorlage und wandte sich dann scharf gegen die 13wöchige Karenzzeit, um zu schließen: Es kann das unbedingt nicht stattfinden, daß die Krankenkassen bei Unfällen 13 Wochen lang die Lasten tragen sollen, die Krankenkasse würde unter diesen Umständen gerade die Pflicht der Arbeitgeber zu tragen haben, und wir würden es erleben, wie es ja jetzt zum großen Teil geschieht, die Arbeiter zuletzt alles zu tragen haben. Ich meine, daß dies abgeändert werden muß dahin, daß diese Unfallversicherungskassen am Tage des Unglücks sofort herangezogen werden. ─ Meine Herren, im großen und ganzen bin ich einverstanden damit, daß diese Vorlage an eine Kommission geht, aber ich meine (...) nicht an eine Kommission, die sozusagen eine Begräbniskommission sein soll, wie nach den Ausführungen des Abgeordneten Sonnemann durchleuchtete, sondern ich meine, man soll sich bemühen, eine Kommission zustande zu bringen, die mit wahrhaftem Ernst an die Sache herantritt, damit endlich für die Arbeiter etwas geschieht, denn lange genug sind sie das Stiefkind des Staates gewesen. (ebd., S. 216) »
  • 6v. Boetticher hatte dringend darum gebeten, daß man nicht mit dem Gedanken an die Kommissionsbildung herantrete, als ob es sich um das Totmachen dieser Vorlagen handeln sollte (ebd., S. 216). »
  • 7Dr. Albert von Levetzow (1827─1903), seit 1881 Reichstagspräsident, MdR seit 1877 (konservativ). »
  • 8Die Kommission, die im Anschluß an die Plenardebatte eingesetzt wurde, entschloß sich dann am 3.6.1882, die beiden gleichzeitigen Regierungsvorlagen zu entkoppeln bzw. getrennt durchzuberaten und dabei das (von Lohmann favorisierte) Krankenversicherungsgesetz gegenüber dem (von Bismarck bevorzugten) Unfallversicherungsgesetz vorzuziehen (vgl. den Kommissionsbericht, Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Anlage Nr. 211, S. 767). Dieses zeitaufwendige Verfahren führte dann dazu, daß am 16.6. 1882 die Session unterbrochen bzw. vertagt, nicht aber geschlossen wurde, vgl. dazu Nr. 64. »
  • 9Am 27.4.1882 hatte die Reichsregierung dem Reichstag den Entwurf eines Gesetzes, betreffend das Reichstabakmonopol vorgelegt (Sten.Ber.RT, 5.LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 5, Drucks.Nr. 7), der im Reichstagsplenum zwischen 10. u. 16.5. in erster und am 12. und 15.6.1882 in zweiter Lesung intensiv diskutiert, am 15.6.1882 aber abgelehnt wurde. »
  • 10B.: ich auch »
  • 11Reise zur Einweihung des 14,9 km langen Gotthardtunnels, an der neben Bosse und Lohmann auch Parlamentarier teilnahmen (vgl. dazu: Robert Bosse, Zehn Jahre im Reichsamt des Innern, GStA Dahlem Rep. 92 NL Bosse Nr. 16, fol. 12 ff.). »
  • 12Bismarcks Gesundheitsbeschwerden (mit Venenentzündung einhergehend) hatten Anfang April erneut eingesetzt. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 59, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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